12. Februar 2025
Denkmoment

Stimmbeteiligung in der Schweiz – oder die Problematik für die Zukunft

Abstimmungsergebnisse in der Schweiz zeigen mit Blick auf die Zukunft ein düsteres Bild. Drei Viertel der stimmberechtigten Bevölkerung gehen nicht an die Urne. Dieses Wohlstandsphänomen ist insofern problematisch, weil vor allem die junge Generation der Urne überproportional fernbleibt. Dabei geht es um ihre Zukunft, schreibt Condorcet-Autor Niklaus Gerber.

Die hochgelobten direktdemokratischen Prozesse zeigen bei Abstimmungen immer wieder ein groteskes Bild. Mit übertriebenem Triumpf loben die Sieger an der Urne jeweils unsere willensstarke Bevölkerung, welche einer Vorlage zugestimmt oder abgelehnt hätten.

Betrachtet man die Ergebnisse genauer, dann ergeben sich zunehmend knappe Resultate. Beispielsweise sind 51 Prozent dafür und 49 Prozent dagegen, oder umgekehrt. Wird die schweizweit durchschnittliche Stimmbeteiligungsquote von 45 bis 50 Prozent eingerechnet, dann erheben rund 25 Prozent – oder ein Viertel – ihre Stimme und machen sich an der Urne bemerkbar.

Condorcet-Autor Niklaus Gerber

Bei der jungen Generation – in der Altersspanne 18- bis 24-jährig – liegt die Beteiligungsquote langjährig rund 15 bis 20 Prozentpunkte unter dem erwähnten Durchschnitt resp. bei lediglich 30 bis 35 Prozent. Gleichzeitig bezeichnen sie sich selbst als letzte Generation [1]. Mit dem Älterwerden dieser nachfolgenden Generationen wird sich die schweizweite Stimmbeteiligungsquote weiter absenken. In absoluten Zahlen bedeutet das, dass künftig nur noch rund 20 von 100 Stimmberechtigen an die Urne gehen und über weitreichende Gesetze abstimmen werden.

Minderheit bestimmt über Mehrheit

Die hierzu rhetorische Frage lautet, ob man sich dessen bewusst ist und diese Tatsache einfach hinnehmen muss. Ich meine nein. Der wachsende Absentismus bei Stimm- und Wahlgeschäften ist unverständlich und gleichzeitig gefährlich, weil die Anfälligkeit für politische Beeinflussungen mit abnehmender Stimmbeteiligung zunimmt. Eine Minderheit bestimmt über die Mehrheit.

Insbesondere die Bildung muss alles daransetzen, diese Abwärtsbewegung bei der Stimmbeteiligung zu bremsen.

 

Das hohe Gut der aktiven Mitbestimmung in unserem Land wird von einem Grossteil der Stimmberechtigten nicht geschätzt. Gleichzeitig wird das erwähnte Risiko nicht erkannt. Die Gründe dafür sind Gleichgültigkeit, Wohlstand und Verwöhnung. Es geht uns scheinbar noch zu gut. Der Druck, die eigene Komfortzone zu verlassen und mit Interesse an der Weiterentwicklung unserer Demokratie mitzuwirken, ist zu gering.

Fazit

Wir müssten zum einen aufhören, die Ergebnisse an der Urne kommunikativ stets zu überinterpretieren. Nicht die gesamte Schweizerbevölkerung hat jeweils abgestimmt, sondern nur ein kleiner Teil davon.

Zum andern müssten Politik, Gesellschaft und insbesondere die Bildung alles daransetzen, diese Abwärtsbewegung bei der Stimmbeteiligung zu bremsen. Mit mehr politischer Bildung bei den Jungen [2] in unserem Land kann das gelingen. Schliesslich geht es um ihre Zukunft.

 

[1] “Die letzte Generation – Anmassung oder Zukunftsaussichten?”, in https://condorcet.ch/2024/06/die-letzte-generation-anmassung-oder-zukunftsaussichten/, 27.6.2024 (Abruf 9.12.24)

[2] “Politische Bildung an Berufsfachschulen”, in “Schulführung im Alltag”, Gerber, N., 2023

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6 Kommentare

  1. Nach dem Kompetenzlehrplan 21 zu urteilen, müssten Schülerinnen und Schüler geradezu mustergültig auf die demokratische Mitbestimmung vorbereitet sein und danach lechzen sich zu beteiligen, wenn sie die Schule verlassen. Dass sie sich als junge Erwachsene nur in geringer Zahl beteiligen, könnte auch daran liegen, dass sich die Kompetenzphrasen der schulischen Lehrpläne in der realen Welt als hohl erweisen. Ein höheres Engagement würde das Wissen über die politischen Zusammenhänge erfordern. Darauf verzichtete man zugunsten von Kompetenzen. In dieselbe falsche Richtung geht die Berufsschule, wenn sie im Allgemeinunterricht mit dem Verzicht auf Prüfungen das Signal aussendet, Inhalte wie die politische Bildung seien nicht so wichtig.

    1. Das geschilderte Auseinanderklaffen zwischen dem ehrgeizigen Bildungsprogramm im Bereich RZG und den oft wenig inspirierenden Geschichtsstunden in vielen Sekundarschulklassen ist eklatant. Gutgläubige Lehrkräfte sind tief verunsichert, sie kommen sich vor wie in einem System der Planwirtschaft mit unerreichbaren Zielen. Die wöchentliche Lektionenzahl genügt nicht, der Auftrag ist unübersichtlich und dabei letzten Endes ziemlich beliebig. Verschärft wird die Situation durch eine in vielen Fällen verkürzte Fachausbildung der Lehrpersonen. Diese sind selbstverständlich matchentscheidend, wenn es darum geht, Begeisterung für einen gehaltvollen Geschichtsunterricht zu wecken.

      Leider ist das Interesse der EDK am Zustand des kulturprägenden Bereichs RZG der Volksschule gering. Man ist nicht im Bild, wie es um die Fächer Geschichte und Geografie im Schulalltag steht. Geschichte ist nicht relevant für PISA, hat kein klares Profil mit inhaltlichen Vorgaben und das geschichtliche Basiswissen der Schulabgänger wird nirgends überprüft.

      Politiker fordern schon lange eine bessere staatspolitische Bildung unserer Jugend. Ein guter Geschichtsunterricht mit spannenden Elementen und anschaulichen Erlebnissen ist der erste grosse Schritt dazu. Doch da die EDK jede Einmischung vonseiten der Politik ablehnt, wenn es um inhaltliche Fragen des Bildungsprogramms geht, bewegt sich nichts.

      Wenn es den Politikerinnen und Politikern mit einer besseren Vorbereitung unserer Jugend auf ihre staatsbürgerlichen Aufgaben wirklich ernst ist, müssen sie nun eingreifen. Es gilt hinzuschauen, was in der Volksschule an geschichtlichen Inhalten vermittelt wird und wie dies geschieht. Der Lehrplan muss wieder zu einem verlässlichen Kompass werden und das Fach Geschichte benötigt wieder seine volle Eigenständigkeit in Ausbildung und Schulpraxis. Der Ball liegt jetzt eindeutig bei der Politik.

      1. Lieber Felix
        Ich stimme dir zu, dass sich die Politik stärker als bisher in die Bildung unserer Gesellschaft einbringen muss. Unser System mit der direkten Demokratie und den damit verbundenen Beteiligungsmöglichkeiten an der Urne erfordern dies. – PS: Was bedeutet “RZG”?

  2. RZG bedeutet “Räume, Zeiten, Gesellschaften”.
    Dieser neue Fachbereich im Lehrplan 21 ist aus den beiden bisherigen Fächern Geschichte und Geografie entstanden. Das umstrittene Konglomerat ist mit der Begründung geschaffen worden, es gebe einige Schnittmengen zwischen den beiden Teilbereichen.

    Es ist bezeichnend, dass der Begriff “RZG” auch bei bildungsnahen Personen keine inhaltlichen Vorstellungen weckt. Die in der wissenschaftlichen Systematik verankerten Fächer Geschichte und Geografie hingegen hatten eine Strahlkraft, welche ihrem wichtigen kulturellen Auftrag entsprachen.

    Geschichte sollte unserer Jugend zeigen, was und wie Wesentliches aus der Vergangenheit entstanden ist. Doch von einem Aufbau des geschichtlichen Basiswissens in der Volksschule ist wenig zu sehen. In der Praxis herrscht das Herauspicken von Themen aus Geografie und Geschichte vor.

    Mit dem Konglomerat RZG haben die beiden bisherigen Fächer zum Schaden einer guten Allgemeinbildung ihr klares Profil verloren. Es ist offensichtlich, dass sich die hochgelobte Steuerung über anspruchsvolle Kompetenzziele vor allem im Bereich Geschichte nicht bewährt hat. Die Politik muss wirklich genauer hinschauen, was unserer Jugend an geschichtlich-politischer Grundbildung vermittelt wird.

  3. Zitat: “Beispielsweise sind 51 Prozent dafür und 49 Prozent dagegen, oder umgekehrt. Wird die schweizweit durchschnittliche Stimmbeteiligungsquote von 45 bis 50 Prozent eingerechnet, dann erheben rund 25 Prozent – oder ein Viertel – ihre Stimme und machen sich an der Urne bemerkbar.” Diese Rechnung leuchtet nicht ein. Wenn die Stimmbeteiligung 45% ist, dann machen sich 45% an der Urne bemerkbar. Es müsste heissen. Nur ca. ein Viertel (auf der Siegerseite für oder gegen eine Vorlage) bestimmt dann für alle Stimmberechtigten.
    Was der Autor hier aufgreift, ist für mich ein seit Jahren beackertes Thema, seit dem Buch “Wie viel direkte Demokratie verträgt die Schweiz?” mit Silvio Borner als Co-Herausgeber aus dem Jahr 1997. Das Thema Partizipation und andere mit den direkten Volksrechten verwandte Fragen werden of zu oberflächlich diskutiert. Meine jüngsten Äusserungen dazu auf meinem Blog volldaneben.ch gehen in Richtung institutioneller Reformen (Quoren für Initiativen und Referenden).

    1. Lieber Herr Rentsch
      Danke für Ihren Kommentar. Gerne versuche ich zu präzisieren: Heute gehen von 100 stimmberechtigten Personen nur knapp die Hälfte an die Urne oder stimmen brieflich ab. Das sind – um einfach zu bleiben – rund 50 Personen, die von ihrer demokratischen Mitbestimmung Gebrauch machen. Unter diesen 50 Personen – als neue 100%-Basis – wird dann das Ja- oder Nein-Quorum aufgeteilt, was letztlich dem erwähnten Viertel oder den 25% aller möglichen Stimmberechtigten in der Schweiz entspricht.
      Ein weiterer Gedanke: Früher oder später werden wird über eine Stimmrechtsgewichtung zu Gunsten der jüngeren Generationen oder über ein Stimmrechtsalter Null befinden müssen. Das heutige System läuft zunehmend gegen eine Wand und braucht eine Korrektur.    

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