Das Bildungspapier, das die FDP vor einer Woche an ihrer Delegiertenversammlung verabschiedet hatte, schlug in der Schweiz wie eine Bombe ein. Unter anderem forderte die Partei nichts weniger als die Abschaffung von Frühfranzösisch.
Das wäre eine ganz schlechte Idee, meinte Natasha Pittet, FDP-Kandidatin für das Stadtpräsidium. Das von der Stadt Biel subventionierte Forum für Zweisprachigkeit, zeigte sich schockiert, sprach von zahlreichen Studien, die das frühe Erlernen von Fremdsprachen belegt hätten und bemühte den Tausendfach bemühten Begriff des nationalen Zusammenhalts. Und die BT-Journalistin Hannah Frei meint, die FDP habe da gar nichts zu entscheiden.
Man muss eben aufpassen, wenn man jahrelang einen Mythos beschwört, kritische Einwände als «unmodern» abschmettert oder falsche Behauptungen in die Welt setzt. Irgendwann kommt die Stunde der Wahrheit. In diesem Fall mit den ÜGK, das sind die Überprüfungen der Grundkompetenzen, die in der Schweiz regelmässig erhoben werden. Und die ergeben für das Französisch einen desaströsen Befund. Nur 32.8 % erreichen im Leseverstehen die Grundkompetenzen. Im Hörverstehen sind es 57%. Im Sprechen (ein Lernziel, auf das besonders Wert gelegt wurde) sind es – sage und schreibe – nur 10,2%. Ich betone, hier ist von Grundkompetenzen die Rede, also der niedrigsten Stufe! In Anbetracht der 100 Mio Fr., welche man für die Einführung von Frühfranzösisch eingesetzt hatte, darf man wohl mit Fug und Recht von einer Fehlinvestition sprechen.
Der nationale Zusammenhalt scheint immer wieder die letzte Zuflucht des Ideologen zu sein, wenn einem die Felle davon schwimmen. Aber für den nationalen Zusammenhalt – als ob dies für die Schule leistbar wäre – ist es viel wichtiger, wie gut die Schüler am Schluss ihrer Schulzeit Französisch sprechen können, als wann sie damit anfangen.
Und was die vielbesagte Studienlage betrifft, so hat bereits Professor Georges Lüdi, einer der Verantwortlichen von Frühfranzösisch, festgestellt, dass «internationale Studien in der Tat bewiesen haben, dass Frühstarter gegenüber Spätstartern beim schulischen Erlernen einer Fremdsprache keinen Vorteil haben.» Der gute Mann hat sich den Fakten gebeugt, genauso wie die FDP es heute tut. Das ist ihr hoch anzurechnen. Es ist nie angenehm zuzugeben, dass man einen Fehler gemacht hat. Und es zeugt von Format, wenn man den Mut hat, dies doch zu tun.
Natürlich hat Hannah Frei recht, wenn sie schreibt, dass die FDP gar nichts zu entscheiden habe. Aber das tut diese Partei ja nicht. Sie hat ein Grundlagenpapier verabschiedet, das eine Kurskorrektur vornimmt und eine wichtige Debatte angestossen hat. Viel brenzliger wird es für das Frühfranzösisch mit dem spektakulären Entscheid des bernischen Grossrats diesen Frühling, von dem die Journalistin überhaupt nicht redet. Die Mehrheit des Parlaments hat dort nämlich eine Motion überwiesen, welche verlangte, die Sinnhaftigkeit des Frühfranzösisch zu überprüfen. Und das war ein Entscheid, dem man sich nicht entziehen kann.
Der Bieler Bilinguismus interessiert im Oberland oder im Emmental oder im Toggenburg niemanden.
Überhaupt hat das Frühfranzösisch wenig mit dem in Biel praktizierten Bilinguismus zu tun. Biel besitzt mit der Filière Bilingue eine Schule, in der zweisprachig unterrichtet wird. Alle anderen Schulen unterrichten Französisch bzw. Deutsch getrennt und traditionell nach Lehrplan in einem schulischen Kontext. Frühfranzösisch ist hingegen eine nationale Frage. Der Bieler Bilinguismus interessiert im Oberland oder im Emmental oder im Toggenburg niemanden.
Eine Knochenarbeit, die alles abverlangt und erschwert wird von ungenügend sanierten Schulanlagen, einem bedrückenden Lehrkräftemangel und schwierigen sozialen Verhältnissen.
Aber ich würde Frau Pittet, Frau Frei und Frau Borel gerne einladen, einmal die schulischen Realitäten in den Quartieroberstufenzentren an Ort und Stelle zu studieren. Das sind Orte, an denen 80% der Schüler zu Hause weder Deutsch noch Französisch sprechen. Mit meinen 69 Jahren habe ich dort wieder einmal eine Stellvertretung für einen ausgefallenen Kollegen übernommen. Den Satz, «Marquez toutes les erreurs que vous avez faites dans le test et écrivez la forme correcte au-dessus de celles-ci » versteht die Hälfte der 9. Klasse nicht.
Dafür könnten sich die Damen die enorme Leistung meiner Kolleginnen und Kollegen vor Augen führen, welche mit einem unglaublichen Engagement, Kinder aus über 50 Nationen unterrichten, sie teilweise alphabetisieren müssen, ihnen Lesen und Schreiben in der deutschen Sprache beibringen und daneben noch die Eingliederung in die Arbeitswelt vorbereiten. Eine Knochenarbeit, die alles abverlangt und erschwert wird von ungenügend sanierten Schulanlagen, einem bedrückenden Lehrkräftemangel und schwierigen sozialen Verhältnissen. Die Bekämpfung des Illetrismus steht hier an oberster Stelle. Was dort am wenigsten gebraucht wird, sind Bilinguismus-Parolen von Vertreterinnen des Mittelstands, die keine Ahnung von der Situation der Kinder aus unterprivilegierten Schichten haben.
Wer Bildungspolitik betreibt, sollte jedes Jahr mindestens eine ganze Woche den Unterricht in einer Regelklasse der Volksschule besuchen. Viele würden sich wohl verwundert die Augen reiben und ihre schulpolitischen Zielsetzungen revidieren. Alain Pichard beschreibt anschaulich, welche Anforderungen in einem Bieler Arbeiterquartier da auf die Klassenlehrkräfte zukommen. Es geht in diesen Klassen längst nicht mehr darum, den Schülern möglichst früh eine zweite Fremdsprache beizubringen. Dieses Programm aus dem bildungspolitischen Wunschbereich ist zu einem Ballast geworden, der sehr viele Kinder demotiviert und auf Kosten zentraler Bildungsaufgaben geht. Doch Alain Pichard Aussagen gelten nicht nur für Biel, sondern für alle sozial belasteten Klassen landesweit.
Es ist erschütternd, dass trotz unerfreulicher Rückmeldungen das überfordernde Mehrsprachenkonzept der Mittelstufe noch immer als sakrosankt gilt. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Zwei Fremdsprachen in der Primarschule sind für die meisten Schüler eine zuviel. Die Politik hat sich in der Sprachenfrage völlig verrannt und versucht jetzt mit dem Mythos vom nationalen Zusammenhalt durch das Frühfranzösisch die Scherben zu kitten. Doch das ist ein lächerliches Bemühen, wenn man auf die traurige Erfolgsbilanz des aufwändigen “Sprachenkompromisses” schaut. Unsere Schulabgänger können heute nicht besser, sondern zu grossen Teilen schlechter Französisch als in früheren Jahren.
Der Wert von Fremdsprachen im Bildungsprogramm der Volksschule ist unbestritten. Aber man kann es auch gründlich falsch machen, wenn man das Augenmass beim Fremdsprachenlernen verliert. So hat die Primarschule zuerst einmal dafür zu sorgen, dass unsere Jugend gute Grundlagen im Deutsch, in der Mathematik und den kulturbildenden Realienfächern erhält. In einer Volksschule mit Kindern aus vielen Nationen braucht es eine Konzentration auf Wesentliches und kindgerechtere Bildungsinhalte. Wir müssen endlich den Mut aufbringen, den Nutzen aufwändiger Zusatzprogramme und die Gewichtung der Fächer im Lehrplan zu überprüfen. Erfreut und leicht neidisch stelle ich fest, dass die langsamen Berner uns Zürcher wieder einmal voraus sind: Sie haben kürzlich beschlossen, die Wirksamkeit des frühen Französischunterrichts zu untersuchen. Chapeau!