Was genau tun die Behördenfunktionärinnen und -funktionäre des Erziehungsdepartementes eigentlich den ganzen Tag? Auf diese Frage antwortet die neue Ausgabe des Basler Schulblattes (1): Die Leute entwickeln Visionen, Visionen für die künftige Entwicklung der Volksschule. Wie die Autorin des Artikels, Charlotte Staehelin, weiss, handelt es sich um einen Prozess, der auf fünf bis acht Jahre angelegt ist. Die Volksschulleitung entwickelt die Visionen, die Schul- und Fachstellenleitungen sollen die Umsetzung an den Schulen einleiten. Die Lehrerschaft wird wohl nur in den sogenannten “Echogruppen” dazu angehört.
Wie war das noch mit den flachen Hierarchien? Und hiess es nicht erst noch, man müsse “Betroffene zu Beteiligten machen”? Davon ist jedenfalls nichts zu spüren, wenn der Ablauf des Prozesses derart hierarchisch vorstrukturiert ist. Die Betroffenen, nämlich die Lehrkräfte, dürfen die ihnen von den Visionären und den Schulleitungen eingebrockte Suppe auslöffeln, nachdem sie in Echogruppen pro forma zu den faits accomplis noch ihren Senf haben dazugeben dürfen, und zwar möglichst in zustimmendem Sinne.
Auffällig, wie ein solches Top-Down-Gebaren bereits der ersten Vision widerspricht, die im Kernsatz gipfelt: “Die Volksschule bereitet auf ein selbstbestimmtes Leben vor.” Die Vorstellung vom selbstbestimmten Leben wird unter anderem konkretisiert mit der Maxime: “Die Volksschule ist eine Gemeinschaft im Kleinen; demokratisches Handeln wird vermittelt und gelebt.” (2) Damit sollen Lehrpersonen als die untersten Befehlsempfänger in der politischen Bildungshierarchie plötzlich als Garanten einer demokratischen Gemeinschaft im Kleinen fungieren. Ob man den Visionären etwas in den Kaffee geschüttet hat, dass sie diese Ungereimtheit nicht bemerkten?
Unterricht ist eine Veranstaltung, die darauf angelegt ist, Wissen und Können zu vermitteln
Stutzig wird der Leser auch beim zweiten Kernsatz der Visionäre: “Lernen ist mehr als Unterricht”. Dieser Satz setzt die Gleichung voraus: “Lernen gleich Unterricht.” Selbst wenn man dies nachsichtig mit «pädagogischer Lyrik» entschuldigt, muss doch darauf hingewiesen werden, dass die Aussage absurd ist. Unterricht ist eine Veranstaltung, die darauf angelegt ist, Wissen und Können zu vermitteln. Lernen bedeutet die Aufnahme und das Verständnis von neuen Sachverhalten und Anwendungen, die sich Schülerinnen und Schüler zu eigen machen. Der Vergleich der beiden Begriffe ist etwa so unsinnig, wie wenn man sagen würde: “Essen ist mehr als die Küche” oder “Lesen ist mehr als ein Buch” oder “Skifahren ist mehr als eine Piste”.
Natürlich offenbart dieser Kernsatz eine versteckte Kritik an dem schulischen Unterricht. Unterricht hat für die Visionäre insgeheim einen negativen Anstrich. Das lässt sich an den Konkretisierungen ablesen:
- Bildung bedingt Bindung.
- Von der Unterrichtsentwicklung zur Lernentwicklung.
- Lernarrangements orientieren sich an den individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler.
- Dem motivationalen Aspekt des Lernens wird grosses Gewicht gegeben.
- Alle Schülerinnen und Schüler werden in ihrer Individualität wahr- und angenommen. Sie erfahren Orientierung und Ermutigung.
- Die Schülerinnen und Schüler werden sowohl gefördert als auch gefordert. (2)
Unterricht wird demnach als etwas gesehen, das Bindung erschwert, dem Lernen zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, zu wenig individualisiert, zu wenig motiviert, etwas das entmutigt, zu wenig fördert und fordert. Es ist im Grunde das Lamento von Leuten, deren Erinnerung an die Schulzeit durch Misserfolge, schlechte Erfahrungen, Langeweile belastet ist und die jetzt in ihrer Rolle als Behördenmitglieder ihre Wünsche von einer heilen Schulwelt auf die von ihnen verwaltete Schule projizieren.
Konträre Visionen
Auch die übergewichtige Betonung des “Individualisierens” kontrastiert deutlich mit der ersten Vision, welche das hohe Lied der “Gemeinschaft” singt:
- Die Volksschule bereitet die Schülerinnen und Schüler auf ein selbstständiges, kooperatives und verantwortungsvolles Handeln in der Gesellschaft vor.
- Die Volksschule ist eine Gemeinschaft im Kleinen; demokratisches Handeln wird vermittelt und gelebt.
Geltende Werte und gemeinsam festgelegte Regeln stärken sowohl das Ich als auch das Wir. - Die Schülerinnen und Schüler übernehmen Verantwortung für sich, die Gemeinschaft und die Umwelt.
- Die Schülerinnen und Schüler lernen, sich in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft verantwortungsvoll und kompetent zu bewegen. (2)
Der Unterricht soll jedem Kind das angemessene Programm vorsetzen, sozusagen private Schulung simulieren, während gleichzeitig auf wundersame Weise gemeinschaftliches Handeln und Verantwortung für die Gemeinschaft und die Umwelt entsteht. Dass gemeinschaftliches Handeln nur zu haben ist, wenn individuelle Bedürfnisse auch mal hintangestellt werden, sich der oder die Einzelne einmal anpassen und anstrengen muss, ist den Visionierenden in ihren Höhenflügen nicht bewusst. Man darf den Schulleitungen und Lehrpersonen viel Glück wünschen bei der Umsetzung solch konträrer Visionen.
Die Visionen sind das ewige Wiederkäuen derselben Phrasen und längst bekannten Kitschformeln, die schon die früheren Schulreformen begleitet und die Schulqualität in Basel kaum verbessert haben.
Leider muss man feststellen, dass Jahrzehnte der Schulpolitik nach dem bekannten Top-Down-Muster bei den Verantwortlichen noch keinen Lernprozess angeregt haben. Die drei weiteren von der Basler Erziehungsnomenklatura genannten Visionen sind ebenfalls weder neu noch originell. Sie sind das ewige Wiederkäuen derselben Phrasen und längst bekannten Kitschformeln, die schon die früheren Schulreformen begleitet und die Schulqualität in Basel kaum verbessert haben:
- Die Volksschule trägt dazu bei, die Chancengerechtigkeit zu fördern.
- Wir leben eine kooperative Zusammenarbeit.
- Die Volksschule ist eine lernende Organisation.
Die Frage sei erlaubt: Wenn die Leute im Erziehungsdepartement Basel-Stadt Zeit haben, sich fünf bis acht Jahre mit solchen Visionen, wie sie es nennen, zu beschäftigen, braucht es diese Stellen überhaupt noch? Könnte man hier nicht mit Einsparungen beginnen? Sozusagen der Beginn eines “lernenden Departementes”! Oder könnte man diesen Leuten nicht offene Stellen an Schulen anbieten, damit sie ihre Visionen direkt selbst umsetzen können? Sie könnten dann vielleicht demonstrieren, wie Lernen mehr ist als Unterricht.
(1) https://www.edubs.ch/publikationen/baslerschulblatt/aktuelle-ausgabe-1/BSB_01_2024.pdf/@@download/file/BSB_01_2024.pdf?inline=true
(2) https://www.edubs.ch/publikationen/baslerschulblatt/artikel/integration-innovation-inspiration-unsere-schulen-gestalten?searchterm=Integration%2C+Innovation%2C+Inspiration
Wie verräterisch ist doch die Mythologie, wenn – einmal mehr – von sogenannten “Echogruppen” die Rede ist: Die Nymphe Echo wurde von Hera ihrer Sprache beraubt und konnte fortan lediglich die letzten Worte wiederholen, die an sie gerichtet worden waren. Selbstbestimmung sieht anders aus.
Einfach zur Erinnerung: Baselstadt belegte in der letzten nationalen Bildungsstandserhebung den letzten Platz. Den Letzten – gefolgt von Baselland an zweitletzter Stelle.