28. April 2024
PISA 22

Die Pisa-Hysterie muss aufhören

Die Pisa-Studie sorgt wieder einmal für Aufregung: Ein Viertel der Schweizer Jugendlichen kann laut Pisa einen Text nicht lesen und verstehen – und das, obwohl die Schweiz sehr viel für Bildung ausgibt. In Deutschland herrscht Heulen und Zähneklappern ob der noch viel schlechteren Ergebnisse. Zu Recht? Margrit Osterloh mahnt im Nebelspalter zur Gelassenheit.

Zunächst einmal sollte man die Pisa-Studie ihrerseits einer kritischen Evaluation unterwerfen: Erfassen die Testbatterien wirklich die Bildungsleistung im Sinne der Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Leistung für die Gestaltung des eigenen Lebens und der gesellschaftlichen Zukunft eines Landes? Kann man Bildung auf die Bereiche Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften beschränken? Ist es sinnvoll, auch im Bildungsbereich den “Kult des Allesmessens” zu zelebrieren nach dem Motto “Wir wissen es nicht, aber wir können es messen”?

Gastautorin Margrit Osterloh

Die daraus resultierenden Ranglisten haben grossen Unterhaltungswert, gleichgültig, ob es sich um Fussball-Leagues, die Zufriedenheit mit Ärzten oder Rankings von Universitäten handelt. Der metrischen Erfassung aller Aspekte des menschlichen Lebens. können sich auch diejenigen nicht entziehen, die diese Entwicklung kritisch sehen, zum Beispiel viele erfahrene Pädagogen. Wie soll sich ein Schulsystem neuen Anforderungen wie der Integration des steigenden Anteils an Schülern mit Migrationshintergrund anpassen, wenn es permanent von neuen Test- und Ranking-Wellen überrollt wird?

Eine neue Studie zur Glücksforschung weist einen weiteren, überraschenden Aspekt auf: Längst ist bekannt, dass Glück bzw. Lebenszufriedenheit mit dem Einkommen wächst: Je wohlhabender ein Land ist, desto glücklicher sind im Allgemeinen die Bürger. Nun zeigt sich aber, dass dies nicht für die Jugendlichen in Ländern mit mittlerem und hohem Wohlstand gilt: Je reicher diese Länder sind, desto geringer ist die Lebenszufriedenheit der Jungen [1]. Was ist der Grund? Viele unserer 15 -jährigen stehen unter einem ständigen Druck zu schulischen Höchstleistungen, verstärkt noch vom Druck auf die Lehrer und Lehrerinnen, im Pisa-Wettbewerb gut abzuschneiden.

Der schulische Stress beeinträchtigt das spätere Leben

In vielen OECD-Ländern sitzt ein hoher Anteil der Schüler und Schülerinnen länger in der Schule und an den Hausaufgaben als die Erwachsenen im Büro. In England bringen 11 Prozent der 15-Jährigen 60 Stunden pro Woche mit Lernen zu, in Spanien 16,5 Prozent und in Südkorea gar 23 Prozent. Der schulische Stress beeinträchtigt nicht nur ihre Lebenszufriedenheit, sondern – auch das zeigt die Glücksforschung – ihr späteres Leben. Längsschnittstudien weisen darauf hin, dass die Lebenszufriedenheit während der Adoleszenz mit der mentalen Gesundheit, dem Einkommen und  der Vermeidung von Arbeitslosigkeit  im Erwachsenenleben korreliert. Dieser Effekt ist für Mädchen deutlich höher als für Buben, weil Mädchen auf Wettbewerb im Durchschnitt negativer reagieren. Insgesamt weist dieser Effekt auf erhebliche “mentale Kosten” unseres Wohlstandes hin, der in eine ökonomische Analyse der Bildung einbezogen werden sollte.

Nicht für jede erfolgreiche berufliche Ausbildung sind Höchstleistungen im Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften wichtig, sondern Disziplin, Ausdauer, Verlässlichkeit, Umsicht und kollegiales Verhalten.

Was tun? Die schulischen Anforderungen generell verringern, um den Schulstress abzubauen? Damit werden wir kaum den steigenden Anforderungen der Wissensgesellschaft und der internationalen Konkurrenz gerecht. Die “mentalen Kosten” der Wissensexplosion lassen sich aber reduzieren, wenn man den unbarmherzigen Wettbewerb im Bildungssystem und gleichzeitig um Pisa-Punkte reduziert. Das gelingt dadurch, dass man Kooperation der Schülerinnen und Schüler durch Teamarbeit im Klassenzimmer fördert. Die Lebenszufriedenheit der Jugendlichen hängt stark von ihrem Status innerhalb der Bezugsgruppe und von der Beziehung zur Lehrperson ab.

Gefangen in der Pisa-Zwangsjacke

Eine weitere wichtige Massnahme wäre, den Schulstress dadurch abzubauen, indem man das duale Bildungssystem aufwertet und damit die “Akademisierungsfalle” (Rudolf Strahm) reduziert. Nicht für jede erfolgreiche berufliche Ausbildung sind Höchstleistungen im Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften wichtig, sondern Disziplin, Ausdauer, Verlässlichkeit, Umsicht und kollegiales Verhalten – alles Lernziele, die in den Pisa-Kriterien nicht berücksichtigt werden und die sich der metrischen Messbarkeit entziehen. Gute Pädagogen wissen das längst, befinden sich aber in der Pisa-Zwangsjacke.

Eine Neujustierung der Bildungspolitik wäre deshalb gut beraten, die Pisa-Hysterie gelassen vorbeiziehen zu lassen.

 

[1] Robert Rudolf & Dirk Bethmann (2023). The Paradox of Wealthy Nations´Low Adolescent Life Satisfaction. Journal of Happiness Studies 24: 79-105.

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Wenn Überkomplexität das Entscheidende erschwert

Vorbemerkung der Redaktion: Sie lesen her eine überarbeitete Variante des Artikels von Carl Bossard. In der ersten Variante ging durch einen Übertragungsfehler das Eingangskapitel des Beitrags veloren. Wir bitten die Leserinnen und Leser um Entschuldigung.
Condoret-Autor Carl Bossard schrieb: Mit dem Lesen steht es bei den Jugendlichen nicht zum Besten. «Ein Drittel kann kurz vor dem Schulabschluss nicht richtig lesen und schreiben», verkündete ein Medienbericht vor Kurzem. Er liess aufhorchen. Lesestudien verraten die Hintergründe.

2 Kommentare

  1. Naja – alles gut und recht.
    Doch wenn ein Viertel aller Schulabgängerinnen und Schulabgänger nicht versteht, was gelesen wurde, ist das schlicht und einfach ein Versagen. Gelassenheit hin oder her.

  2. Die Argumentation von Frau Osterloh liest sich ein wenig wie folgendes: “Ein Viertel aller Leute kann die Betriebsanleitung der Kaffeemaschine zwar lesen aber versteht sie nicht. Egal, zu viel Kaffee ist ohnehin ungesund.”
    Ein Meisterstück.

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