19. April 2024

Das befreite Klassenzimmer: Was es braucht, damit der Lehrerberuf wieder attraktiver wird

Die Debatte um den Lehrermangel hat einige Schwachstellen im heutigen Bildungswesen offengelegt. Nun gilt es, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Dafür muss ein Tabu fallen, findet der NZZ-Journalist Daniel Fritzsche. Das ist bemerkenswert, hat doch diese Zeitung in der Vergangenheit viele Reformen, welche die Lehrkräfte heute belasten, unterstützt.

Dieser Beitrag ist zuerst in der NZZ erschienen: https://www.nzz.ch/meinung/lehrer-in-der-schweiz-wie-der-beruf-wieder-attraktiver-wird-ld.1700669

Daniel Fritzsche, Journalist NZZ: Die Ansprüche sind in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen.

Es ist eine Frage, die früher auf dem Pausenplatz einfach zu beantworten war: «Was arbeitet deine Mutter, was dein Vater?» Die Leute hatten selbsterklärende Berufe: ein Schreiner schreinert, eine Schneiderin schneidert. Heute, in einer Zeit, in der Eltern als «Brand Evangelists» und «Chief Happiness Officers» tätig sind, ist alles viel komplizierter.

Ein Beruf, der heute wie gestern eigentlich einfach zu beschreiben sein sollte, ist jener des Lehrers. Ein Lehrer lehrt. Punkt. Doch so einfach ist es leider auch in diesem ehrenwerten Berufsstand nicht mehr.

Dass eine Lehrerin einmal alleine vor ihrer Klasse steht, kommt kaum mehr vor.

Leute, die an den öffentlichen Schulen wirken, sind spezialisiert, arbeiten als IF- oder DaZ-Fachpersonen, als Klassen- oder Schulassistenzen, in der Logopädie oder Psychomotorik. Für den Unterricht und alles darum herum ist ein ganzer Stab an Unterstützungspersonen verantwortlich. Dass eine Lehrerin einmal alleine vor ihrer Klasse steht, kommt kaum mehr vor. Im Schulzimmer wimmelt es von Personal, das sich den ganzen Tag lang um die «SuS» – das steht für Schülerinnen und Schüler – zu kümmern hat. Möglichst integrierend, möglichst individualisiert.

Vor lauter Vernetzung bleibt weniger Zeit für das eigentlich Wesentliche, die Arbeit mit den Kindern.

Wegen der vielen Leute braucht es viele Absprachen und noch mehr unnötige Sitzungen. In der Stadt Zürich etwa tagt regelmässig die Schulkonferenz, in der Fragen, die das ganze Schulhaus betreffen, behandelt werden. Dazu kommen Stufen- und Jahrgangskonferenzen, die ebenfalls periodisch stattfinden. Nicht zu vergessen die Besprechungen von Unterrichts- und Standortteams sowie einer Steuergruppe, die eine beratende Funktion der Schulleitungen einnimmt. In sogenannten K-Teams, was für «Kooperationsteams» steht, geht es um die Koordination zwischen Schule und Mittagshort – eine Aufgabe, die mit der flächendeckenden Einführung von Tagesschulen noch an Umfang zunehmen wird. Vor lauter Vernetzung bleibt weniger Zeit für das eigentlich Wesentliche, die Arbeit mit den Kindern.

Die Schule als Gleichmacherin

Wegen der vielen Leute braucht es viele Absprachen und noch mehr unnötige Sitzungen.

Um reine Wissensvermittlung geht es im Lehrerberuf ohnehin längst nicht mehr. Die Ansprüche sind in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen. Dies aus einem an sich hehren Grund: der vielbeschworenen Chancengerechtigkeit. Die Schule soll Rückstände, die Kinder aus unterschiedlichen Umfeldern mitbringen, aufholen – nicht nur im Bildungsbereich, sondern auch im Sozialen. Einen entsprechend hohen Stellenwert nimmt für Lehrerinnen und Lehrer heute die Arbeit mit und an den Eltern ein; eine weitere Zusatzbelastung.

Man will sich nicht eingestehen, dass viele der Bildungsreformen der jüngsten Vergangenheit gescheitert sind und einer Überholung bedürfen.

Nach der obligatorischen Schulzeit sollen alle Schülerinnen und Schüler die mehr oder weniger identischen Startchancen für ein erfolgreiches Leben erhalten haben. Die Schule als grosse Gleichmacherin. Lehrpersonen müssen dabei oft ausbügeln, was Eltern verschlafen haben oder noch so gerne delegieren. Das ist anstrengend, oft undankbar und damit ein wesentlicher Grund für den grassierenden Lehrermangel. Nur wird er von den politischen Verantwortlichen und Bildungstheoretikern kleingeredet.

Man will sich nicht eingestehen, dass viele der Bildungsreformen der jüngsten Vergangenheit gescheitert sind und einer Überholung bedürfen. Viel lieber rufen Lehrerverbände und Gewerkschaften nach immer mehr «Ressourcen», also nach noch mehr Lehrpersonal – dem Zauberwort in einem Bildungssystem, in dem es nicht an kostspieligen Ressourcen mangelt, sondern an Fokus.

Was es braucht, sind keine höheren Löhne, wie das zuweilen auch gefordert wird. Viel wichtiger sind bessere Arbeitsbedingungen, vor allem weniger Bürokratie, weniger Sitzungen und Absprachen, weniger geteilte Verantwortung, dafür mehr Entscheidungsfreiheit und Unabhängigkeit für jede einzelne Lehrerin und jeden einzelnen Lehrer, letztlich ein von Ideologie möglichst befreites Klassenzimmer.

Die erste Seite der Salamanca-Erklärung, 1994.

Es ist immer schwierig, den Beginn einer Fehlentwicklung präzise zu datieren. Solche Prozesse dauern lange und sind fliessend. Dennoch hat der 10. Juni 1994 ohne Zweifel eine grosse Bedeutung. An diesem Tag wurde im spanischen Salamanca eine Unesco-Erklärung unterzeichnet. An einer Konferenz mit 300 Teilnehmern, die 92 Regierungen und 25 internationale Organisationen repräsentierten, stand das Ziel «Bildung für alle» im Zentrum.

Die sogenannte Salamanca-Erklärung hält seither fest, dass jedes Kind einmalige Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Lernbedürfnisse habe. Und dass Regelschulen «mit integrativer Orientierung» das beste Mittel seien, «um diskriminierende Haltungen zu bekämpfen, den individuellen Bedürfnissen aller Kinder gerecht zu werden und eine integrierende Gesellschaft aufzubauen».

Die Schweiz, vorbildlich in der Umsetzung wie meist, ging voran und erklärte die integrative Förderung einige Jahre später in vielen kantonalen Volksschulgesetzen zum Goldstandard, so etwa im grossen Kanton Zürich. Seither gilt die Regel, dass grundsätzlich alle Kinder in einer normalen Schulklasse Platz finden sollen. Auch «schwierige» Fälle, die den Unterricht permanent stören.

Es gibt Situationen, in denen eine Integration schlicht keinen Sinn hat.

«Weichere» Schulfächer wie Musik oder Zeichnen können auch in Zukunft integrativ geführt werden.

So löblich die Absicht, so untauglich die Alltagspraxis. Das integrative Prinzip hat vielerorts zu Unruhe, Überforderung und der geschilderten Personalschwemme geführt. In einer Umfrage unter 10 000 Lehrerinnen und Lehrern gab mehr als die Hälfte an, dass sie die integrative Schulung als Zusatzbelastung wahrnehme. Entsprechend gross sollte der Handlungsbedarf sein. Das Mittel kann nicht sein, Gehörschutze im Klassenzimmer zu verteilen, wie das in mittlerweile vielen Schulen getan wird, weil sich die Kinder nicht mehr konzentrieren können.

Vielmehr sollte das System grundsätzlich überdacht werden. Es gibt Situationen, in denen eine Integration schlicht keinen Sinn hat. Dann etwa, wenn eine Schülerin mit dem Pflichtstoff masslos überfordert ist oder wenn ein Schüler den Unterricht dermassen stört, dass seine Klassenkameraden abgelenkt und die Lehrpersonen total absorbiert sind. Dann sind Sonderschulen, Förder- und Kleinklassen die besseren Mittel als hartnäckige Versuche, Kinder in eine Regelklasse zu pressen.

Auch für die betroffenen Schüler kann dies Vorteile haben: Auf ihre Bedürfnisse kann besser eingegangen werden, sie haben Lernerfolge und müssen sich nicht stets mit den fortgeschritteneren Klassenkameraden vergleichen.

Widerstand in den Kantonen

Es ist ein zaghaftes, aber dennoch hoffnungsfrohes Zeichen der Einsicht, was Silvia Steiner als Zürcher Bildungsdirektorin und Präsidentin der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren kürzlich in einem NZZ-Interview sagte: Bei der Sonderpädagogik sehe sie «Möglichkeiten, wie man die Lehrer entlasten könnte». Wenn es um Kinder gehe, die ernsthafte Probleme hätten, die verhaltensauffällig seien und eine Schulklasse durcheinanderbrächten, brauche es für die Schulen bessere Instrumente, um die Lage zu beruhigen.

Sonderschulen könnten beispielsweise vermehrt in reguläre Schulhäuser aufgenommen werden.

Steiner spricht von «Lerninseln», auf die gewisse Kinder vorübergehend geschickt werden können. Das geht zu wenig weit und kann höchstens ein erster Schritt sein. An einigen Schulen wird es bereits so gehandhabt. Die Gefahr ist gross, dass die Bürokratie so nur noch weiter wächst und es zusätzliches Personal braucht.

Vorstellbar wären andere Mischformen, um das an und für sich löbliche Ziel der Integration doch noch – zumindest teilweise – zu erreichen: Sonderschulen könnten beispielsweise vermehrt in reguläre Schulhäuser aufgenommen werden. Begegnungen fänden so immerhin auf dem Pausenplatz statt. «Weichere» Schulfächer wie Musik oder Zeichnen können auch in Zukunft integrativ geführt werden.

«Die Lehrer dürfen nicht ausbrennen. Diese Gefahr besteht leider.»

Conradin Cramer, Basler Bildungsdirektor

Bewegung ist erfreulicherweise in einigen Kantonen zu beobachten. Sowohl im urbanen Genf als auch im ländlichen Nidwalden wird das bisherige Modell hinterfragt. In Basel-Stadt hat ein Komitee eine Initiative lanciert, die die Einführung von Förderklassen vorsieht. Der Basler Bildungsdirektor Conradin Cramer scheint bereit, gewisse Änderungen anzugehen: Die integrative Schule müsse eine «bessere Wirkung erzielen», sagte er unlängst. «Die Lehrer dürfen nicht ausbrennen. Diese Gefahr besteht leider.» In einer Umfrage befürworteten fast drei Viertel der teilnehmenden Lehrer die Wiedereinführung von Kleinklassen.

Die Aussagen und Beispiele zeigen, dass die Zeit für eine Reform der Reformen im Bildungsbereich reif ist. Die Debatte um den Lehrermangel in den Sommerferien legte manche Mängel des heutigen Systems korrekt offen. Nun gilt es, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.

Die Individualisierung ist eine Errungenschaft, die aber nicht mit immer höheren Ansprüchen überfrachtet werden darf.

Natürlich wünscht sich niemand eine Rückkehr zur autoritären Lehrer-Lämpel-Schule, in der Frontalunterricht sowie Zucht und Ordnung vorherrschten. Die Individualisierung ist eine Errungenschaft, die aber nicht mit immer höheren Ansprüchen überfrachtet werden darf. Von pädagogischen Konzepten, die dem Gros der Schüler und Lehrer mehr schaden als nützen, gilt es sich zu verabschieden.

Was es im Schulbetrieb braucht, ist eine Entschlackung und Konzentration auf den Kern des Unterrichtens. Dieser kann kinderleicht zusammengefasst werden: Ein Lehrer lehrt.

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