Auf die Jugendlichen, die sich 2022 für eine KV-Lehre entscheiden sollten, kommen unruhige Zeiten zu. Denn ab 2022 soll die Lehre komplett umgekrempelt werden:
- Aus Fächern werden Handlungskompetenzen. Anstatt Deutsch und Mathematik steht dann auf dem Stundenplan «Interagieren in einem vernetzten Arbeitsumfeld» oder «Gestalten von Kunden- und Lieferantenbeziehungen».
- Neu ist nur noch eine Fremdsprache obligatorisch*. Eine weitere kann als Wahlpflichtfach belegt werden. Welche Sprache obligatorisch ist, soll der jeweilige Kanton festlegen.
- Andere bisherige Pflichtfächer wie Finanz- und Rechnungswesen werden neu zur Option.
- Bisher konnten die KV-Lernenden zwischen drei verschiedenen Profilen wählen: der Basisbildung (B-Profil), der erweiterten Grundausbildung (E-Profil) und der Berufsmatura (M-Profil). Das B- und E-Profil sollen gestrichen und mit «flexibleren Möglichkeiten ersetzt werden».
Die Reform treibt die Schweizerische Konferenz der Kaufmännischen Ausbildungs- und Prüfungsbranchen (SKKAB) voran. Die SKKAB ist verantwortlich für die Qualität und die Entwicklung der kaufmännischen Grundbildung. Seit 2018 arbeitet die Konferenz an der Reform. Nun liegt der Ball beim Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). (Quelle “watson”)
Die Vernehmlassungsfrist ist wieder einmal sehr knapp begrenzt. Von einem breiten Mitwirkungsverfahren kann nicht die Rede sein, und auch die Kommunikation über Zielsetzungen und Motivation ist praktisch nicht erfolgt. Am 20. April soll die Vernehmlassung bereits abgeschlossen werden.
Widerstand gegen die Reform
Kritische Stimmen gibt es allerdings zu Hauf. So lässt sich der Aargauer Bildungsdirektor Alex Hürzeler (SVP) vernehmen: «Handlungskompetenzen sind unbestritten wichtig. Dass aber Schulfächer Handlungskompetenzen weichen müssten, schwäche den Erwerb von wichtigen Fachkompetenzen. Ein Treuhandunternehmen will wissen, ob seine Lernenden über ausreichende Kenntnisse im Rechnungswesen verfügen. Das ist der Kern einer kaufmännischen Ausbildung. Und dies ist hier nicht mehr gesichert.» (Quelle watson).
In der NZZ am Sonntag kann man auch die Kritik von SP-Nationalrätin Martina Munz lesen: Die Idee, eine zweite Fremdsprache nur als Wahlpflichtfach anzubieten, ist für die KV-Ausbildung «nicht haltbar», denn wenn die Kantone die Pflichtsprache bestimmen, könnten sich Zürich und Aargau, die weit weg von der Westschweiz sind, für Englisch entscheiden. Viele Lernende würden dann gar kein Französisch mehr büffeln. So werde Französisch auch an den Sekundarschulen an Bedeutung verlieren.”
Der LVB-Präsident Roger von Wartburg liess sich in einer Stellungnahme folgendermassen vernehmen: “Man lernt einfach
nichts aus den bildungspolitischen Grossreformen der letzten 15 Jahre. Wieder bleibt die Entwicklung viel zu lange einem kleinen Kreis von Involvierten vorbehalten, bevor man mit dem bekannten Euphemismus des «sportlichen» Fahrplans und vollmundigen Zusicherungen eine fundierte und möglichst breite Auseinandersetzung vernachlässigt. Ganz viele Direktbetroffene – von KMUs bis zu den Berufsfachschulen – haben bis dato kaum eine konkrete Ahnung davon, was da schon 2022 auf sie zurollen soll.”
In seiner Vorgehensweise erinnert dieses Verfahren natürlich an den letztendlich erfolgreichen Umsetzungsprozess des Lehrplans 21. Damals haben regionale Komitees immerhin eine Volksabstimmung erzwingen können. Wie es mit dieser KV-Reform weitergehen wird, wissen wir wohl erst, wenn das Staatssekretariat diese Vorlage überprüft hat.
Bei der letzten KV-Reform von 2003 wurde unter dem Titel «neue kaufmännische Grundbildung (NKG)» der outputorientierte Portfolio-Ansatz (Outcome based education OBE) eingeführt, obwohl man wusste, dass der Ansatz in seinem Ursprungsland Amerika sehr umstritten war. Die Reform wurde durchgesetzt, obschon man mit einem Verlust von Lehrstellen rechnen musste. In den der Reform folgenden drei Jahren sollen laut Schätzungen des Kaufmännischen Verbandes rund 1000 von ursprünglich 9000 KV-Lehrstellen im Grossraum Zürich verschwunden sein.
Viele Lehrbetriebe haben keine Lehrstellen mehr ausgeschrieben, weil sie mit der neuen Lehrlingsausbildung schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Andere haben vor der Anstellung eines Lehrlings einen Test gemacht. Waren z.B. die mathematischen Kenntnisse ungenügend, so haben sie vom angehenden Lehrling verlangt, dass er die fehlenden Kenntnisse nachholt. Den Lehrvertrag haben sie erst unterschrieben, wenn die Nachhilfeschule bestätigen konnte, dass der angehende Lehrling die für den Lehrantritt notwendigen Kenntnisse nun besass. Wird die Radikalreform «Berufsbildung 2030» bei sämtlichen Berufen wie vorgesehen durchgezogen, bleiben den Lehrgeschäften wohl keine anderen Alternativen.