27. April 2024
Lesen und Geschichte

Wer einen Schatz an Geschichten und Sachwissen hat, liest besser

Vielen Schulabgängern fällt das Lesen bereits einfachster Texte schwer, wie die PISA-Studie wieder einmal aufgezeigt hat. Dass ein Viertel unserer Schuljugend schlechte Karten für das Erlernen einer ganzen Reihe von Berufen hat, ist ein bildungspolitischer Tiefpunkt. Bei den Experten der Schulentwicklung herrscht Ratlosigkeit, weshalb sich die Lesefähigkeiten trotz aller Stützmassnahmen verschlechtert haben. Alles Mögliche und Unmögliche wird jetzt gefordert, um aus dieser Krise herauszukommen. Die Ratlosigkeit ist so gross, dass einige Bildungspolitiker als Heilmittel gar eine personalintensive Doppelbesetzung in allen Regelklassen vorschlagen. Doch Utopien helfen nicht weiter, meint Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz.

Es gilt, die Lesekrise nüchtern zu analysieren und genau zu schauen, was denn schon seit einigen Jahren schiefläuft. Sicher liegt es nicht am Engagement der allermeisten Lehrkräfte. Mit kreativen Methoden versuchen sie, auch den Schwächeren beim Lesen zum Erfolg zu verhelfen. Zu Recht beklagen sich viele, dass die unzähligen Kompetenzziele eines randvollen Bildungsprogramms eine Konzentration aufs Wesentliche erschweren. Das parallele Lernen dreier Sprachen in der Primarschule erweist sich als Hypothek, weil die Zeit fürs Üben in der deutschen Sprache fehlt. Dieses Training lässt sich auch nicht abkürzen, indem man auf eine Mehrsprachendidaktik setzt, die schwächere Kinder heillos überfordert.

Gastautor Hanspeter Amstutz

Zusammen mit den sprachfördernden Realienfächern (Natur, Mensch, Gesellschaft) muss das Fach Deutsch wieder ins Zentrum des Unterrichtsgeschehens gestellt werden. Kompetenter Deutschunterricht bietet eine Fülle an Lernmöglichkeiten und verlangt vielfältige methodische Kompetenzen der Lehrpersonen. Dazu gehören tägliches sprachliches Üben, sei es Rechtschreibung, Satzbautraining oder das inhaltliche Erschliessen von Sachtexten. Die Schriftlichkeit muss in Form von Berichten, kurzen Zusammenfassungen und Aufsätzen immer wieder trainiert werden. All das sind unverzichtbare Grundlagen, die nur mit Fleiss erarbeitet werden können.

Eintauchen in neue Lebenswelten schafft starke innere Bilder

Doch gehaltvoller Unterricht braucht “du pain et de la confiture”. Lernen soll auch Freude bereiten und die Schüler sollen den Reichtum unserer Muttersprache erleben. Und guter Deutschunterricht, nicht selten auch in Kombination mit Geschichte oder Naturkunde, bietet viel Anregendes. Spannende Erzählungen der Lehrerin lassen die Herzen der Kinder höherschlagen. Gut recherchierte Geschichten über historische Ereignisse mit anschliessenden Klassendiskussionen ziehen Jugendliche in ihren Bann. Generell beflügelt ein Unterricht mit narrativen Sequenzen ihre Phantasie und weckt literarisches Interesse. Mit dem Eintauchen in neue Lebenswelten werden starke innere Bilder geschaffen, die beim Lesen von Texten wieder wirksam werden.

Bedauerlicherweise wird in der Lehrerbildung zu wenig Zeit eingesetzt, um die Kunst des Erzählens intensiv zu fördern.

Als Gestalterin einer Geschichte kommt jeder Lehrerin eine zentrale Rolle zu. Wie sie sich in der Geschichte in die Rollen der Hauptpersonen versetzt und welche Worte sie wählt, ist für die Kinder sehr prägend. Das sprachliche Vorbild der Lehrerin ist wirksam, indem es den kindlichen Sprachaufbau emotional unterstützt. Bedauerlicherweise wird in der Lehrerbildung zu wenig Zeit eingesetzt, um die Kunst des Erzählens intensiv zu fördern. Offenbar erachtet man es als wichtiger, wertvolle Ausbildungszeit in Abhandlungen über didaktische Modeströmungen zu investieren. Zum Glück schafft es manche Lehrerin, später aus eigener Initiative einen Weg zum erfolgreichen Erzählen zu finden. Umso schöner ist es zu sehen, was anregende Geschichten auslösen können, wenn ganze Schulklassen durch freiwillige Lektüre auf literarische Entdeckungsreisen gehen.

Realienstunden sind eine attraktive Art der Sprachförderung

Leider wird diese Lesefreude durch die stundenlange Bildschirmzeit vieler Kinder oft massiv gestört. Erschöpft von den Kurzfutter-Informationen auf ihren elektronischen Geräten, nimmt die Aufnahmefähigkeit der Kinder für längere Lektüre rasch ab. Diese unerfreuliche Entwicklung ist nicht nur bei Schülern aus der Unterschicht zu beobachten. Die Schule wird nicht darum herumkommen, die Eltern beim Umgang ihrer Kinder mit den digitalen Geräten viel stärker an ihre erzieherische Verantwortung zu erinnern. Sonst läuft die Schule Gefahr, bei der Leseförderung Sisyphusarbeit zu verrichten.

Leicht geht vergessen, dass die attraktivste Art der Sprachförderung häufig in den Realienstunden geschieht. In diesen Lektionen wird ein Stück Welt ins Schulzimmer geholt. Wo ein vom Thema begeisterter Lehrer einen Sachverhalt erklärt, sind die Schüler fasziniert und bereit zu lernen. In solchen Stunden bietet sich die Chance, auch sprachlich verschlossene Buben aus der Reserve zu locken. Auf einmal ist ein präziser Wortschatz nützlich, wenn es darum geht, die Funktion eines Elektromotors den Mitschülern zu erklären. Bei der Bauanleitung für den Motor merken alle, wie wichtige gewisse Schlüsselbegriffe sind.

Die populäre, aber falsche Behauptung, dass der Erwerb von Wissen im Internetzeitalter eine Zeitverschwendung sei, hat in der Pädagogik leider eine unsägliche Verwirrung ausgelöst.

Je anspruchsvoller die Texte sind, desto mehr spielt fachliches Vorwissen eine zentrale Rolle. Wir alle wissen aus Erfahrung, dass es schwierig ist, einen Text aus einem inhaltlich wenig bekannten Bereich zu entziffern. Jugendliche verstehen einen Bericht über eine Herzoperation viel besser, wenn sie bereits Grundkenntnisse über Bau und Funktion des Herzens haben. Ihr neuronales Netzwerk an gespeicherten Wissenselementen hilft ihnen beim Lesen und ist effizienter als beim Arbeiten mit dauernden Suchanfragen im Internet. Die populäre, aber falsche Behauptung, dass der Erwerb von Wissen im Internetzeitalter eine Zeitverschwendung sei, hat in der Pädagogik leider eine unsägliche Verwirrung ausgelöst.

Schlüsselfunktion für verstehendes und kritisches Lesen

Die Bedeutung eines attraktiven Realienunterrichts für das Allgemeinwissen und den Spracherwerb kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dies gilt besonders für den Geschichtsunterricht, wo Grundfragen unserer Gesellschaft zur Sprache kommen und kritisches Denken einen hohen Stellenwert hat. In Zeiten von fake News leistet das Fach einen wertvollen Beitrag an Aufklärung, indem das Spiel der politischen Interessen in verschiedenen Epochen aufgedeckt wird. Lebendiger Geschichtsunterricht bietet die Chance, zweckgerichtetes menschliches Handeln im gesellschaftlichen Rahmen zu erklären. Das Fach schliesst eine Lücke in der Medienkunde und legt den Boden für politisches Verstehen. Es ist deshalb schwer verständlich, dass dieses wichtige Fach aktuell ohne klares inhaltliches Profil und mit reduzierter Lektionenzahl auskommen muss.

Deutsch und die Realienfächer haben eine Schlüsselfunktion für verstehendes und kritisches Lesen. Diese Fächergruppe verdient eine umfassende Aufwertung in der Lehrerbildung und im Rahmen des Lehrplans. Der zentrale Auftrag der Volksschule im Lesen und in der grundlegenden Kulturförderung kann nur erfüllt werden, wenn die Gewichte klar zugunsten des Deutsch- und Realienunterrichts verschoben werden.

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Ein Kommentar

  1. Nach dieser Art von Artikel hat es mich schon länger “gedürstet” – besonders aber jetzt, nach dem Bekanntwerden der neusten Pisa-Ergebnisse. Herzliche Gratulation, Herr Amstutz! Sie haben es auf den Punkt gebracht. Dieser Text sollte Grundlage jedes PH-Lehrganges sein, sollte “auseinandergenommen”, analysiert und konkretisiert werden. Nicht “Doppellehrer”, nicht Tablets, nicht mehr Sprachen, nicht mehr Vorgedrucktes mit Lücken zum Ausfüllen vermitteln Wissen. Das Lesen, Schreiben und Entdecken von Inhalten tut es. Unsere Kinder sollten nicht einem “Sprachbad” ausgesetzt werden (das sowieso bloss ein Rinnsal ist), sondern einem Lese- und Schreibbad. Das aber richtig. In der Schule und zuhause.
    Gefragt ist eine robuste Grundlage. Und da verhält es sich wie mit allem: Üben, üben, üben – im Gegensatz zum vielleicht eher langweiligen Tonleiter-Üben am Instrument bereitet das Üben in Form von Lesen sogar noch Freude – die Erfolge stellen sich innert weniger Monate ein.
    Wir bräuchten in unserer Gesellschaft aber ein anderes Verständnis von Disziplin. Als George Bush proklamierte “No child left behind” war dies – im Rückblick – der Moment, als in einem Grossteil der westlichen Hemisphäre die Kinder noch mehr zurückgelassen wurden. Mit einem “die Kinder wissen schon, was gut für sie ist, wenn sie sich nicht anstrengen mögen” haben wir es zugelassen, dass viele Kinder um eine echte Auswahl beraubt wurden. Wir haben Lehrpläne geschaffen, die keinen Raum mehr für echtes Lernen bieten, die “das Kind mit dem Bad ausschütten” – womit wir wieder beim Bad wären. Doch dies gilt es zu korrigieren.

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