20. April 2024
Hausaufgaben abschaffen

Eine alljährlich wiederkehrende Diskussion neben der Spur

Ähnlich wie die Forderung, doch jetzt endlich die Noten in der Schule abzuschaffen, gelingt es dem Begehren nach Abschaffung der Hausaufgaben regelmässig, in die Medienlandschaft zu gelangen. Auffallend dabei, mit wie wenig Kenntnis über dieses Thema gestritten wird. Condorcet-Autor Alain Pichard über ein Ritual, das an Öde kaum zu überbieten ist.

Nicht der Weisheit letzter Schluss.

Den diesjährigen Reigen zur Abschaffung der Hausaufgaben eröffnete Andreas Niklaus, Rektor der Kantonsschule Zürich Nord – mit 2200 Schülerinnen und Schülern eines der grössten Schweizer Gymnasien. Er mache sich Sorgen, der Stoffdruck, die Erwartungen der Eltern, der Lehrer, ja auch die der Jugendlichen erzeuge Stress. Er fordere deshalb, die Hausaufgaben abzuschaffen. In unserem nördlichen Nachbarland doppelte die Linke-Vorsitzende Janine Wissler nach und verlangte fast zeitgleich die Abschaffung der Hausaufgaben. Sie argumentiert vor allem mit der fehlenden Chancengleichheit und der Tatsache, dass viele Eltern aus bildungsfernen Schichten mit den Hausaufgaben überfordert seien. Und prompt ist damit eine Diskussion lanciert, die auch die Gegner auf den Plan ruft. Dort sieht man eine Leistungskultur am Zerfallen und warnt vor der immer weiter sinkenden Bildungsqualität.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission

Erstaunlich an der ganzen Debatte ist, dass sich niemand fragt, was denn eigentlich Hausaufgaben sind.

Hierzu eine kleine Übersicht: 80% der Hausaufgaben sind Übungsaufgaben. In der Kette eines Lernprozesses ist das Glied des Übens ein entscheidendes Kettenglied. Findet das Üben nicht oder unter ungünstigen Bedingungen statt, dann ist der Lernerfolg gefährdet. Und weil die Lernverhältnisse in den Elternhäusern sehr verschieden sind, ist die Wirkung von Hausaufgaben diesbezüglich problematisch. Das haben wir aber an den Schulen längst erkannt. Deshalb gibt es in vielen Schulen sogenannte SOL-Lektionen, (SOL = Selbstorganisiertes Lernen), ILF (individuelle Lernförderung) oder betreute Mittagstische, in welchen die Schüler im Beisein einer Lehrkraft u. a. genau solche Übungsaufgaben lösen können. Die Lehrkräfte an unserer Schule müssen zwei solche Lektionen übernehmen, werden aber nur für eine bezahlt, weil dieser «Hütedienst» keine Vor- und Nachbereitung abverlangt.

Neben den Übungsaufgaben gibt es die sogenannten Lernaufträge. Der Französischlehrer kündigt einen Test an, in welchem die Passé composé-Formen abgefragt werden. Hier helfen die neuen Medien mit einfachen Apps, welche die Schüler auf ihrem Handy abrufen können (Quizlet). Aber auch Physikproben oder Geschichtsteste wollen gelernt sein. Interessant ist, dass genau diese Art Hausaufgaben in den Reglementen wohlweislich von allen Regulierungen ausgenommen sind. Der Grund liegt  auf der Hand. Die Grundkompetenzen im Fach Mathematik verlangen die Beherrschung der vier Grundoperationen im Bruchrechnen. Nicht alle Schüler schaffen dies ohne Weiteres. Einige müssen mehr lernen als ihre Kameraden, welche die Regeln schneller erfassen. Eine der vielen Kränkungen, die uns das Leben beschert. Ich musste im Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasium stundenlang den Kosinussatz lernen, bis ich ihn begriff. Mein Freund und Mathegenie David hatte dies jeweils in Sekundenschnelle im Griff. Nicht selten kommen Schüler zu mir und bitten um sogenannte Zusatzaufgaben, mit denen sie für den bevorstehenden Test lernen können. Auch hier stehen uns gute Übungsaufgaben sowohl in Digitalform oder auf Papier zur Verfügung.

Projektaufträge können auch zu einer Bereicherung der Freizeitgestaltung führen.

Und schliesslich gibt es noch die Projektaufträge, wie zum Beispiel die Präsentation eines Buches, das Porträt eines Landes, die Planung und Durchführung eines Chemieexperiments. Sie sind bei den Schülerinnen durchaus beliebt, weil sie stark auf dem Erkunden ausgerichtet sind. Ich wage zu behaupten, dass diese Art «Hausaufgaben» durchaus zu einer Bereicherung der Freizeitgestaltung führen können.

Als Lehrer mit 44-jähriger Unterrichtspraxis weiss ich natürlich, dass es auch blödsinnige Aufgaben gibt.

Als Lehrer mit 44-jähriger Unterrichtspraxis weiss ich natürlich, dass es auch blödsinnige Aufgaben gibt. Es ist belegt, dass leider immer noch die meisten Hausaufgaben in den letzten paar Minuten einer Lektion erteilt werden, also schlecht in den Unterricht integriert sind. Es handelt sich dabei oft um «Fertigstellungsaufgaben». Und eine Tatsache ist auch, dass die Ergebnisse der Hausaufgaben in der Regel eher unzulänglich im Unterricht behandelt werden. Hausaufgaben als Strafe soll es immer noch geben.

Aber sind diese Mängel ein Grund, Hausaufgaben abzuschaffen? Sicher nicht! Und sind Hausaufgaben mit der Chancengleichheit unvereinbar? Das ist ein ausgekochter Blödsinn. Gerade die Hausaufgaben erlauben es den weniger talentierten Schülern, die Grundkompetenzen in einem Fach zu erfüllen und die Ziele mit Fleiss zu erreichen.

Es gab und gibt immer wieder Versuche, die Hausaufgaben zu regulieren. So wollte man der drohenden Überforderung der Schüler beispielsweise mit einem Zeitrahmen beikommen. Maximal 2 Stunden an der Primarschule, maximal 3 Stunden an der Oberstufe. Und manchmal fragen auch Eltern während eines Elterngesprächs, ob ihr Kind nicht zu viel Hausaufgaben hätte. Grundsätzlich aber wollen über 75% der Eltern, dass ihre Kinder Hausaufgaben erhalten, wie eine Umfrage des Nachrichtenmagazins FOCUS ergab.

In meiner Praxis setze ich Hausaufgaben massvoll ein, will heissen, die Schüler müssen auch ihre Freizeit haben. Vor allem aber kontrolliere ich die Hausaufgaben und evaluiere sie, indem ich meine Schüler frage, wie sie diese Aufgaben gelöst haben, wo sie Probleme hatten. Nicht gemachte Hausaufgaben werden nicht sanktioniert, sind aber Teil des Elterngesprächs.

Eltern sollen die Hausaufgabe kontrollieren, aber nicht als Hausaufgabenhilfe missbraucht werden. Das sage ich den Eltern jeweils immer zu Beginn eines Zyklus.

Ich achte darauf, dass die Hausaufgaben von den Lernenden selbständig erledigt werden können. Eltern sollen die Hausaufgabe kontrollieren, aber nicht als Hausaufgabenhilfe missbraucht werden. Das sage ich den Eltern jeweils immer zu Beginn eines Zyklus. Hausaufgaben sollten sinnvoll, das heisst, sie sollten in den Unterricht eingebettet sein. Projektaufträge sollen attraktiv gestaltet werden.

Letzte Woche hat der Schülerrat an unserer Schule eine Eingabe gemacht: Man solle die Anzahl der SOL-Lektionen von drei auf zwei senken. Grund: Vielen Schülern sei es während den SOL-Lektionen zu laut, einige von ihnen lernten grundsätzlich lieber zu Hause als in der Schule.

Was den Stress betrifft, den Hausaufgaben auslösen sollen, so darf ich feststellen: Die Schule ist eher die Institution, welche versucht, die Erwartungen der Eltern – und die sind das eigentliche Problem – in realistische Bahnen zu lenken. Wir wollen glückliche Schüler. Aber es muss möglich sein, dass auch weniger talentierte Schüler mit Fleiss und Einsatz ihre Ziele erreichen können. Viele tun dies von sich aus, einige leider auch unter dem permanenten Erwartungsdruck der Eltern. Brisantes Detail: Letzte Woche hat der Schülerrat an unserer Schule eine Eingabe gemacht: Man solle die Anzahl der SOL-Lektionen von drei auf zwei senken. Grund: Vielen Schülern sei es während den SOL-Lektionen zu laut, einige von ihnen lernten grundsätzlich lieber zu Hause als in der Schule.

Wir Lehrkräfte halten uns an die im Lehrplan formulierten Grundkompetenzen. Sie sollten von allen Lernenden erreicht werden. Wenn eine immer grösser werdende Zahl unserer Schüler diese Grundkompetenzen nicht erreicht, liegt es weder an den zu vielen noch an den zu wenigen Hausaufgaben.

Das Gebot der Stunde wäre ein markanter Lektionenabbau, aber sicher nicht die Abschaffung der Hausaufgaben.

Die völlige Überfrachtung der Lehrpläne, das «Immer mehr», gekoppelt an die vielen überfachlichen Kompetenzen, haben aus der Schule ein Gemischtwarenhandel gemacht, der kaum mehr Prioritäten kennt. Profunde Lernziele sind durch einen beliebigen Kompetenzquark ersetzt worden. Das hat zu Folge, dass die Schule Ziele zu erreichen versucht, die ausserhalb der Möglichkeit von Unterricht liegen. Die Konsequenz ist, dass Vieles  gemacht und abgehakt, aber kaum mehr gründlich durchgenommen wird. Die Schüler gehen so viel in die Schule, wie noch nie, es herrscht eine beispiellose Hektik. Die Lösung wäre hier ein «Back to the roots» oder wie es die Amerikaner ausdrücken ein «Reduce to the Max». Das Gebot der Stunde wäre ein markanter Lektionenabbau, aber sicher nicht die Abschaffung der Hausaufgaben. Gerade mit diesen

Eine Gesellschaft, die will, dass nichts grossartig ist, weil wo was gross ist, es rundherum klein aussieht, beschneidet in erster Linie die Gestaltungskraft der Kinder.

Hausaufgaben, wird auch die Autonomie und Mündigkeit der Lernenden unterstützt. Die Hausaufgaben bilden – wirksam eingesetzt – eine wertvolle Ergänzung zum Unterricht. Und sie erfüllen darüber hinaus, die von der Bildungsnomenklatura immer wieder betonte Prämisse: Individualisierung.

Und denjenigen, die sich durch die Abschaffung der Hausaufgaben eine markante Vergrösserung der Chancengerechtigkeit erhoffen, kann man nur zurufen: «Na, dann versucht es mal!»

Meine Tochter hat ganze Mittwochnachmittage an Schulaufträgen gearbeitet, mit Hingabe und sehr oft mit Freude. Als sie eines Abends um 22.00 Uhr immer noch am Plakat für ihren Vortrag malte, forderte ich sie auf, ins Bett zu gehen. Sie tat es, stellt den Wecker und stand um 05.00 Uhr auf der Matte. Das Plakat wurde fertig. Meine Tochter war mächtig stolz. Eine Gesellschaft, die will, dass nichts grossartig ist, weil wo was gross ist, es rundherum klein aussieht, beschneidet in erster Linie die Gestaltungskraft der Kinder.

Dieser Artikel ist zuerst im Nebelspalter erschienen.

 

 

Verwandte Artikel

Rousseau – Naturevangelium der Pädagogik

Nichts ist wichtiger als die Kunst, Menschen zu bilden. Und doch fehlt es überall an Einsicht und an Methoden, die einer naturgemässen Menschenbildung entsprechend wären. Dem Gang der Natur zu folgen, muss die erste Sorge des echten Erziehers sein – wenn man die Natur des Kindes nicht kennt, werden sich Irrwege nie vermeiden lassen. Dies waren die Überzeugungen von Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778). Unser Haushistoriker Peter Aebersold erinnert an das pädagogische Vermächtnis dieses Aufklärers. Dies ist sicher angebracht, auch wenn Rousseau in Condorcet-Kreisen durchaus auch umstritten ist.

Ein Kommentar

  1. Schön geschrieben! Manchmal sagen die Kinder zu mir, dass sie sich freuen, lernen zu dürfen. Gibt es etwas befriedigenderes, als zu erfahren, dass man sich weiterentwickelt und neue Fähigkeiten erworben hat?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert