Rückblende
In einem früheren Beitrag unter dem Titel “Selbstorganisiertes Lernen – oder: Ein praxisorientierter Ansatz” wurde das SOL-Modell vorgestellt, welches im Rahmen eines Projektes [1] der Pädagogischen Hochschule Bern mit Berner Gymnasien entstanden ist. Das Orientierungssystem wurde durch eine Verdichtung resp. Metabetrachtung aus den vielfältigen Definitionen rund um SOL entwickelt. Es klärt zum einen die Rollen und Erwartungen von Lernenden und Lehrpersonen, zum andern ermöglicht es Soll-Ist-Vergleiche in Bezug auf den SOL-Reifegrad. Entstanden ist folgende Trias:
- Faktor E: Entscheidungsverantwortung der Lernenden
- Faktor B: LernBegleitung durch die Lehrperson
- Faktor R: Reflexion (Metakognition) durch die Lernenden
Bewusstseinsbildung als Basisarbeit
Lernende sind dankbar um klare Strukturen, an denen sie sich orientieren können. Mit dem Heranführen an das SOL-Modell verstehen sie, was hinter den drei SOL-Faktoren E, B und R steht. Fragen rund um ihre Rolle als Lernende/r, diejenige der Lehrperson etc. sollen beantwortet und geklärt werden.
In Zusammenarbeit mit angehenden Berufsfachschullehrpersonen der aeb Schweiz [2] wurde der Frage nachgegangen, wie eine SOL-Selbstbeurteilung durch die Lernenden aussehen könnte. Der Nutzen einer solchen Analyse wurde wie folgt umschrieben:
- Die Lernenden beurteilen und kennen ihren persönlichen SOL-Reifegrad anhand konkreter Aussagen.
- Sie erkennen ihr Entwicklungspotenzial bei den drei SOL-Faktoren E, B und R und können so Massnahmen ableiten, um gezielt zu einem höheren Reifegrad zu gelangen.
- Sie verinnerlichen das SOL-Modell und verstehen auf diese Weise das eigene Lernen.
- Die Lehrpersonen werden unter Zuhilfenahme des SOL-Modells in der Erstellung der Bedingungsanalyse [3] unterstützt.
Die Reifegradanalyse
Selbstbeurteilung
Für jeden der drei SOL-Faktoren E, B und R wurden je sieben Aussagen entwickelt. Die Lernenden sollen diese auf einer Viererskala [4] beurteilen und so zu ihrem jeweiligen SOL-Reifegrad [5] gelangen.
Aussagen zum Faktor E | Entscheidungsverantwortung
Aussagen zum Faktor B ¦ Lernbegleitung
Aussagen zum Faktor R | Reflexion
Mögliche Ergebnisse aus der Selbstbeurteilung
Reifegradprofil des/der Lernenden A
- Der/die Lernende A besitzt einen hohen SOL-Reifegrad.
- Die Kompetenz, Themen und Aufträge selbstständig, selbstorganisiert, selbstgesteuert, selbstbegleitend, selbstbeobachtend und selbstbeurteilend anzugehen, ist ausgeprägt.
Steigerungen sind beim Faktor R (Reflexion) zu erkennen und sollen mit Unterstützung der Lehrperson angegangen werden.
Reifegradprofil des/der Lernenden B
- Der/die Lernende B besitzt einen niedrigen SOL-Reifegrad.
- Die Kompetenz, Themen und Aufträge selbstständig, selbstorganisiert, selbstgesteuert, selbstbegleitend, selbstbeobachtend und selbstbeurteilend anzugehen, ist zu wenig vorhanden.
Steigerungen sind bei allen drei Faktoren E, B und R zu erkennen und sollen mit Unterstützung der Lehrperson angegangen werden.
Zwei Drittel der Lernenden konnten nicht selbstständig arbeiten und besassen einen entsprechend tiefen SOL-Reifegrad.
Folgerungen
Lehrpersonen können die Kompetenzen ihrer Lernenden gut einschätzen. Das individuelle Reifegradergebnis der Lernenden wird sich deshalb mit der (Fremd-)Beurteilung durch die Lehrperson grösstenteils decken. Dies führt unter anderem zur Möglichkeit, dass die Lehrperson sich stärker den Lernenden B zuwenden kann.
SOL-Massnahmen aus drei Unterrichtsbesuchen
Im Rahmen eines SOL-Erkundungsprojektes an der gibb Berufsfachschule Bern im Schuljahr 2020/21 wurden Unterrichtsbesuche bei Lehrpersonen, denen SOL ein grosses Anliegen darstellte, durchgeführt. Das Ergebnis war ernüchternd: Zwei Drittel der Lernenden konnten nicht selbstständig arbeiten und besassen einen entsprechend tiefen SOL-Reifegrad.
Die Erkenntnisse für das Entwickeln einer SOL-Kompetenz waren folgende:
- Die Lernenden brauchen ein einfaches und klares Orientierungssystem, an das sie sich anlehnen können.
- Die Vermittlung eines SOL-Modells mit den drei Faktoren E, B und R durch die Lehrpersonen ist zwingend erforderlich.
- Die Lernenden müssen im SOL-Kontext über Basiswissen verfügen und sich persönlich kennen:
– Was ist ein Lernjournal oder -tagebuch? Welchen Zweck hat dieses und wie setze ich dieses ein?
– Was bedeutet das Wort Reflektieren? Wann mache ich das und wozu? Was bringt mir das?
– Was heisst Selbstverantwortung? Welche Rolle nehme ich wahr, und wofür bin ich verantwortlich?
– Was bin ich für ein Lerntyp? Weiss ich, wie ich erfolgreich lerne?
– Wie gelingt es mir, mich für das selbstorganisierte Lernen zu motivieren?
Fazit
Selbstorganisiertes Lernen ist eine überfachliche Kompetenz, die uns nicht in die Wiege gelegt wurde, sondern gezielt entwickelt werden muss. Es geht darum, Fähigkeiten und Verantwortung für das lebenslange und selbständige Lernen zu erlangen. Neuste Anforderungen für die Arbeitswelt 4.0 sprechen von “Selbstführungskompetenz”.
Mit der Anlehnung an das beschriebene SOL-Modell als Orientierungssystem erwächst ein Verständnis für das eigene Lernen. Arbeitswelt und Gesellschaft verlangen nach Menschen, die bereit sind, Entscheidungsverantwortung zu übernehmen, sich erfolgreich zu steuern und weiterzuentwickeln, sowie das eigene Tun stets zu hinterfragen. Die Berufsfachschule kann hierzu die notwendige Grundlagenarbeit auf dem Weg zur SOL-Befähigung ihrer Lernenden leisten.
[1] Projektlaufzeit 2010-2016
[2] aeb Schweiz – Akademie für Erwachsenenbildung, http://www.aeb.ch.
[3] Die Bedingungsanalyse steht am Anfang einer guten Unterrichtsplanung (Ausgangslage, Voraussetzungen, Einflussfaktoren, Rahmenbedingungen,
Abholstellen etc.).
[4] 1 = trifft nicht zu | 2 = trifft selten zu | 3 = trifft meistens zu | 4 = trifft zu
[5] Die SOL-Selbstanalyse erfolgt mit einem Umfragetool, das den Reifegrad beispielsweise auf einer Skala 1 (trifft nicht zu) bis 4 (trifft zu) generiert.
Ein Forschungsauftrag, dem sich jemand ernsthaft widmen sollte: “Wie erklärt sich die Anfälligkeit pädagogischer Institutionen für sektiererische Ideologien, welchen Schaden richten diese Ideologien an und wie können sie von den Praktikern sinnvoll unterlaufen werden, wenn sie von oben durchgesetzt werden?” Beispiele gibt es genug: Mehrsprachigkeitsdidaktik, Schreiben nach Gehör, SOL, integrative Schule, etc. Herrlich übrigens im Artikel die grenzwertigen Beurteilungsraster vom Typ “Ich bin in der Lage, Lernfortschritte zu reflektieren”. Frage: Wie “reflektiere” ich einen Lernfortschritt? Lernfortschritte stellt man fest, wenn man sie hat: “Ich kann jetzt die Bohrmaschine bedienen, was ich vorher nicht konnte.” Oder: “Ich kann jetzt für Kunden ein Konto eröffnen und dabei alle Vorschriften erfüllen und 8 Seiten Papierkram bewältigen.” Ist das Reflexion? Wie reflektiere ich Lernfortschritte, wenn ich keine habe? Jeder Lehrling, der nicht überall optimistisch die Spalte 4 ankreuzt, müsste wohl für bescheuert gelten.