Es kommt selten vor, dass der Geschichtsunterricht der Volksschule die nationale Politik beschäftigt. Doch die jüngste Kritik bürgerlicher Parteien und des Lehrerverbands LCH lassen aufhorchen. FDP-Präsident Thierry Burkhart findet es stossend, dass im Geschichtsunterricht Lehrmittel mit Schlagseite zu Wokeness-Themen eingesetzt werden. SVP-Präsident Marcel Dettling wirft den Bildungsverantwortlichen vor, die Volksschule zu einem Labor für Schulexperimente umgestaltet und die Schweizer Geschichte vernachlässigt zu haben. Und die LCH-Präsidentin Dagmar Rösler bemängelt die fehlende Rückendeckung für Lehrpersonen, die politische Themen im Unterricht behandeln möchten.
Relevante Themen statt einer Fokussierung auf trendige Fragen
Die Kritik am Geschichtsunterricht ist berechtigt. Doch es geht nicht in erster Linie um die Frage, wieviel Wokeness in den Lehrmitteln enthalten ist. Was zählt, ist vielmehr, dass wieder relevante Bildungsinhalte den Geschichtsunterricht prägen. Solange Meilensteine der Welt- und Schweizergeschichte reihenweise ausgelassen werden, ist der Vorwurf der manipulativen Einseitigkeit bei der Themenauswahl berechtigt, aber anders zu definieren: Unserer Jugend wird geschichtliches Grundwissen vorenthalten.
Dass der Vorwurf der inhaltlichen Einseitigkeit nicht aus der Luft gegriffen ist, dafür gibt es Belege. Ein unschönes Beispiel ist die Verunglimpfung von Industriepionieren in einem Lehrmittel, das in den Stadtzürcher Schulen eingesetzt wird. Das Buch befasst sich mit den Verwicklungen von Zürcher Kaufleuten in den Sklavenhandel.
Völlig verzerrtes Bild
Gegen die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels ist nichts einzuwenden. Wenn nun aber Alfred Escher fälschlicherweise als indirekter Profiteur seines im Sklavenhandel tätigen Onkels bezeichnet wird und Eschers Pionierleistungen hingegen mit keinem Wort erwähnt werden, ergibt dies ein völlig verzerrtes Bild. Viele Jugendliche erfahren so nie, dass Escher der Hauptinitiator der Gotthardbahn war, die Crédit Suisse gründete und dafür sorgte, dass Zürich mit der ETH eine hervorragende Hochschule bekam. Man kann Escher grosse Rücksichtslosigkeit im Umgang mit seinen Konkurrenten vorwerfen, aber den Akzent auf den Sklavenhandel zu legen, ist absurd.
Diffuser Auftrag als Grund der Verunsicherung der Lehrkräfte
Die tiefe Verunsicherung über den Auftrag des Geschichtsunterrichts ist entstanden, weil das Fach kein klares Profil mit einer gesellschaftlich anerkannten Botschaft aufweist. Der Anspruch, Geschichte könne mit verbindlichen Inhalten ein Stück weit schweizerische Identität schaffen, ist längst fallen gelassen worden. Die Europafrage ist für viele zu einem Minenfeld geworden, weil der Mut fehlt, mit föderal geprägtem Selbstbewusstsein die Vor- und Nachteile einer Annäherung an Europa präzis aufzuarbeiten. Aus dem Lehrplan ist schwer herauszulesen, was denn zum Kern eines modernen Geschichtsunterrichts zählen könnte. Entsprechend ist es verbreitete Praxis, verschiedenste Themen aus dem randvollen Angebot herauszupicken und exemplarisch einige geschichtliche Grundfragen aufzugreifen.
Aus Zeitnot, aufgrund einer Orientierung an Kompetenzzielen mit austauschbaren Inhalten oder aus Gründen von Lücken in der Ausbildung werden manche zentralen Ereignisse im Schnellverfahren erledigt.
Fachlich kompetente und im kritischen Denken geübte Lehrkräfte sollten eigentlich imstande sein, über jedes Thema sachlich zu informieren. Dazu gehören spannende Schilderungen gegensätzlicher politischer Interessen und umsichtig geleitete Diskussionen im Klassenverband. Doch der Schulalltag sieht oft anders aus. Aus Zeitnot, aufgrund einer Orientierung an Kompetenzzielen mit austauschbaren Inhalten oder aus Gründen von Lücken in der Ausbildung, werden manche zentralen Ereignisse im Schnellverfahren erledigt. So wird die bedeutende Periode des Kalten Kriegs oft nur in ein paar Lektionen abgehandelt.
Zwar bieten einige moderne Lehrmittel den Stoff der neusten Geschichte auf attraktive Weise an. Doch es braucht zusätzlich die sprachliche Gestaltungskraft und kompetentes Wissen der Lehrpersonen, um Geschichtsstunden zu einem Erlebnis werden zu lassen. Schüler haben ein Recht darauf, mit den grossen Ereignissen der neusten Geschichte konfrontiert zu werden. So sind das Wirtschaftswunder der Fünfzigerjahre und die gesellschaftlichen Veränderungen im Sog der 68er-Bewegung Themen, die Jugendlichen keinesfalls vorenthalten werden dürfen.
Bessere Rahmenbedingungen und ein klares Auftragsprofil
Geschichtlich-politische Grundbildung braucht einen soliden Aufbau mit erkennbaren Entwicklungslinien. Diese kann man beispielsweise in der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der Schweiz vom bescheidenen Agrarstaat zur exportstarken Industrienation anschaulich darstellen. Doch erst unter fairen Rahmenbedingungen erhält der Geschichtsunterricht die Chance, seinen Kulturauftrag zu erfüllen und die Jugend für politische Fragen sensibilisieren zu können. Dafür benötigt das Fach eine umfassende Aufwertung. Die Rückgewinnung der vollen Eigenständigkeit des Geschichtsstudiums in der Lehrerbildung sowie die Aufstockung der Lektionenzahl sind dazu unabdingbar.
Lehrerinnen und Lehrer benötigen keine detaillierten Anweisungen, wie sie den Geschichtsunterricht politisch korrekt zu gestalten haben. Was ihnen aber weiterhilft, ist ein gesellschaftlicher Konsens über die inhaltlichen Schwerpunkte eines gehaltvollen Geschichtsunterrichts. Die aufgeschobene Diskussion um die Inhalte ist überfällig, um dem Fach Geschichte ein klares Profil zurückzugeben. Die drei pointierten Aufrufe haben hoffentlich den Stein nun ins Rollen gebracht.
Kurze Antwort auf die Titelfrage: Gar keines.