Für Carl Bossard ist das Unterrichten eines Klassenzugs wie eine Fahrt mit einem Segelschiff über einen Ozean mit einem verheissungsvollen Ziel. Erwartungsvoll sind die Schülerinnen und Schüler in diesen Tagen an Bord gegangen. Für viele ist es ein Aufbruch zu neuen Ufern, für andere eine Weiterfahrt auf dem nächsten Abschnitt ihrer abenteuerlichen Reise. Geleitet von einem kundigen Kapitän vertrauen sie darauf, dass man den kommenden Stürmen trotzen und das Ziel erreichen wird. Eine Schulklasse als aktive Mannschaft auf einem Segelschiff, was für ein eindrückliches Bild!
Lehrerinnen und Lehrer wissen, dass eine gute Vorbereitung wichtig ist für das Gelingen des Unternehmens. Sie haben sich mit dem Schulstoff gründlich auseinandergesetzt und nehmen einen reichhaltigen Proviant auf die Fahrt mit. Die Windrichtung und die Windstärke können sie nicht beeinflussen, aber die Navigation müssen sie beherrschen und die Mannschaft durch gezieltes Training auf lebenswichtige Einsätze einspielen. Im Sinnbild des Segelns erkennt Carl Bossard ein erhebliches Spannungsfeld zwischen dem Planbaren und dem Unberechenbaren in der täglichen Unterrichtsarbeit.
Bei einem Blick auf den neuen Lehrplan hat man allerdings nicht den Eindruck, dass in der Pädagogik dem Unwägbaren genug Raum gewährt wird. Da ist alles durchgetaktet wie in einem Eisenbahnfahrplan. Nicht wie ein von der Windstärke und den Strömungen abhängiges Segelschiff, sondern wie ein schienengebundener TGV sollen die Schulklassen ihre Kompetenzziele erreichen. Diese Schnellzugsfahrten zu unzähligen Destinationen mit planmässigen Halten an Teilkompetenz-Stationen erweckt den Eindruck eines von zentralen Stellwerken gesteuerten Bahnsystems. Lehrpersonen sind dabei in den Augen mancher Bildungsplaner eher ausführende Beamte als eigenständig handelnde Persönlichkeiten.
Das überfüllte Bildungsprogramm erzeugt Hektik und untergräbt echte Bildung
Das Verkennen der schulischen Realitäten belastet unsere Schule zusehends. Der neue Lehrplan versagt als Bildungskompass, weil er durch seine Überfülle an Kompetenzzielen und inhaltlicher Beliebigkeit keine Orientierungshilfe bietet.
Die aktuelle Rhetorik von den grossen Freiheiten im Lehrerberuf tönt hohl, solange unter Bildung nur die Vorstellung von einem planmässigen Abarbeiten einer riesigen Zahl von Kompetenzzielen verstanden wird.
Solange der Mut zum Ausmisten fehlt, bleibt bei den meisten Lehrpersonen ein mulmiges Gefühl des Verpassens von Bildungszielen hängen. Es braucht keine zweite Fremdsprache in der Primarschule und viele Kompetenzziele aus dem Bildungs-Wunschbereich könnten gestrichen werden. Unterrichtende sollen sich an wesentlichen Aufträgen orientieren können, die sie auch mit schwierigen Klassen erfüllen werden. Die aktuelle Rhetorik von den grossen Freiheiten im Lehrerberuf tönt hohl, solange unter Bildung nur die Vorstellung von einem planmässigen Abarbeiten einer riesigen Zahl von Kompetenzzielen verstanden wird.
Eine gute pädagogische Beziehung benötigt Zeit
Der Gestaltungsspielraum in der Volksschule ist noch von einer anderen Seite her bedroht. Grund ist die einschneidende Doktrin mit dem Zwang zur Integration aller Schüler in Regelklassen. Wenn sich eine Lehrerin mit einem schwer störenden Schüler immer wieder beschäftigen muss, erschwert dies das Unterrichten in freieren Lernformen erheblich. Aber auch geistig behinderte Kinder, denen eine spezielle Förderung in einer Kleingruppe weit mehr Erfolg brächte, fühlen sich unwohl in Regelklassen und kommen nicht weiter. In gleich zwei Gastbeiträgen und einem Leserbrief wird die aktuelle Integrationspolitik ohne alternative Möglichkeiten scharf kritisiert. Beat Kissling hebt die Rolle der Lehrerin als Bezugsperson für jedes Kind hervor. Der Autor sieht in der verstärkten Zuwendung und der erzieherischen Arbeit den entscheidenden Faktor für den Erfolg der Integration. Das gelingt in einer Kleinklasse oft besser als in Regelklassen mit viel selbständigem Lernen.
Völlig zu Unrecht werde heute die soziale Integrationsleistung von Kleinklassen unterschätzt.
Eliane Perret wiederum befasst sich eingehend mit der Geschichte der Sonderpädagogik und weist nach, dass die sonderpädagogische Förderung wesentliche schulische Verbesserungen für benachteiligte Schüler brachte. Völlig zu Unrecht werde heute die soziale Integrationsleistung von Kleinklassen unterschätzt. Eine stark von der Biologie her geprägte Pädagogik habe mit ihrem veränderten Menschenbild die Bedeutung des Erzieherischen abgewertet. In einer Regelklasse einfach anwesend sein und uninteressiert an einem Lernprogramm teilzunehmen, bedeute nicht, dass ein benachteiligter Schüler dabei integriert wird. Manche Kinder würden in den Regelklassen im Stich gelassen, weil keine ausreichenden Betreuungsverhältnisse vorhanden seien. Auch da wäre ein unbefangener Blick auf die Schulrealität dringend nötig.
Ein eindrückliches Bild von den möglichen Freiheiten eines Lehrers zeigt ein Interview in der NZZ mit einem Mathematiklehrer einer Mittelschule. Da wird gründlich aufgeräumt mit der Vorstellung, dass die Menge der abgearbeiteten Kompetenzen ein Massstab für guten Unterricht sei. Der Lehrer betont, bei jedem Thema müsse man sich vergewissern, dass die mathematischen Grundlagen wirklich vorhanden seien. Dafür müsse man sich in jedem Fall Zeit nehmen und die Lernknoten auflösen. Wenn die Schüler dort abgeholt werden, wo sie in ihrem Mathematikverständnis stehen, verschwinden die Blockaden bald einmal und es öffnen sich für alle weite Türen. Dabei soll ein Lehrer den Mut haben, sich beim Schulstoff auf die wesentlichen Themen zu konzentrieren. Schade, dass wir nicht erfahren, was dieser erfolgreiche Mittelschullehrer über den Lehrplan der Volksschule denkt.
Kritische Gedanken zu trendigen Reformen und einem unsinnigen Vorhaben
Wer sich gerne kritisch mit trendigen pädagogischen Strömungen befassen möchte, wird bei zwei weiteren Beiträgen von Eliane Perret auf seine Rechnung kommen. Im ersten setzt sich die Autorin mit internationalen Studien über das digitale Lernen am Bildschirm auseinander.
Aufgrund der vorwiegend negativen Studienergebnisse haben verschiedene europäische Regierungsstellen zur Zurückhaltung bei der schulischen Digitalisierung aufgerufen. Im zweiten Beitrag nimmt Eliane Perret den 400-seitigen Schweizer Bildungsbericht unter die Lupe. Sie stellt fest, dass der Bildungsdampfer Schweiz arge Schäden aufweist. Obwohl diverse gravierende Mängel im Bericht genannt werden, kommen aus dem Kreis untersuchenden Wissenschafter keine überzeugenden Vorschläge zur gründlichen Revision des Dampfers. Vielleicht müsste man einen neuen bauen, meint die Autorin.
Zum Schluss noch ein kleiner Paukenschlag. Offenbar haben gewisse Politiker noch immer nicht gemerkt, dass die Schule keine neuen unsinnigen Reformen mehr braucht. Nur so ist es zu erklären, dass in der Stadt Zürich die Primarschule nach den Zyklen des Lehrplans auch organisatorisch umgekrempelt werden soll. Worum es dabei geht, lesen Sie in einem Bericht des Tages-Anzeigers und in der saftigen Antwort eines Leserbriefschreibers.
Wir von der Starken Volksschule Zürich sind auf jeden Fall interessiert, den Dampfer Volksschule ozeantauglich zu machen und nicht länger orientierungslos auf Fahrt zu schicken.
Für das Redaktionsteam
Hanspeter Amstutz