23. November 2024

Das Wunder der Volksschule – sie hält sich … noch.

Condorcet-Autor Alain Pichard hält unsere Volksschule nach wie vor für ein Erfolgsmodell und nennt in seinem Text die Indikatoren. Er sieht aber auch dunkle Wolken am Horizont. Dass es immer noch recht gut stehe, verdanke die Schweiz dem Föderalismus und der Mehrheit seiner Lehrkräfte, die wissen, worauf es ankomme …

Alain Pichard: Lehrkräfte unterwandern unausgegorene Vorgaben.

An meiner einstigen Schule pflegte unser Schulkommissionspräsident die Eltern jeweils bei seiner Begrüssungsrede zum neuen Schuljahr mit dem Satz zu entlassen: «Ihre Kinder kommen in eine gute Schule!»

Einmal fragte ich ihn beim Hinausgehen, woher er eigentlich wisse, dass wir eine gute Schule seien. Er schmunzelte, überlegte und sagte schliesslich: «Aus dem Gespräch mit den Leuten! »

«Und was verstehst du unter einer guten Schule? », fuhr ich fort. Wie aus der Pistole geschossen antwortete dieser: «Na, wenn die Schüler hier etwas lernen. » Diese einfache Weisheit eines KMU-Mannes sollte man beherzigen, wenn es um die Frage geht, wie es generell um unsere Volksschule bestellt ist.

Zu Beginn einer Analyse über die Schweizer Schule gilt es allerdings festzuhalten: Die Schweizer Volksschule gibt es nicht. Trotz aller Zentralisierungsbemühungen und Top-Down-Reformen ist unser Schulsystem immer noch föderal aufgebaut. Die Kantone haben die Schulhoheit und die einzelnen Schulen sind in den jeweiligen Gemeinden eingebettet. Von vielen als Flickenteppich verspottet, ist diese Konstruktion die eigentliche Stärke unseres Bildungswesens. Sie ist ein Laboratorium, in dem man experimentiert, aus Fehlern lernt, und ein Lernort, der stark mit den Behörden, Eltern und Schülern verbunden bleibt. Da haben es Masterpläne zum Leidwesen der Bildungszentralen naturgemäss schwer. Dieser Bildungsföderalismus mag auch ein Grund dafür sein, dass unsere Schulen immer noch in einem recht guten Zustand sind.

Sie ist ein Laboratorium, in dem man experimentiert, aus Fehlern lernt und ein Lernort, der stark mit den Behörden, Eltern und Schülern verbunden bleibt. Da haben es Masterpläne zum Leidwesen der Bildungszentralen naturgemäss schwer.

Das Schweizer Billdungssystem integriert die Migrantenkinder besser als unsere Nachbarländer.

Sie geniessen einen hohen Stellenwert in der Bevölkerung. Schweizweit besuchen nur sechs Prozent der Heranwachsenden eine Privatschule. Die Tendenz ist zwar steigend. Aber das ist kein hoher Marktanteil. Der Schweiz gelingt es immer noch, den Grossteil unserer fremdsprachigen Schülerinnen und Schüler in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Und dies, obwohl sie im Verhältnis mehr Migranten aufgenommen hat als beispielsweise die USA. Im Vergleich zum PISA-Wunderknaben Finnland mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 19% produziert die Schweiz – je nach Berechnungsmodell – einen rekordtiefen Prozentsatz von 2,5-5%.

An den Berufsweltmeisterschaften halten sich unsere Lehrlinge – obwohl nicht mehr ganz so souverän wie in früheren Zeiten – immer noch in den Spitzenrängen, und in den internationalen TIMSS-Studien (Trends in International Mathematics and Science Study) lag die Schweiz bis vor Kurzem im oberen Drittel.

Das sind im Grunde genommen recht gute Indikatoren für ein solides Bildungssystem.

Folgt man der öffentlichen Debatte und den Medien, prasseln allerdings dramatische Untergangsphantasien auf uns ein. Wer die Schweizer Schulen besucht, könnte meinen, dass sie bewusst übersehen werden sollen. Oft werden negative Einzelfälle skandalisiert oder tolle Performances, z. B. bei Preisverleihungen, gehypt. Die alltägliche, profane Arbeit der Lehrkräfte liefert zu wenig Schlagzeilen.

Kein PISA-Gegner

PISA-Schock wurde erfunden.

2001 wurde der „PISA-Schock“ erfunden, der in unseren Medien flugs zur Bildungskatastrophe hochstilisiert wurde.  Rundherum „hysterisierten“ Journalisten, Politiker und Funktionäre den doch eher simplen Test als «das Armageddon der öffentlichen Bildung. Damit eines klar ist: Ich gehöre nicht zu den PISA-Gegnern. PISA liefert uns ausserordentlich interessante Ergebnisse zu einzelnen Teilbereichen unserer Schule. PISA hatte aber nie den Anspruch, nationale Schulsysteme als Ganzes zu bewerten. Absurde Länderrankings ohne tiefgehende Analysen erfolgten durch die Medien und Bildungspolitiker, die zu einem beispiellosen Schulbashing ansetzten.

Es war die Stunde einer neuen Allianz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft, die sich zu den eigentlichen Playern unseres Bildungssystems entwickelten.

Schmiss der alte Gilgen seinen Laden noch mit ein paar Dutzend Mitarbeitern, so arbeiten heute in der Zürcher Bildungsverwaltung an die 1’800 Angestellte.

Die Politik sorgte dafür, dass die Bildungsausgaben massiv erhöht wurden, von 16 Milliarden Franken (1990) auf rund 38 Milliarden Franken (2018), was sich auch im Bruttosozialproduktsanteil manifestierte. Dieses Geld floss nicht nur in die Praxis und die neu gegründeten Fachhochschulen. Wie auch in anderen Gefilden unseres Staatssystems wurde ein massiver Ausbau des Überbaus vorangetrieben. Evaluatoren, Lehrplanentwickler, Berater, Bildungsforscher besetzten die Schaltstellen der Bildungszentralen. Sie begannen zielstrebig, unser Schulsystem umzubauen. Lehrkräfte wanderten in Scharen in die neuen Berufsfelder, wirkten an Weiterbildungsinstituten, wurden Dozenten an der PH oder arbeiteten in den nun immer zahlreicheren Arbeitsgruppen und Lehrmittelkommissionen und Funktionärsstellen der Verbände. Schmiss der alte Gilgen seinen Laden noch mit ein paar Dutzend Mitarbeitern, so arbeiten heute in der Zürcher Bildungsverwaltung an die 1’800 Angestellte.

Harmos war eine Steuerungsvorlage basierend auf dem Weissbuch der EDK

Die EDK (Eidgenössische Erziehungsdirektorenkonferenz) schlug 2004 mit einem Weissbuch vor, das Schulsystem auf die PISA-Test-Formate umzustellen. Von da an entwickelte sich vieles zwangsläufig: Wer eine Vergleichbarkeit will, braucht Standards. Wer Standards hat, muss diese überprüfen und benötigt Tests, und wer diese Tests will, braucht zu erwerbende Kompetenzen. Nach und nach geriet die Schule in den Würgegriff dieser Technokraten. Allein in meinem Kanton Bern gab es in dieser Zeit 20 Schulreformen, von denen die Hälfte in ein regelrechtes Desaster mündeten.

Die Folge waren der Lehrplan 21, Kompetenzraster, neue Beurteilungsformen, Bewertung überfachlicher Kompetenzen, siebenseitige Beobachtungsfragebögen im Kindergarten, flächendeckende Tests in der Nordwestschweiz, Umbau des Hauswirtschaftsunterrichts, eine abenteuerliche Fremdsprachendidaktik, «Classroom Walkthrough»-​Kontrollen der Schulleitungen, neue Inklusionskonzepte u.v.a. mehr. Auch pädagogische Vorgaben wie Konstruktivismus, entdeckendes oder selbstbestimmtes Lernen begannen, die Methodenfreiheit der Lehrkräfte einzuschränken.

Die PISA-Tests wurden uns als Schritt in eine datenbasierte Forschung verkauft, welche gezielt die Schwächen und Stärken unseres Bildungssystems erkunden halfen. Das Zauberwort «Bildungsmonitoring» machte die Runde.

Wie es mit der Ernsthaftigkeit dieser Vorhaben bestellt ist, zeigt der Umgang mit dem Illetrismus. Eine der wirklich fundierten Erkenntnisse von PISA zeigte uns, dass das teuerste Schulsystem der Welt es fertigbringt, dass ein Fünftel der Schüler nicht einmal die tiefsten Standards beim Lesen erreicht, also praktisch als Illetristen aus der Schulpflicht entlassen wird. Ein ernst gemeintes Bildungsmonitoring – so müsste man annehmen – würde diese dramatische Entwicklung zu beheben versuchen. Stattdessen führte man Frühfranzösisch und Frühenglisch ein.

Dies zeigt uns, dass sich die Allianz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft von den Erfordernissen der Schulen längst entkoppelt hat. Neben der Steuerung geht es schliesslich um Auftragssicherheit und Jobs. In den Lehrerzimmern des Landes zirkuliert der alte Spontispruch: «Die probieren mal was. Wenn es nicht klappt, versuchen sie was Neues. Vielleicht klappt es dann ja auch nicht.»

Illetrismus: Ein Fünftel kann nach 9 Schuljahren nicht richtig lesen und schreiben.

Und schliesslich gilt es festzuhalten, dass unser Bildungssystem ein Mittelstandsprojekt ist. Die Nöte der Illetristen, weitestgehend Migrantenkinder und Kinder der unterprivilegierten Schichten, interessiert diese Mittelschicht nur in Sonntagspredigten. Das Frühenglisch wurde denn auch in Zürich in einer Volksabstimmung bestätigt. In links-grün regierten Städten werden zurzeit staatlich finanzierte Privatschulen – zweisprachige Schulen – in Mittelstandsquartieren eingeführt, was die Restschulproblematik in den Aussenquartieren erhöht.

Was haben uns all die Reformen der Allianz gebracht ausser einer ideologischen Phrasendrescherei und einer «verschwurbelten» Kompetenzrhetorik?  Trotz gewaltiger Bildungsinvestitionen sinken die Leistungen unserer Schüler in den PISA-Studien, die Fremdsprachendidaktik mit dem Lehrmittel Passepartout hat das Französisch an unseren Schulen mehr oder weniger «gekillt». Der Drang ans Gymnasium nimmt zu, die Berufsbildung, eine starke Säule unseres Bildungssystems kommt unter Druck. Untaugliche, weil holistisch geprägte Integrationskonzepte bringen viele Schulklassen an ihre Belastungsgrenze. Ein eklatanter, in dieser Form noch nie dagewesener Lehrermangel untergräbt die Unterrichtsqualität. An meiner Ex-Schule arbeiten derzeit zwei Lehrkräfte, die kein Wort Deutsch sprechen.

Die Lehrkräfte wissen mehrheitlich, worauf es ankommt.

Verfalle ich jetzt selber dem von mir am Anfang dieses Textes gegeisselten Alarmismus? Dass all die negativen Auswirkungen bisher nicht voll durchgeschlagen haben, ist den meisten der rund 90’000 an der Volksschule arbeitenden Lehrkräften zu verdanken. Sie halten wacker stand, unterlaufen die praxisfernen Lehrplanvorgaben und unausgegorenen pädagogischen Konzepte und versuchen das umzusetzen, was der Kommissionspräsident einst meinte: Die Schüler müssen etwas lernen.

Und sie beginnen sich zu wehren. Zaghaft zwar, aber immer energischer. Sie treten kaum noch in die Lehrerverbände ein, welche diese unheilvolle Bildungspolitik stets unkritisch unterstützt haben. Die grosse Ausnahme unter all den kantonalen Lehrerverbänden ist allerdings der LVB (LehrerInnen-Verband Baselland), der mit klarer Kante die stupiden Auswüchse der Reformpolitik bekämpfte und dadurch vieles wieder in die richtigen Bahnen lenkte.  Gerade dieser LVB erkämpfte sich die Lehrmittelfreiheit, weitere Kantone folgten. Und ausgerechnet in Basel lancierte nun der behördenfreundlichste Lehrerverband der Schweiz eine Volksinitiative für die Wiedereinführung der Kleinklassen.

Letztendlich ist es die verantwortliche Lehrerin bzw. der verantwortliche Lehrer, die mit ihrer Person unterrichten und dabei überzeugen müssen. Das ist vielen Lehrkräften bewusst. «In einer demokratischen Gesellschaft muss die öffentliche Schule überzeugen, und zwar mit ihren Leistungen und so mit ihrer Qualität. Sie muss sich entwickeln, damit auch für die künftigen Generationen eine verlässliche Bildungsversorgung gegeben ist. Dafür stehen gute Schulen ein» (Professor Juergen Oelkers).

Dieser Artikel erschien in einer gekürzten Variante in der Weltwoche.

 

 

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