16. Oktober 2024
Spektakuläre Berufswahlkunde

Die 8B und die Liebe zum Kebab

Die Junglehrerin Rebecca Schär – sie wurde auf diesem Blog bereits einmal als PH-Studentin interviewt (https://condorcet.ch/2020/12/interview-mit-einer-ph-studentin-habe-mir-den-beruf-nicht-so-cool-vorgestellt/) – startet zum Beginn der Berufswahlkunde mit ihrer Klasse ein mutiges und spektakuläres Projekt. Ihre 8.-Klässler übernahmen kurzerhand eine grössere Kebabbude im Bahnhofquartier von Biel. Ihr ehemaliger Mentor, Condorcet-Autor Alain Pichard, liess sich mit Freunden von den Kids bewirten.

«Am Mittag war viel Betrieb, die Mittagsgruppe hat das aber gut hingekriegt», sagte die leicht nervöse Klassenlehrerin Rebecca Schär, welche den Schulunterricht für eine Woche in ein Kebab-Imbiss verlagerte. Sie wohnt gerade um die Ecke. In ihrer Wohnung sitzen derzeit vier Schülerinnen – es handelt sich um die Bürogruppe – und kalkulieren die Einnahmen, berechnen Bestellungen und machen natürlich eifrig Werbung für ihr Projekt. Rebecca Schär ist eine Art Stammkundin dieses Restaurants. Die Vegetarierin schätzt die Qualität des berühmten Haloumi-Dürüms und der Falafels sowie die Freundlichkeit des Besitzers. Die aktive Eishockey-Spielerin kommt des Öfteren spät nach dem Training nach Hause und da sei ein kleiner Imbiss Abstecher im «City-Food» ab und zu im Programm. Doch wie kam sie auf die Idee, diesen Laden mit ihren Schülerinnen und Schülern zu übernehmen?  «Im OSZ-Orpund, (ihre Schule) haben die Schülerinnen und Schüler bereits einmal vor Corona das Hostel «Lago Lodge» für eine ganze Woche übernommen mit grossem Lerneffekt und viel Freude. Da sagte ich mir, dass wir das doch auch machen könnten!»

Alain Pichard: Die Schüler haben etwas gelernt
Rebecca Schär, Klassenlehrerin: Am Schluss dieser Woche bin ich ein Kebab.

Rebecca Schär fragte zuerst den Besitzer, Huseyn Sar, ob dieser sich vorstellen könnte, seinen Betrieb einer 8. Klasse für eine Woche zu übergeben. Huseyn Sar, kurdischer Türke, war von Anfang an begeistert und sagte zu. Danach galt es die Einwilligung der Schulleitung einzuholen, sowie das Klassenteam um Unterstützung zu bitten. Die Schulleitung war ohne Problem dabei. Und auch das Klassenteam half tatkräftig bei den Vorbereitungen mit. Die Werklehrerin betreute die Jugendlichen beim Bedrucken der T-Shirts mit Namen und Logo und eine weitere Lehrperson half beim Bauen der Holz-Schilder für den Eingangsbereich. Eine Mutter half, die leckeren Baclavas, welche die Schülerinnen den Gästen nach erfolgter Konsumation auftischen konnten, zu backen.

Viele Eltern sagten zu, dass sie mit ihren Freunden und Verwandten vorbeikommen würden. Huseyn Sar, der die Kids in einem Schnellkurs schulte, ist des Lobes voll: «Die Jungen haben schnell gelernt. Natürlich fehlt ihnen noch das Tempo und die Routine.  Aber die Dürüms werden sehr gut präpariert und eingepackt. Für mich ist das eine «win-win-Situation». Es kommen viele Gäste, die sonst nie das City-Food betreten würden. Und wer weiss, vielleicht kommen sie ja wieder.»

 

City Food befindet sich an zentraler Lage

Huseyin Sar, Besitzer des City Food: Ich arbeite gern mit diesen jungen Menschen.

Ein besonderer Umstand beschert Huseyn Sar noch weitere Kundschaft. Sein Restaurant befindet sich in der Nähe des Bahnhofs und vor der Bushaltestelle der Meinisberger-Linie. Genau dieser Bus bringt viele Ex-Schülerinnen und -Schüler – inzwischen Lehrlinge oder Gymnasiastinnen – nach Ende der Schule in ihre Gemeinden. Sie sehen ihre ehemaligen jüngeren Mitschülerinnen und kommen spontan in das Restaurant.

Die Schüler arbeiten in Schichten, die immer 4 Stunden dauern. Es gibt eine Servicegruppe, eine Kochgruppe, Medienarbeitende, eine Einkaufs- und Finanzabteilung und eine Putzequipe. «Das Putzen machen sie wirklich sehr gut», freut sich Huseyn Sar, «und es ist wirklich streng, denn mein Restaurant wird natürlich vom Lebensmittelinspektorat kontrolliert.»

Wie steht es mit dem Lohn, wollte ich wissen. Rebecca Schär: «Wir haben andere Ziele. Die Schüler erfahren konkret, was es heisst, in einem Restaurationsbetrieb zu arbeiten. Sie arbeiten als Team zusammen, werden gefordert und müssen auch unter Stress cool bleiben. Wir stellen ein kleines Klassenkässeli auf, da können die Besucher, wenn sie wollen und zufrieden sind, uns einen kleinen Zustupf geben. Ansonsten sind wir hier, um herauszufinden, wo unsere Stärken und Schwächen sind und was wir für Ansprüche an unseren künftigen Beruf haben».

Der Stress zu den Stosszeiten machte uns Mühe

Die Schülerinnen und Schüler haben sichtlich Spass an dieser Woche. Neel, der für den Service verantwortlich ist, bedient die Gäste wie ein Profi, aufmerksam, freundlich und immer fragend, ob man noch etwas möchte. Philippa entpuppt sich als wahrer Putzteufel. Levy und Mila kommen aus dem Büro mit den neusten Flyern. Es herrscht ein Kommen und Gehen. «Wenn die Leute am Mittag kommen, wird es streng»,

Philippa erwies sich als wahrer Putzteufel.

Elowan: Zu Hause putze ich nicht so gerne.

meint Elodie, welche an der Theke arbeitet und die Dürüms und Co. vorbereiten muss. Der Stress in den Rushhours sei denn auch die grösste Herausforderung, meint Tonja. Da gäbe es Momente, die ihr nicht gefallen, aber das sei ja wohl auch ein Teil des Projekts, fügte sie hinzu. Elouan hilft im Service und wäscht das Geschirr ab. Zu Hause tue er das nicht gerne, hier gefällt es ihm. Überhaupt hat er ein Auge für anstehende Aufgaben und hilft aus, wenn Not am Mann ist. Ahmed, der im Service arbeitet, ist offensichtlich für die gute Laune zuständig. Seine Fröhlichkeit weht durch alle Ecken des Restaurants. Elodie meint, dass die 4 Stunden gut seien. Am Mittag könnte sie ohne Weiteres länger arbeiten, am Abend sei sie froh, wenn sie nach Hause gehen könne.

Die Schulleiterin Nadine Streit liess es sich nicht nehmen mit ihrer Familie im City Food Mittag zu essen. Für einmal etwas ganz Neues, meinte sie verschmitzt. Sie gab die Bewilligung, ohne zu zögern. Einziger Wermutstropfen: das Tempo bei der Zubereitung der Waren. Während den Stosszeiten bildeten sich Schlangen, was einzelne Kunden dazu bewog, zu einem anderen Kebab-Imbiss zu gehen. «Ich habe am Mittag einfach nicht so viel Zeit», meinte eine Verkäuferin, welche sich jeweils am Mittag ein Sandwich holt. Aber schon am 3. Tag gelangen die Handgriffe geschickter, wurde die Zubereitung geübter, lief die Ausgabe flinker.

Am dritten Tag wurden die Handgriffe flinker.

Ich verlasse das Restaurant mit einem etwas wehmütigen Gefühl. Die Schülerinnen und Schüler der 8b werden am Schluss der Woche viel gelernt haben. Und Junglehrerinnen wie Rebecca Schär bestätigen mit ihren innovativen Ideen eine Weisheit des verstorbenen Buchautors Remo Largo: «Wo Schule schön ist, ist sie ein Geschenk an das Leben.»

Reportage des Lokalradios canal3

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Ein Kommentar

  1. Danke für diesen Bericht!

    In Nordrhein-Westfalen sieht Berufswahlkunde anders aus: von oben verordnet und bürokratisch. (Siehe meinen Beitrag “Studien- und Berufsorientierung ballaballa”[*].) Da ist es — zugespitzt formuliert — die Hauptaufgabe von Klassenlehrern, Anmeldebögen für Berufspraktika einzusammeln…

    Wo Schule nicht schön ist, ist das Leben gefährdet…

    Viele Grüße aus Nordrhein-Westfalen in die Schweiz!

    [*] https://schule.roentgen24.eu/2020/studien-und-berufsorientierung-ballaballa/

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