Nicht erst mit der Corona-Pandemie hat sich ein gesellschaftlicher Zustand in Deutschland wie in der Schweiz manifestiert, der einen eklatanten Mangel an Gemeinsinn sowie an Respekt und Sachlichkeit in der öffentlichen Debatte aufweist. Mit dieser soziokulturellen und demokratiepolitischen Problematik setzt sich die deutsche Philosophin, Ökonomin und Publizistin Sahra Wagenknecht – wohl die eigenständigste Persönlichkeit innerhalb der Partei die LINKE – in ihrem Buch «Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt» auseinander. Zum einen sind es die «vier Jahrzehnte Wirtschaftsliberalismus, Sozialabbau und Globalisierung», die die westlichen Gesellschaften so gespalten haben, schreibt Wagenknecht, sieht aber das Versagen der Linken, die historisch gesehen, das eigentlich notwendige gesellschaftspolitische Korrektiv gegen diese Entwicklung extremer sozialer Ungleichheit waren, wesentlich mit in der Verantwortung. Grosse Anteile der Linken, wovon die meisten heutzutage arrivierte städtische Akademiker seien, hätten das Engagement für die soziale Frage zugunsten von Themen selbstgerechter, sich arrogant gebärdender Moralisten aufgegeben und somit ihre traditionelle Wählerschaft (die sozial Benachteiligten) vor den Kopf gestossen und in die Arme der AfD usw. getrieben. Auf über 300 Seiten zeichnet Wagenknecht die Entstehung dieses fatalen Prozesses in einer sorgfältigen Analyse nach, bleibt aber nicht dabei stehen, sondern widmet sich im zweiten Teil dem Ausweg, nämlich was es braucht, dass «Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Wohlstand» als soziale Verbindung auch zwischen den gesellschaftlichen Gruppen zurückzugewinnen sind. Mit grosser Belesenheit, historisch-politischem Kenntnisreichtum, geistiger Unerschrockenheit und Redlichkeit sowie einer beeindruckenden sozialethischen Perspektive vermittelt die ungewöhnlich klar denkende Politikerin ihrer Leserschaft ein schlüssiges Verständnis der aktuellen gesellschaftlich belastenden sozialen Spannungen sowie eine Vorstellung dessen, wie der soziale Frieden, die dringend erforderliche Solidarität und das Bestreben eines konstruktiven Miteinanders wieder hergestellt werden kann. Das Buch ist für jeden (sozial-)politisch denkenden Menschen auch in der Schweiz eine äusserst lohnende Lektüre.
Beat Kissling, 30.12.2021