20. November 2024
Denkmoment

Reifegrad-Analyse beim Selbstorganisierten Lernen (SOL) – Teil 2

Definitionen und Deutungen rund um das Thema des selbstorganisierten oder selbstgesteuerten Lernens sind inflationär geworden. Was SOL ist oder sein könnte, umfasst eine grosse Spannbreite. Eine Spiegelung des Themas an einem einfachen Orientierungssystem und SOL-Modell kann Klarheit schaffen. Damit verbunden ist eine Selbstanalyse, die zum SOL-Reifegrad führt, schreibt Condorcet-Autor Niklaus Gerber.

 

Rückblende

In einem früheren Beitrag unter dem Titel “Selbstorganisiertes Lernen – oder: Ein praxisorientierter Ansatz” wurde das SOL-Modell vorgestellt, welches im Rahmen eines Projektes [1] der Pädagogischen Hochschule Bern mit Berner Gymnasien entstanden ist. Das Orientierungssystem wurde durch eine Verdichtung resp. Metabetrachtung aus den vielfältigen Definitionen rund um SOL entwickelt. Es klärt zum einen die Rollen und Erwartungen von Lernenden und Lehrpersonen, zum andern ermöglicht es Soll-Ist-Vergleiche in Bezug auf den SOL-Reifegrad. Entstanden ist folgende Trias:

  • Faktor E: Entscheidungsverantwortung der Lernenden
  • Faktor B: LernBegleitung durch die Lehrperson
  • Faktor R: Reflexion (Metakognition) durch die Lernenden

Bewusstseinsbildung als Basisarbeit

Lernende sind dankbar um klare Strukturen, an denen sie sich orientieren können. Mit dem Heranführen an das SOL-Modell verstehen sie, was hinter den drei SOL-Faktoren E, B und R steht. Fragen rund um ihre Rolle als Lernende/r, diejenige der Lehrperson etc. sollen beantwortet und geklärt werden.

Condorcet-Autor Niklaus Gerber

In Zusammenarbeit mit angehenden Berufsfachschullehrpersonen der aeb Schweiz [2] wurde der Frage nachgegangen, wie eine SOL-Selbstbeurteilung durch die Lernenden aussehen könnte. Der Nutzen einer solchen Analyse wurde wie folgt umschrieben:

  • Die Lernenden beurteilen und kennen ihren persönlichen SOL-Reifegrad anhand konkreter Aussagen.
  • Sie erkennen ihr Entwicklungspotenzial bei den drei SOL-Faktoren E, B und R und können so Massnahmen ableiten, um gezielt zu einem höheren Reifegrad zu gelangen.
  • Sie verinnerlichen das SOL-Modell und verstehen auf diese Weise das eigene Lernen.
  • Die Lehrpersonen werden unter Zuhilfenahme des SOL-Modells in der Erstellung der Bedingungsanalyse [3] unterstützt. 

Die Reifegradanalyse

Selbstbeurteilung

Für jeden der drei SOL-Faktoren E, B und R wurden je sieben Aussagen entwickelt. Die Lernenden sollen diese auf einer Viererskala [4] beurteilen und so zu ihrem jeweiligen SOL-Reifegrad [5] gelangen.

Aussagen zum Faktor E | Entscheidungsverantwortung

Aussagen zum Faktor B ¦ Lernbegleitung

Aussagen zum Faktor R | Reflexion

 

Mögliche Ergebnisse aus der Selbstbeurteilung

Reifegradprofil des/der Lernenden A

  • Der/die Lernende A besitzt einen hohen SOL-Reifegrad.
  • Die Kompetenz, Themen und Aufträge selbstständig, selbstorganisiert, selbstgesteuert, selbstbegleitend, selbstbeobachtend und selbstbeurteilend anzugehen, ist ausgeprägt.

Steigerungen sind beim Faktor R (Reflexion) zu erkennen und sollen mit Unterstützung der Lehrperson angegangen werden.

 

Reifegradprofil des/der Lernenden B

  • Der/die Lernende B besitzt einen niedrigen SOL-Reifegrad.
  • Die Kompetenz, Themen und Aufträge selbstständig, selbstorganisiert, selbstgesteuert, selbstbegleitend, selbstbeobachtend und selbstbeurteilend anzugehen, ist zu wenig vorhanden.

Steigerungen sind bei allen drei Faktoren E, B und R zu erkennen und sollen mit Unterstützung der Lehrperson angegangen werden.

Zwei Drittel der Lernenden konnten nicht selbstständig arbeiten und besassen einen entsprechend tiefen SOL-Reifegrad.

 

Folgerungen

Lehrpersonen können die Kompetenzen ihrer Lernenden gut einschätzen. Das individuelle Reifegradergebnis der Lernenden wird sich deshalb mit der (Fremd-)Beurteilung durch die Lehrperson grösstenteils decken. Dies führt unter anderem zur Möglichkeit, dass die Lehrperson sich stärker den Lernenden B zuwenden kann.

SOL-Massnahmen aus drei Unterrichtsbesuchen

Im Rahmen eines SOL-Erkundungsprojektes an der gibb Berufsfachschule Bern im Schuljahr 2020/21 wurden Unterrichtsbesuche bei Lehrpersonen, denen SOL ein grosses Anliegen darstellte, durchgeführt. Das Ergebnis war ernüchternd: Zwei Drittel der Lernenden konnten nicht selbstständig arbeiten und besassen einen entsprechend tiefen SOL-Reifegrad.

Die Erkenntnisse für das Entwickeln einer SOL-Kompetenz waren folgende:

  • Die Lernenden brauchen ein einfaches und klares Orientierungssystem, an das sie sich anlehnen können.
  • Die Vermittlung eines SOL-Modells mit den drei Faktoren E, B und R durch die Lehrpersonen ist zwingend erforderlich.
  • Die Lernenden müssen im SOL-Kontext über Basiswissen verfügen und sich persönlich kennen:

– Was ist ein Lernjournal oder -tagebuch? Welchen Zweck hat dieses und wie setze ich dieses ein?
– Was bedeutet das Wort Reflektieren? Wann mache ich das und wozu? Was bringt mir das?
– Was heisst Selbstverantwortung? Welche Rolle nehme ich wahr, und wofür bin ich verantwortlich?
– Was bin ich für ein Lerntyp? Weiss ich, wie ich erfolgreich lerne?
– Wie gelingt es mir, mich für das selbstorganisierte Lernen zu motivieren?

Fazit

Selbstorganisiertes Lernen ist eine überfachliche Kompetenz, die uns nicht in die Wiege gelegt wurde, sondern gezielt entwickelt werden muss. Es geht darum, Fähigkeiten und Verantwortung für das lebenslange und selbständige Lernen zu erlangen. Neuste Anforderungen für die Arbeitswelt 4.0 sprechen von “Selbstführungskompetenz”.

Mit der Anlehnung an das beschriebene SOL-Modell als Orientierungssystem erwächst ein Verständnis für das eigene Lernen. Arbeitswelt und Gesellschaft verlangen nach Menschen, die bereit sind, Entscheidungsverantwortung zu übernehmen, sich erfolgreich zu steuern und weiterzuentwickeln, sowie das eigene Tun stets zu hinterfragen. Die Berufsfachschule kann hierzu die notwendige Grundlagenarbeit auf dem Weg zur SOL-Befähigung ihrer Lernenden leisten.

 

[1] Projektlaufzeit 2010-2016

[2] aeb Schweiz – Akademie für Erwachsenenbildung, http://www.aeb.ch.

[3] Die Bedingungsanalyse steht am Anfang einer guten Unterrichtsplanung (Ausgangslage, Voraussetzungen, Einflussfaktoren, Rahmenbedingungen,
Abholstellen etc.).

[4] 1 = trifft nicht zu | 2 = trifft selten zu | 3 = trifft meistens zu | 4 = trifft zu

[5] Die SOL-Selbstanalyse erfolgt mit einem Umfragetool, das den Reifegrad beispielsweise auf einer Skala 1 (trifft nicht zu) bis 4 (trifft zu) generiert.

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3 Kommentare

  1. Ein Forschungsauftrag, dem sich jemand ernsthaft widmen sollte: “Wie erklärt sich die Anfälligkeit pädagogischer Institutionen für sektiererische Ideologien, welchen Schaden richten diese Ideologien an und wie können sie von den Praktikern sinnvoll unterlaufen werden, wenn sie von oben durchgesetzt werden?” Beispiele gibt es genug: Mehrsprachigkeitsdidaktik, Schreiben nach Gehör, SOL, integrative Schule, etc. Herrlich übrigens im Artikel die grenzwertigen Beurteilungsraster vom Typ “Ich bin in der Lage, Lernfortschritte zu reflektieren”. Frage: Wie “reflektiere” ich einen Lernfortschritt? Lernfortschritte stellt man fest, wenn man sie hat: “Ich kann jetzt die Bohrmaschine bedienen, was ich vorher nicht konnte.” Oder: “Ich kann jetzt für Kunden ein Konto eröffnen und dabei alle Vorschriften erfüllen und 8 Seiten Papierkram bewältigen.” Ist das Reflexion? Wie reflektiere ich Lernfortschritte, wenn ich keine habe? Jeder Lehrling, der nicht überall optimistisch die Spalte 4 ankreuzt, müsste wohl für bescheuert gelten.

  2. Lieber Felix
    Wir sind weit voneinander entfernt. – Aus deinen Zeilen entnehme ich eine Diskreditierung derjenigen Gymnasien und Mittelschullehrpersonen sowie Berufsfachschullehrpersonen, welche sich im Rahmen eines Projektes dem Thema SOL gewidmet haben. Und zwar alle auf gleicher Augenhöhe, nicht von oben herab. Du schreibst gar von Sektierertum und Ideologien. Da geht meines Erachtens zu weit. Mir scheint es wichtig, dass in einem (Bildungs-)Blog kontroverse Meinungen ausgetauscht werden sollen – das ist ja auch das Wesen eines Blogs -, jedoch stets in einem respektvollen und sachlichen Diskurs.

    1. Lieber Niklaus
      Es liegt mir fern, Gymnasien oder Berufsschullehrpersonen zu diskreditieren. Das tue ich auch nicht. Ich verstehe aber sehr wohl, dass die Kritik stört. Des Schweizers Seelenfrieden verträgt Kritik schlecht. Hilfreich wäre es dann aber, auf die Argumente der Kritiker einzugehen, anstatt die moralische Keule zu schwingen. Was stört an dem von Dir vorgestellten Konzept, wieso ist es sektiererisch?
      1. Die Unterstellung, dass Berufsschullehrer bisher ihre Aufgabe nicht richtig erfüllt hätten, sondern nur mit diesem SOL-Konzept eine zukunftsgerichtete Ausbildung sicher stellen könnten. Diese Behauptung, dass das Heil ausschliesslich in dieser einen Methode liegt, ist ein typisches Merkmal des Sektierertums. Schliesslich gilt immer noch Methodenfreiheit. Viele Wege führen nach Rom. Entscheidend ist, dass die Lehrlinge am Ende der Lehrzeit können, was der Beruf verlangt. Bei Gymnasiasten ist es die Studierfähigkeit, was schon immer das Ziel war.
      2. Lehrlinge sollen sich am sogenannten SOL-Reifegrad messen. Dieser SOL-Reifegrad ist ein Übergriff auf die Persönlichkeitsrechte. Es ist ein willkürlich festgelegtes Idealbild, vergleichbar dem “gerechten” Menschen der christlichen Religion oder dem höheren Zustand des fortgeschrittenen Scientologen. Diejenigen, die dieses Idealbild geschaffen haben, ziehen die Fäden der Macht. Niemand kann diese absolut gesetzten Ziele erreichen. Ein weiteres Merkmal von Sekten. Berufsbildung verlangt solche Eingriffe in die Persönlichkeit nicht, wird es auch in Zukunft nicht verlangen.
      3. Die Aussagen der Beurteilungsraster sind Gummiparagraphen. Beispiel: “Ich bin in der Lage, meine zeitlichen Ressourcen sinnvoll einzuplanen.” Zunächst ist das falsches Deutsch. Es sollte heissen: “sinnvoll einzuteilen”. (Ich weigere mich zu glauben, dass Gymnasiallehrer einen solchen Fehler durchgehen lassen würden. Falls doch, mangelt es nicht an deren SOL-Reifegrad, sondern schlicht an ihren Deutschkenntnissen.) Die Aussage ist ausserdem inhaltlich fragwürdig. Wenn ich zu viel aufgebürdet bekomme, sodass meine zeitlichen Ressourcen nicht ausreichen, kann ich sie auch nicht sinnvoll einteilen. Das ist aber der Fehler des Lehrmeisters, der das Arbeitstempo des Lehrlings falsch einschätzt oder Unmögliches verlangt. Manche dieser Aussagen halten einer logischen Überprüfung nicht stand. Wer aber hat die Deutungshoheit darüber, welche Bewertung angekreuzt werden muss? Antwort: Der verantwortliche Guru. Ein weiteres Merkmal für Sekten.
      Nehmen wir an, es sei keine schlechte Absicht mit dem Konzept verbunden, sondern es sei auf dem Mist von “Organisationsentwicklern” gewachsen. Selbst dann ist es nach obigen Argumenten als “l’art pour l’art” einzustufen. Es wird lediglich wertvolle fachliche Ausbildungszeit kosten, aber nichts zur beruflichen Ausbildung beitragen.

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