23. April 2024

Das Paradox der geschlechtertypischen Berufe

Condorcet-Autor Urs Kalberer interpretiert Daten aus Skandinavien über den Effekt von Koedukation an den Schulen. Sein Fazit: Die Versuche, die Berufswünsche der Schulabgänger ausgeglichener zu gestalten, basieren auf falschen Annahmen. Eine Fokussierung auf Erziehungsmuster und Rollenbilder allein genügt nicht, die vorhandenen Unterschiede zu erklären.

Urs Kalberer, Sekundarlehrer: In ärmeren und meist stärker gendergetrennten Gesellschaften drängt es Frauen vermehrt in die besser bezahlten MINT-Berufe.

Die Berufsberatungen und Gleichstellungsbüros in den Kantonen aber auch Genderdozentinnen an den Hochschulen gehen davon aus, dass die Berufswahl entscheidend von Umwelteinflüssen wie Erziehung und sozialem Umfeld geprägt wird. Darauf aufbauend hat sich eine Vielzahl von Fördermassnahmen entwickelt, deren Zweck es ist, die tradierten Männer- und Frauenberufe zu hinterfragen und vermehrt Mädchen dazu zu bewegen, eine berufliche Grundausbildung in einem bis anhin typischen Männerberuf zu absolvieren.

Ernüchternde Zahlen

Nach jahrzehntelangen Bemühungen stellt man ernüchtert fest, dass Lernende unter 20 Jahren ihre Lehre noch immer klar geschlechtersegregiert wählen. Trotz konstanter Förderung geht der Frauenanteil in den MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) sogar zurück. Die Zahlen der Eintritte in die berufliche Grundbildung im Jahr 2020 (Bundesamt für Statistik) sind unter diesen Umständen besonders aufschlussreich: Beim Beruf Florist/-in waren es 96 Prozent Frauen, Medizinische Praxisassistenten hatten einen Frauenanteil von 97 Prozent und Kosmetikerinnen erreichten gar blanke 100 Prozent Frauenanteil. Entsprechend entgegengesetzt sieht es beim Automobil-Mechatroniker aus – 95 Prozent davon waren Männer. Elektroinstallateure hatten einen Männeranteil von 97 Prozent und Sanitärinstallateure gar 98 Prozent. Diese angesichts jahrzehntelanger Kampagnen erstaunlich einseitige Verteilung legt die Vermutung nahe, dass nicht ausschliesslich die vermittelten Rollenbilder des sozialen Umfelds dafür verantwortlich sein können. Wie aber sind diese scheinbar unverrückbaren Geschlechterunterschiede zu erklären?

Entsprechend entgegengesetzt sieht es beim Automobil-Mechatroniker aus – 95 Prozent davon waren Männer. Elektroinstallateure hatten einen Männeranteil von 97 Prozent und Sanitärinstallateure gar 98 Prozent.

Mädchen lesen besser als Jungs.

Männer bevorzugen Dinge, Frauen Menschen

Es existieren deutliche geschlechtertypische Merkmale, die unabhängig von Land und Sozialisation zutreffen – sie gelten universell. Im Durchschnitt erzielen Frauen beispielsweise bessere Leistungen auf sprachlichem Gebiet. Dies bestätigen auch die PISA-Tests für Schulabgänger im 9. Schuljahr. In allen teilnehmenden Ländern schneiden Mädchen – unabhängig vom Grad der Gendergerechtigkeit – im Lesen besser ab als die Buben. Demgegenüber sind die jungen Männer durchschnittlich besser im visuell-räumlichen Vorstellungsvermögen. Buben haben ein verstärktes Interesse an Dingen, was sie in technische und handwerkliche Berufe zieht. Andererseits zeigen nur etwa 20 Prozent der Mädchen gleiches oder höheres Interesse an einem MINT-Beruf wie die Buben, obwohl sie im PISA-Vergleich ähnlich abschnitten. Die Mädchen haben Interesse an Menschen, folglich zieht es sie in Bereiche, die mit Menschen zu tun haben.

Finnland: Trotz guter Leistungen der Mädchen in MINT-Fächern keine Zunahme in Männerberufen.

In den skandinavischen Ländern, wo die Gendergerechtigkeit weltweit am stärksten umgesetzt ist, könnte man nun erwarten, dass der Graben zwischen typischen Frauen- und Männerberufen weniger tief ist oder gar nicht mehr existiert. Doch weit gefehlt: Man sieht, dass sich auch dort bei der Berufswahl Männer von Dingen und Frauen von Menschen angezogen fühlen. Nehmen wir Finnland als Beispiel. Nach Angaben des Weltwirtschaftsforums (2021) belegt Finnland Platz zwei in der Liste der gendergerechtesten Länder der Welt. Darüber hinaus gehören finnische Schüler zu den leistungsstärksten in Europa, und heranwachsende Mädchen übertreffen ihre männlichen Altersgenossen selbst in den Naturwissenschaften. Folglich sollte Finnland an der Schwelle zur Beseitigung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern in den MINT-Bereichen stehen. Dennoch weist Finnland in diesen Fächern weltweit eine der größten Lücken bei den Hochschulabschlüssen auf. Norwegen und Schweden – auf den Plätzen drei und fünf im Ranking des Weltwirtschaftsforums – liegen nicht weit dahinter. Dieses allgemeine Muster erscheint widersprüchlich, findet sich jedoch überall auf der Welt: Die Beteiligung von Frauen in MINT-Fächern, egal ob in der Grundausbildung oder nach dem Studium, nimmt ab, wenn sich das Niveau der Gleichstellung der Geschlechter in den einzelnen Ländern verbessert.

In ärmeren und meist stärker gendergetrennten Gesellschaften drängt es Frauen vermehrt in die besser bezahlten MINT-Berufe. In reichen Sozialstaaten hingegen können junge Frauen ihre Berufswahl nach ihren eigenen Interessen fällen und diese liegen offenbar in der Pflege oder im Sprachbereich.

Unterschiedliche Präferenzen

In ärmeren und meist stärker gendergetrennten Gesellschaften drängt es Frauen vermehrt in die besser bezahlten MINT-Berufe. In reichen Sozialstaaten hingegen können junge Frauen ihre Berufswahl nach ihren eigenen Interessen fällen und diese liegen offenbar in der Pflege oder im Sprachbereich. Mädchen und Jungen unterscheiden sich und haben entsprechend andere berufliche Präferenzen. Diese Unterschiede kommen in wohlhabenden, demokratischen und genderbewussteren Gesellschaften stärker zum Vorschein. Je genderkorrekter die Gesellschaft, desto tiefer der Graben zwischen typisch männlichen und typisch weiblichen Berufsfeldern. Diese Unterschiede lassen sich nicht alleine mit der Sozialisation erklären, weshalb sie auch nicht mit den gängigen Förderprogrammen aus der Welt geschafft werden können.

Wie die Beispiele aus Nordeuropa zeigen, führt eine gendergerechte Gesellschaft nicht automatisch zu einer ausgeglicheneren Verteilung der Lehrberufe. Diese Tatsache gilt es im Berufswahlprozess zu berücksichtigen. Insbesondere soll die Berufswahl der Mädchen nicht länger mit wirkungslosen Appellen zur Überwindung der Genderschranken begleitet werden, denn Buben und Mädchen werden auch in Zukunft unterschiedliche Berufe wählen.

 

 

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3 Kommentare

  1. Genderbewusstere Kampagnen können sich nur wohlhabende Länder leisten. In wohlhabenden Ländern können junge Frauen, ihren Beruf wählen. Weil Mädchen Interesse an Menschen haben, wählen sie Berufe, die mit Menschen zu tun haben. In ärmeren Gesellschaften wählen Frauen (und Männer) Berufe, die besser bezahlt sind, um sich aus der Armut zu befreien.

    Kampagnen nützen offenbar wenig, weil sie nicht bei der Erziehung ansetzen können, weil diese im Elternhaus stattfindet. Mädchen nehmen sich ihre Mütter als Vorbild und Frauen sind im Allgemeinen am Sozialen interessierter und benützen dazu die Sprache häufiger als Männer. Deshalb ist es kein Wunder, dass Frauen bessere Leistungen auf sprachlichem Gebiet aufweisen. Bessere Sprachkenntnisse sind in allen Fächern von Vorteil.

  2. Wie viel vergebliche Mühe, Zeit und Geld könnten gespart werden, wenn sich diese Erkenntnisse durchsetzen dürften! Überhaupt sollte mehr gefragt werden, was Mädchen und Knaben hilft, sich ihren Möglichkeiten, Stärken und Neigungen entsprechend zu entwickeln. Frauen und Männer, Mädchen und Knaben sind gleichwertig, aber nicht gleichartig. Verunsicherungen durch ideologisch untermauerte Einflussnahmen könnten mit ein Grund sein, dass sich manche Kinder vermehrt nicht sicher sind, ob sie richtige Mädchen oder richtige Knaben sind bis hin zu hormonellen und chirurgischen Eingriffen und Verstümmelungen. Dabei darf die Unterschiedlichkeit auch innerhalb eines Geschlechts anerkannt werden – für eine Versöhnung mit dem eigenen Körper und damit auch zur Ermöglichung eines zufriedenen Lebens.

  3. Gendergerechtigkeit in der Berufswahl besteht nicht darin, in allen Berufsparten möglichst nahe an die 50:50-Marke zu kommen, sondern den Jugendlichen zu ermöglichen, jenen Beruf zu wählen, der jedem Einzelnen am besten entspricht. Im ersten Moment überrascht es mich auch, dass in den am meisten genderbewussten nordeuropäischen Ländern die Berufswahl extrem den geschlechterstereotypischen Linien folgt. Bei etwas Nachdenken ist eine Erklärung leicht zu finden: In den reichen Sozialstaaten können es sich die jungen Frauen leisten, in weniger gut bezahlte Jobs einzusteigen, in denen sie sich wohl fühlen. Auf die jungen Männer dürfte neben grösserem «Interesse an Dingen» immer noch auch Karriere und Geld eine stärkere Anziehungskraft ausüben. Eine Bestätigung dafür dürfte der höhere Frauenanteil in den MINT-Berufen in ärmeren Gesellschaften sein: Hier spielt bei jungen Frauen, welche die Begabung dazu haben, naturgemäss die finanzielle Sicherheit in der Zukunft eine dominierendere Rolle. In diesem Zusammenhang stellt sich erneut die Frage nach der materiellen Wertschätzung der sprachlichen und sozialen Berufe: Warum «müssen» sie nach wie vor schlechter bezahlt sein als die MINT-Berufe? Spiegelt diese ungleiche Verteilung der Löhne nicht auch eine unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzung der beiden Bereiche? Möglicherweise wählten unter den Bedingungen einer gerechteren Verteilung der Gelder auch mehr junge Männer «weiche» Berufe, weil sie ihnen besser entsprächen. Eventuell könnte so auch der Anteil an «Versagern» bei männlichen Jugendlichen in den MINT-Bereichen gesenkt werden.

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