Auf der diesjährigen Didacta in Köln konnte man sich vorkommen wie auf einer Computermesse, etwa der früheren Cebit. Überall wurde von digitalen Geräten, von der Digitalisierung, von der digitalen Bildung, von der Digitalität usw. geredet, man wurde geradezu aufdringlich mit Reklame in dieser Richtung überschüttet. Eine seelenlose “Apparate-Pädagogik” einer neuen “Bildungsindustrie” scheint sich breit zu machen und wird als die Lösung aller wichtigen Probleme angepriesen. Geschäftemacher von neuen Start-Up-Unternehmen wittern dabei eine gewisse Goldgräberstimmung. Wer da nicht so recht mitmachen will, der ist ein ewig Gestriger und “verschläft” die Entwicklung.
Meine Motivation für einen Besuch war eine ganz andere: Ich wollte Schulbücher ansehen und vergleichen. In früheren Jahren war eine ganze Halle mit Tischen gefüllt, auf denen die Verlage ihre Bücher zur Ansicht bereit hielten. In diesem Jahr waren nur noch ganz weniger Bücher zu sehen. Jetzt ist alles digital. Dafür gab es eine neue “Schulleitungsstudie”, die von einem Forschungsinstitut unter Leitung von Prof. Hurrelmann durchgeführt und auf der Didacta mit einer Podiumsdiskussion gewissermaßen “geadelt” wurde. Die Ergebnisse kann man hier in Kurz- und Langversion ansehen:
So nebenbei erfährt man im Vorwort, dass Herr Hurrelmann – aus einfachen Verhältnissen stammend – von seiner Grundschule ausdrücklich ans Gymnasium empfohlen wurde, dass er dort aber Schwierigkeiten mit seinen lieben Mitschülern bekam. Aber ist Mobbing unter Schülern nicht weit verbreitet und keineswegs eine Spezialität der Gymnasien? Was sagen die Schulreformer dazu?
Der Lehrermangel und der bauliche Zustand der jeweiligen Schule waren nicht dabei, die Größe der Schulklassen auch nicht.
Inwieweit die Befragung tatsächlich repräsentativ war, mag jeder selbst beurteilen. Jedenfalls wurden zahlreiche Schulleitungen zu jenen Themen befragt, die man offenbar für besonders wichtig hielt. Der Lehrermangel und der bauliche Zustand der jeweiligen Schule waren nicht dabei, die Größe der Schulklassen auch nicht. Aber natürlich war die Chancengleichheit ein wichtiges Thema, wie könnte es anders sein. Sie wird als ein “zentrales Betätigungsfeld von Schulleitungen” bezeichnet.
In der Kurzversion heißt es: “97 % der Schulleitungen sehen die Ermöglichung von Chancengleichheit als eine zentrale Aufgabe von Schule an.” Wobei “Ermöglichung von Chancengleichheit” eine seltsame, typisch halbherzige Formulierung ist, denn das Gegenteil wäre ja, die Chancengleichheit unmöglich zu machen, ein offensichtlicher Unsinn, den wohl niemand für richtig halten dürfte.
In der Langversion sieht das in Abb. 11 auf S. 42 etwas anders aus. Da wurden den Befragten zum Thema “Sehen Sie eine Verschärfung von Bildungsungleichheiten durch die verschiedenen Schulformen?” 10 Antworten vorgelegt, von denen sie sich genau eine aussuchen sollten. Die am meisten (von 37 %) gewählte Antwort lautete: “Nein, die Verschärfung von Bildungsungleichheiten entsteht nicht durch die verschiedenen Schulformen, sondern dadurch, dass Schüler:innen, die besondere Unterstützung benötigen, diese nicht ausreichend bekommen.” Mit 20 % als zweite genannt wurde die Antwort: “Ja, deshalb bin ich für ein integrierendes Schulsystem, in dem alle Kinder bis zum jeweiligen Abschluss ganztägig gemeinsam lernen.”
Ganz besonders scheint den Leitern der Studie der Fächerkanon zu missfallen, denn sie zitieren einen Schulleiter mit den Worten “Die Schule ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen.”
Die 97 % entstammen der Feststellung “Schule soll die Chancengleichheit aller ermöglichen” mit Zustimmungwerten wie “Trifft voll und ganz zu”, was 79 % ankreuzten, bzw. “Trifft eher zu”, was 18 % ankreuzten. Nicht gefragt wurde dabei, ob diese “Ermöglichung” von Chancengleichheit für alle etwa durch anderweitige Nachteile erkauft werden solle oder müsse. Eine Abwägung verschiedener konkurrierender Ziele fand nicht statt. Man hätte auch schärfer fragen können, welche Priorität die Chancengleichheit im Kontext anderer Ziele haben solle, denn ob alles miteinander problemlos kompatibel ist, das kann man sehr wohl mit einem Fragezeichen versehen. Da gibt es z.B. die Feststellung “Schule soll die Bildung, das Lehren und das Lernen an Digitalität ausrichten” mit eher geringen Zustimmungswerten. Digitalität = Chancengleichheit?
Ganz besonders scheint den Leitern der Studie der Fächerkanon zu missfallen, denn sie zitieren einen Schulleiter mit den Worten “Die Schule ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Das liegt an dem tradierten System, das schon lange nicht mehr aktuell ist. Der Fächerkanon ist doch der Wahnsinn. Die Lehrer:innen haben die Aufgabe, arbeitsgleich zu unterrichten. Das interessengeleitete und
individualisierte Lernen steht nicht im Vordergrund, sollte es aber.” (Kurzversion Seite 13, Langversion Seite 62)
Und dann bevorzugen 51 % das projektorientierte Lernen als jenen Aspekt, der über den Fächerkanon hinausgehen soll.
Sagte nicht Herr Precht Ähnliches? Wie dieses “interessengeleitete und individualisierte Lernen” mit der allgegenwärtigen Forderung nach der bundesweiten Vergleichbarkeit von Abschlüssen kompatibel sein soll, wird auch nicht angedeutet. In der Kurzversion heißt es dann auch, dass 82 % der Befragten sich für eine Überarbeitung des Fächerkanons aussprechen. In der Langversion gab es vier mögliche Antworten auf die Frage “Braucht es einen veränderten Fächerkanon?”, und zwar sagten 47 % “Ja, es braucht ein anderes Zusammendenken von Fächern”, 24 % sagten “Ja, es braucht einen fächerübergreifenden Unterricht”, und nur 11 % meinten “Ja, es braucht neue Fächer”. Und dann bevorzugen 51 % das projektorientierte Lernen als jenen Aspekt, der über den Fächerkanon hinausgehen soll. So besonders originell ist das nicht. Gibt es nicht längst Projektwochen an den Schulen?
Seitenhiebe auf das traditionelle Bildungsverständnis
So ganz nebenbei gibt es Seitenhiebe auf das, was als “traditionelle Bildung” angesehen und wohl mit dem Philologenverband in Verbindung gebracht wird: “Alle müssen sich durch Latein quälen, dabei haben sie vielleicht ganz andere Interessen und Fähigkeiten. Ich wünsche mir, dass der Fokus des Gymnasiums noch mehr auf das gerichtet ist, was auf die Berufswelt vorbereitet. Die Schüler:innen müssen wissen, wofür es wichtig ist, bestimmte Dinge zu lernen, z.B. Mathe für das Ingenieurwesen.” (Langversion Seite 47)
Na hoffentlich erhöht “Mathe für die Berufswelt” dann künftig die Zahl der Ingenieure. Kurioserweise erinnert das an die Diskussion Ende des 19. Jahrhunderts, als an Gymnasien tatsächlich noch Latein und Griechisch Pflicht waren und sehr wichtig genommen wurden. Als Kontrastprogramm gründete man dann die Realgymnasien, in denen es eher um Dinge wie “Mathe für das Ingenieurwesen” oder Naturwissenschaften ging.
Spötter könnten jetzt ähnlich formulieren: “Alle müssen sich in der 9. Klasse durch Berufspraktika quälen, obwohl sie vielleicht doch nach dem Abitur studieren wollen.”
Aber heute noch zu behaupten, “alle müssen sich durch Latein quälen”, ist doch nun wirklich Unsinn. Lateinunterricht ist eine freiwillige Option geworden und kann entweder als 1., als 2. oder auch als 3. Fremdsprache gewählt oder eben ganz gemieden werden. Auch einige Gesamtschulen bieten Latein an. In einschlägigen Studiengängen muss das Latinum auch nicht mehr vor Studienbeginn nachgewiesen werden, es genügt, wenn es während des Studiums erworben wird und bis zum Beginn des Masterstudiums vorliegt. Selbst Latein kann man heute studieren, ohne ein Latinum aus der Schule mitzubringen, was auch wieder eine Kuriosität ist.
Spötter könnten jetzt ähnlich formulieren: “Alle müssen sich in der 9. Klasse durch Berufspraktika quälen, obwohl sie vielleicht doch nach dem Abitur studieren wollen.”
Aber das praktische Leben zieht sich auch durch diese Schulleitungsstudie. In der Kurzversion heißt es “93 % wünschen sich, dass im Unterricht mehr Lebenskompetenzen vermittelt werden.” Und die werden dann auch alle “digitalisiert” angeboten? Seit 2000 Jahren wird das “Non scholae, sed vitae discimus” (oder auch das Umgekehrte) diskutiert. Jetzt wird das auch noch in Weinerts Kompetenz-Definition gepresst, die bekanntlich als Kompetenz solche Fähigkeiten bezeichnet, die zur Lösung bestimmter Probleme dienen.
Also: Das ganze Leben ist ein einziges Problem, da brauchen wir jetzt zahlreiche Lebenskompetenzen, um es zu bewältigen, und das eigentlich schon von Geburt an, nicht erst in der Schule. Bekanntlich dient ja auch die Kita heute dem Erwerb von Kompetenzen. “Ernährung” und “Gesundheit” wurden ja schon als Schulfächer vorgeschlagen, das “digitalisierte Kochen” wird vielleicht noch zu einem Schlager, und die “Elternkompetenz” ist auch eine Möglichkeit für die 14-Jährigen, sich schon in der Schule auf ihre künftige Rolle als Eltern vorbereiten, um die jetzt immer mehr konstatierten Erziehungslücken im Elternhaus wieder zu vermeiden. Wie die oft postulierte “sexuelle Diversität” dazu passt, das muss dann noch geklärt werden.
“Ich sehe einen zunehmenden Verlust von Erziehungsqualität in den Elternhäusern. Die Schule muss immer mehr kompensieren.” Also: Her mit dem Schulfach “Eltern sein, Kinder erziehen” mit kompetenzorientierten Bildungsplänen dafür, unterstützt durch digitalisierte Apps.
Diese Lücken verschweigt auch diese Studie nicht: “Ich sehe einen zunehmenden Verlust von Erziehungsqualität in den Elternhäusern. Die Schule muss immer mehr kompensieren.” (Kurzversion Seite 8) Also: Her mit dem Schulfach “Eltern sein, Kinder erziehen” mit kompetenzorientierten Bildungsplänen dafür, unterstützt durch digitalisierte Apps. So theoretisch-abgehobene Dinge wie Mathematik und Fremdsprachen müssen dann halt gekürzt werden.
Digitalität, Heterogenität, Inklusion, Demokratieerziehung, individualisiertes Lernen, interessegeleitetes Lernen, projektorientiertes Lernen, Einführung innovativer und visionärer Ideen, Lebenskompetenzen, multiprofessionelle Teams, Chancengleichheit, Qualitäts- und Schulentwicklung und vieles mehr.
Fazit: Es ist die Frage, ob das alles nicht doch ein eher populistischer Versuch ist, für die zweifellos bestehenden Probleme einfache Lösungen zu suggerieren, die mit zahlreichen Schlagworten daherkommen und “von oben”, also von der Schulleitung aus durchgesetzt werden sollen:
Digitalität, Heterogenität, Inklusion, Demokratieerziehung, individualisiertes Lernen, interessegeleitetes Lernen, projektorientiertes Lernen, Einführung innovativer und visionärer Ideen, Lebenskompetenzen, multiprofessionelle Teams, Chancengleichheit, Qualitäts- und Schulentwicklung und vieles mehr.
Die Schulleistungstests des sog. “Monitorings” zeigen bislang nicht klar, was sich verbessert hat.
Was offenbar fehlt, sind konkrete Vorschläge, WIE das alles erreicht werden kann, und zwar verbunden mit einer tatsächlich feststellbaren Verbesserung gegenüber dem Ist-Zustand. Mit Verschlimmbesserungen ist niemandem gedient, die hatten wir schon reichlich. Die Schulleistungstests des sog. “Monitorings” zeigen bislang nicht klar, was sich verbessert hat. Es geht auf und ab.
WIE der Fächerkanon ggfs. verändert werden soll, dazu wurde nichts Konkretes gesagt. Und die Systemfrage nach der Einführung einer einheitlichen Schule wurde nicht ernsthaft gestellt, obwohl die selbstverständlich als der “weiße Elefant” immer im Raum steht. Nur 20 % der Befragten waren Schulleiter von Gymnasien, die hätte man mit den anderen 80 % niederstimmen können. Das aber geschah nicht. Auf Seite 42 heißt es, dass sich 13 % der Schulleitungen ein längeres gemeinsames Lernen vorstellen können. Mehr nicht?
So kann es uns vielleicht trösten, dass die Probleme so kompliziert und in sich auch so widersprüchlich sind, dass die einfachen Lösungsvorschläge dann doch nicht greifen und dass somit auch der Glaube an die Allmacht der genannten Schlagworte sinken wird. Vielleicht geht es irgendwann auf der Didacta auch wieder um die Kinder als Menschen und weniger um die Digitalität.
In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag
Wolfgang Kühnel
Tja die Schulleitenden. Ein Konglomerat aus Möchtegernmanager und pädagogischen Versagern. Deshalb auch die Widersprüche. Fehlende individuelle Förderung wird reklamiert und gleichzeitig wird für die Lehrpersonen auf arbeitsgleichem, schemenhaftem Vorgehen beharrt.
Ewiggestrig sind vor allem diejenigen, die meinen, uns Lehrpersonen um Lichtjahre voraus zu sein. Aber Hauptsache woke. Die Schule zwischen Mobbingprävention und sexuell progressiver Aufklärung. Der Rest dazwischen ist egal, aber digital.
Meine Empfehlung: Back to the future!
Herrn Kühnels launiger Kommentar zur Hurrelmann-Studie zeigt auf, in welchem Zirkelschluss sich Bildungspolitik befindet (was nicht nur für Deutschland gilt!): Schulleitungen werden tendenziös so befragt, dass genau die Antworten favorisiert werden, die wirtschaftlichen Interessen (IT-Branche) dienen oder ideologielastigen Moden (Abschaffung der Fächer, Chancengleichheit, Berufsbezogenheit) aufsitzen. Aussen vor bleibt die Antwort auf die Frage, inwiefern denn Digitalisierung, Abschaffung der Fächer, Berufsbezogenheit das Lernen verbessern und Chancengleichheit herstellen können. Die erhoffte Wirkung wird einfach einmal behauptet bar jeder Evidenz, dass solche Massnahmen den erwünschten Effekt auch herbeiführen. Bildungspolitik bleibt damit eine utopische Veranstaltung, die mit dem Krückstock im Nebel stochert. Die Frage, worauf Mängel wie ungenügende schulische Kenntnisse, Chancenungleichheit, geringe Lernerfolge tatsächlich zurückzuführen sind, damit schulische und ausserschulische Massnahmen gezielt zur Behebung der Schwachstellen ergriffen werden können, scheint gar nicht zu interessieren.