19. April 2024

Jakob Heer – Pionier der Volksschule

Die Studien über die Verschlechterungen unserer Volksschule häufen sich. Ist unser zeitgemässes Bildungswesen noch fortschrittlich? Fortschritt bezeichnet grundlegende Verbesserungen durch bedeutende Veränderungen bestehender Zustände (Wikipedia). Zeitgemäss kann man auch sein, wenn man gleich gut oder gleich schlecht ist wie die anderen. Unser “Bloghistoriker” Peter Aebersold wagt einen Vergleich unserer heutigen Volksschule mit den Anfängen der Volksschule im Bergkanton Glarus und fragt: “Könnten unsere heutigen Schüler bei den Glarner Mathematikaufgaben von 1836 mithalten?”

Die Anfänge der Glarner Volksschule

Während des 18. Jahrhunderts unterhielten die meisten Glarner Dörfer ihre eigenen Schulen mit „Schulmeistern“. Sie wurden aus dem Volk und vom Volk ohne vorhergehende Prüfung oft zusammen mit dem Geisshirt und Kaminfeger an der jährlichen Gemeindeversammlung gewählt oder bestätigt.

Jakob Heer um 1850

Als Pfarrer Jakob Heer 1802 in Mollis seine erste Stelle als Diakon antrat, war damit auch eine Lehrtätigkeit an der dortigen Gemeindeschule verbunden. Nach einer Lehrtätigkeit für alte Sprachen und Mathematik an einer Privatschule in Glarus wechselte er 1816 an die Pfarrstelle in Matt im Kleintal. Dort fand er eine Gegend vor, die nach den zahlreichen Kriegen der napoleonischen Zeit, dem Niedergang der Heimindustrie und der Hungersnot im „Jahr ohne Sommer“ (1816) in schlimmer Not war: «Es ist scheusslich anzusehen, wie abgezehrte Menschengerippe, die ekelhaftesten, unnatürlichsten Gerichte mit Heisshunger verschlingen. […] Die wenigen Lumpen, die sie noch am Leibe haben, hängen Tag und Nacht an ihnen, bis sie von selbst wegfallen […].» Über tausend Kinder aus dem betroffenen Glarner Hinterland mussten in der ganzen Schweiz bei Familien untergebracht werden, weil sie zu Hause nicht mehr ernährt werden konnten. Um die grösste Not zu lindern, organisierte Heer die Arbeit im Landesplattenberg in Engi neu, damit wieder Verdienst in die Dörfer kam und den Bau einer Fahrstrasse nach Schwanden, damit der Warentransport einfacher wurde.

Pestalozzis Anschauungsunterricht und politische Bildung

Vorbild Pestalozzi

Ein besonderes Anliegen war ihm, dass die Kinder Schulunterricht erhielten. Er gründete mit einem Vikar und einem zusätzlichen Lehrer im Pfarrhaus eine private Schule, die er im Sinne Pestalozzis führte. Als Anschauungsunterricht für den staatsbürgerlichen Unterricht nahm er mit seinen  Schülern an der jährlichen Näfelserfahrt und der Landsgemeinde teil.

Um den Schülern mehr Selbständigkeit zu ermöglichen, bildete er von 1823 bis 1826 im Pfarrhaus einen «Schülerstaat» mit einer Landsgemeinde.

Um den Schülern mehr Selbständigkeit zu ermöglichen, bildete er von 1823 bis 1826 im Pfarrhaus einen «Schülerstaat» mit einer Landsgemeinde. Vier 15 Jahre alte Knaben und Mädchen erliessen unter seiner Aufsicht Gesetze und Verordnungen und regelten die zahlreichen Pflichten und Ämter im grossen Haushalt sowie Fragen des Verhaltens und des Unterrichts.

Politische Freiheit ist für ein geistig unmündiges Volk ein Unding.

Ähnlich wie Pestalozzi lebte er seine Überzeugung: „Politische Freiheit ist für ein geistig unmündiges Volk ein Unding. Unausweichlich fällt es entweder der Vormundschaft einer Kaste an, die es oft für ihre besonderen Zwecke zu lenken versteht, oder es macht meist tolle Streiche. Nur ein durch Bildung und Erziehung zur Mündigkeit herangereiftes Volk wird seine Freiheit wohl bewahren und weise gebrauchen, um sein wahres Glück zu fördern.“

Neue Schulhäuser, bessere Lehrerbildung, Volksschule

In seiner Freizeit widmete er sich der Heranbildung junger Lehrer und setzte sich für den Bau von Schulhäusern ein. 1832 gründete er den kantonalen Glarner Schulverein. Als dessen erster Präsident setzte er sich für die Verbesserung des Schulwesens als staatliche Volksschule, für die Erstellung neuer Schulhäuser und für die Ausbildung geeigneter Personen zum Lehrerberuf sowie für die Einrichtung von Hilfsschulen für schwächere Schüler ein. Zwischen 1832 und 1844 wurden im Glarnerland 22 neue Schulhäuser gebaut.

Schon 170 Jahre vor John Hattie kam Heer zu folgender Erkenntnis: „Ein allseitig ausgebildeter, geistig und moralisch tüchtiger Lehrer ist die beste Schulmethode, das beste Schulbuch und das beste Schulgesetz“.

„Ein allseitig ausgebildeter, geistig und moralisch tüchtiger Lehrer ist die beste Schulmethode, das beste Schulbuch und das beste Schulgesetz“.

Dem tatkräftigen und zielbewussten Glarner Schulverein verdankte der Kanton, dass die Schulverhältnisse sich rasch verbesserten und dass 1835 durch das Volk an der Landgemeinde die Grundlagen für die staatliche Regelung derselben gelegt werden konnten. Noch um 1830 besuchte nur ein Drittel der Kinder regelmässig die Schule. Ab 1837 standen alle Schulen unter der Aufsicht des Kantons. Dieser machte den Schulbesuch bis zum 12. Altersjahr obligatorisch (Volksschule).

Vorbildliche Schulentwicklung

Im Sommerhalbjahr 1843 gab es im Kanton Glarus 6189 Schulkinder (4322 Alltagsschüler und 1867 Repetierschüler) von 5 ½ bis 14 Jahren, welche zum Schulbesuch verpflichtet waren: 20% der Glarner Bevölkerung war schulpflichtig, fast gleich viel wie in der Stadt Zürich, aber weit mehr als in den wichtigsten Ländern Europas wie Preussen 16%, England 8% und Frankreich 8%. 1843 gab es 51 Elementarschullehrer und eine Lehrerin. Bis auf wenige Ausnahmen hatten sie eine Ausbildung in Lehrerseminarien erhalten: 21 wurden in Kreuzlingen (1833 gegründet), 6 in Küssnacht (1832) und 2 in Esslingen D (1811) ausgebildet.

Philipp Emanuel Fellenberg berief Heer nach Hofwil, um Lehrer auszubilden

Heer wirkte auch als kantonaler Schulinspektor. Sein Ruf als praktischer Pädagoge und Methodiker führte dazu, dass ihn Philipp Emanuel von Fellenberg zur Leitung des Lehrerbildungskurses im Sommer 1834 in Hofwil berief. Von 1835 bis 1845 war er Mitredaktor bei der ersten grösseren pädagogischen Zeitschrift, den Allgemeinen schweizerischen Schulblättern.

Methodisches Lehrbuch des Denkrechnens

Sein 1836 erschienenes dreibändiges Methodisches Lehrbuch des Denkrechnens mit über 900 Seiten galt als Durchbruch einer rationellen Rechenmethode in der Volksschule. Es erhielt Anerkennung von Pädagogen und Seminardirektoren aus der ganzen Schweiz und dem Ausland und wurde in mehreren Kantonen eingeführt.

Rechenbuch von Heer: Besondere Aufmerksamkeit widmete Heer dem Zusammenhang zwischen Kopfrechnen und  schriftlichem Rechnen.

Das Werk war für die Volksschule gedacht und enthielt Lehrstoff für 6 bis 7 Schuljahre. Der erste Band war ein Lehrbuch („reine Zahlenlehre“) für das Kopfrechnen und schriftliche Rechnen und umfasste 415 Seiten. Der zweite Band schloss sich an den ersten Band an, in dem angewandte Aufgaben und Beispiele aus dem Alltag („angewandtes Rechnen“) auf 284 Seiten abgehandelt wurden. Der Inhalt umfasste Umrechnungen von Münzen, Massen und Gewichten (jeder Kanton hatte noch eigene Währungen, Masse und Gewichte), Anwendung der Multiplikation und Division, Flächen- und Körperberechnungen, Verhältnisse und Proportionen, Bruchrechnen, Zinsrechnung, Gewinn und Verlust, Prozentrechnen und Gesellschaftsrechnungen. Der dritte Band war ein Übungsbuch („Exempelbuch“), das mit dem Schlüssel 225 Seiten umfasste.

Aus der Praxis für die Praxis

Diese Schrift verdankte ihre Entstehung Heers mehr als dreissigjähriger Praxis und führte von den ersten Elementen bis zur wissenschaftlichen Arithmetik und Algebra. Befreundete Lehrer, welche schon ab 1811 schriftliche Leitfäden von Heer erfolgreich in ihren Schulen umsetzten, hatten ihn zur Veröffentlichung ermuntert ebenso wie der Erziehungsrat des Kantons Zürich, der das Werk allein wegen des Umfangs nicht als obligatorisch erklären konnte.

Der Lehrer leite bloss die Übungen und führe die Kinder durch zweckmässige Fragen so, dass sie die Gesetze, Regeln und Lösungen von selbst finden, wobei es selbstverständlich ist, dass er die nötigen Sacherklärungen gibt und durch Zwischenfragen nachhilft.

Besondere Aufmerksamkeit widmete Heer dem Zusammenhang zwischen Kopfrechnen und schriftlichem Rechnen sowie der  Verbindung zwischen reiner Zahlenlehre und der Anwendung. Für den Rechenunterricht auf der Elementarstufe empfahl  er eine gute, gründliche und dem Entwicklungsgrad des Kindes und der Natur des Gegenstandes angepasste Methode. Die Elementarstufe unterscheide sich von der wissenschaftlichen dadurch, dass sie vom Einzelnen, Besonderen, Konkreten ausgehe und nur langsam, lückenlos und stufenweise unter ständiger Berücksichtigung der allmählich erstarkenden kindlichen „Fassungskraft“ und des gewonnenen Standpunktes vom Anschaulichen zum Begrifflichen, vom Einzelnen und Besonderen zum Allgemeinen, vom Konkreten zum Abstrakten fortschreite und dann erst nach erstiegener Höhe die Definitionen und allgemeinen Sätze als letztes, selbstgefundenes Resultat hinstelle. Der Lehrer leite bloss die Übungen und führe die Kinder durch zweckmässige Fragen so, dass sie die Gesetze, Regeln und Lösungen von selbst finden, wobei es selbstverständlich ist, dass er die nötigen Sacherklärungen gibt und durch Zwischenfragen nachhilft.

Fazit

Wenn wir die Frage beantworten wollen, ob unsere Volksschule noch fortschrittlich ist, müssen wir die bisherigen Zustände kennen, damit wir vergleichen können. Ohne diesen Vergleich laufen wir Gefahr, dass der Fortschrittsbegriff bei angestrebten Neuerungen den betreibenden Interessengruppen zur Rechtfertigung und Durchsetzung ihrer Ideen dient, unabhängig von ihrem tatsächlichen Nutzen.

Peter Aebersold

 

Quellen:

Methodisches Lehrbuch des Denkrechnens, sowohl im Kopfe als mit Ziffern, für Volksschulen. Erster Theil. Die reine Zahlenlehre, methodisch dargestellt für Volksschulen. Verlag Friedrich Schulthess, Zürich 1836

Oswald Heer, J. J. Blumer-Heer: Schulwesen. In: Der Kanton Glarus, historisch-geographisch-statistisch geschildert von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Huber und Compagnie, St. Gallen 1846, Seiten 522–538.

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