14. Oktober 2024
Integrations-Debatte

Die integrative Schule im Licht der emanzipatorischen Pädagogik

Die integrative Schule wurde im Laufe der letzten 15 Jahre eingeführt. Die Aufnahme von Kindern mit Beeinträchtigungen in Regelklassen bringt jedoch grosse Probleme mit sich. Die Geister scheiden sich. Die einen halten die integrative Schule für gescheitert und wünschen sich Kleinklassen zurück. Die andern sind vom Konzept überzeugt, anerkennen jedoch die Schwierigkeiten und fordern Abhilfe in Form von besseren Ressourcen und optimierter Ausbildung der Lehrpersonen. Eine Analyse unseres Condorcet-Autors Felix Schmutz.

Die UNO-Konvention und ihre Folgen

 Die Grundlage für die Reform bildet die UNO-Behindertenrechtskonvention von 2006. Diese postuliert im Artikel 24 – Bildung (1):

Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen…

Wie dieses Prinzip konkret umgesetzt werden soll, bedarf der Auslegung. Grundsätzlich stehen sich zwei Modelle gegenüber: das kompensatorische und das emanzipatorische.

Felix Schmutz, Lehrer im Ruhestand, Baselland

Schon vor der Annahme dieser UNO-Konvention erhielten Kinder mit Beeinträchtigungen in der Schweiz besondere Unterstützung und gezielte Förderung: Therapeutische Programme, Betreuung in Kleinklassen und in Fremdsprachenklassen, geschützte Arbeitsplätze, wobei das Ziel jeweils die bestmögliche Integration in die Gesellschaft und in die Berufswelt war.

Vom Charakter her waren es kompensatorische Massnahmen: Störungen, Behinderungen wurden als Defizite erkannt, die den Bildungserfolg erschwerten. Sie sollten gezielt angegangen werden, damit die Partizipation in Gesellschaft und Beruf gelingen konnte. Übertritte in Regelklassen wurden vollzogen, wenn die Aussicht bestand, dass Kinder und Jugendliche ihr Handicap soweit im Griff hatten, dass sie den Anforderungen im Regelbetrieb entsprechen konnten.

So gesehen, entsprach die schweizerische Bildungspolitik der UNO-Konvention durchaus schon lange. Verbesserungen drängten sich immer wieder auf, doch grundsätzlich wäre ein Systemwechsel nicht nötig gewesen, um die Konvention zu erfüllen. Ein grosser Teil der Kinder und Jugendlichen konnte von diesen Hilfsprogrammen profitieren und sich in die Berufswelt integrieren.

Allerdings genügte das System vielen Akteuren im Bildungssektor nicht. Nach ihrer strengen Auslegung wurde der Weg über Kleinklassen als «diskriminierend» und «stigmatisierend», als «separierend» und «ungerecht» kritisiert. Mit der Platzierung in speziellen Schulungsangeboten würden Lernende «aussortiert» und ins soziale Bildungsabseits gestellt. Die Kritiker beriefen sich auf Studien, die angeblich beweisen würden, dass die Aussortierten in Regelklassen mit entsprechender Hilfe bessere Bildungschancen bekämen.

Hier würde auf eine Welt vorbereitet, in der Differenz nicht willkommen sei, in der eine bürgerliche Leistungsgesellschaft als Norm gelte, der sich alle zu unterwerfen hätten. Diversität komme in dieser Welt nicht vor.

Die Kritik traf jedoch letztlich nicht nur die Art, wie mit beeinträchtigten Kindern umgegangen wurde, sondern auch die traditionelle Schule als Ganzes. Hier würde auf eine Welt vorbereitet, in der Differenz nicht willkommen sei, in der eine bürgerliche Leistungsgesellschaft als Norm gelte, der sich alle zu unterwerfen hätten. Diversität komme in dieser Welt nicht vor. Wer den Normen nicht entspreche, werde ausgeschieden. Den Kritikern kam die Behindertenkonvention insofern entgegen, als sie nun schulpolitische Forderungen mit Berufung auf das Abkommen durchsetzen konnten.

Der Leitgedanke war die gemeinsame Einschulung aller Kinder in Regelklassen, ungeachtet ihrer Bedürfnisse, in der Überzeugung, die organisatorisch verordnete Gemeinsamkeit, die Inklusion, sei der eigentliche Schlüssel zur Integration in die Gesellschaft.

Integration war nicht mehr das Fernziel der schulischen Grundbildung.

Integration war nicht mehr das Fernziel der schulischen Grundbildung, das je nach Bedürfnissen der Kinder in unterschiedlichen Institutionen erreicht werden sollte. Der Leitgedanke war die gemeinsame Einschulung aller Kinder in Regelklassen, ungeachtet ihrer Bedürfnisse, in der Überzeugung, die organisatorisch verordnete Gemeinsamkeit, die Inklusion, sei der eigentliche Schlüssel zur Integration in die Gesellschaft. Die nötige Hilfe sollten sie weiterhin bekommen durch spezielle Betreuungsmassnahmen im Rahmen des regulären Schulbetriebs, soweit überhaupt nötig. Entsprechende Ressourcen wurden den Schulen versprochen.

Der Paradigmenwechsel

 Was zunächst als organisatorische Massnahme im Dienst der Chancengerechtigkeit erschien, war in Wirklichkeit ein Paradigmenwechsel von der kompensatorischen zur emanzipatorischen Schulbildung. Die Schwierigkeiten, die das Konzept in der Praxis mit sich brachte, müssen auf diesem Hintergrund gesehen werden.

Um das zu verstehen, kann ein Abstecher in die Alltagswelt nützlich sein. So verlangte die Behindertenkonvention, dass unüberwindliche Barrieren für Behinderte beseitigt werden. Z.B. sollten ÖV-Haltestellen auch für Rollstuhlfahrer und ältere Menschen keine Hürden mehr darstellen. Bisher mussten die Chauffeure aussteigen, eine Rampe ausfahren, damit Rollstuhlfahrer an einer geeigneten Stelle in Bus oder Tram einsteigen konnten, was eine kompensatorische Massnahme darstellte.

Der Umbau ist eine typisch emanzipatorische Massnahme.

Neu wurden inzwischen bereits viele Haltestellen mit erhöhten Trottoirs versehen, so dass Behinderte und Alte ebenerdig in Bus oder Tram einsteigen können. Allerdings bedeutet der Umbau, dass das Überqueren der Strasse an diesem Ort für alle Menschen erschwert wird, da die Höhe des Trottoirrandes die Gefahr eines verstauchten Fusses mit sich bringt und Velofahrer aufpassen müssen, dass sie mit dem Pedal nicht am hohen Trottoir hängen bleiben.

Der Umbau ist eine typisch emanzipatorische Massnahme. Die Haltestelle wurde so eingerichtet, dass sie für Beeinträchtigte eine Befreiung von einer Hürde bringt, gleichzeitig verändert sie aber auch die Bedingungen für alle andern Verkehrsteilnehmer, schafft sogar Nachteile für sie, Nachteile, die sie mit den früheren Haltestellen nicht hatten. Indem die Welt behindertengerecht eingerichtet wird, schafft man neue Bedingungen – positive und negative – für alle.

Das Beispiel lässt sich leicht auf die integrative Schule übertragen: Emanzipatorische Schulbildung will nicht in erster Linie bei Beeinträchtigten Defizite beseitigen, ihnen das nötige Wissen und die entsprechenden Fähigkeiten vermitteln, sondern ihnen durch die Änderung der schulischen Bedingungen zur Selbstbestimmung und zu besseren Chancen verhelfen. Zu diesen Bedingungen gehören nicht nur die Aufnahme in eine Regelklasse, sondern die generelle Anpassung der Inhalte, Methoden und der Organisation des Unterrichts für alle Kinder. Regelschüler müssen lernen, mit den Eigenheiten der andern umzugehen, die Gruppe der Lernschwachen oder Störenden als Teil einer neu definierten Klassengemeinschaft anzunehmen, die Nachteile für sich in Kauf zu nehmen. Denn so muss eine Welt sein, in der Diversität nicht an den Rand gedrängt wird, sondern als gleichberechtigter Teil dazugehört.

Die Nachteile sollen mit provisorischen Massnahmen gemildert werden: Mehr finanzielle und personale Ressourcen, kein gemeinsamer Unterricht mehr, sondern Individualisierung, Kinder tragen Kopfhörer gegen den Lärm, arbeiten auf dem Gang oder werden zeitweise auf «Lerninseln» geschickt, werden individuell von Heilpädagoginnen betreut, arbeiten am Laptop, dürfen sich im Hof austoben, etc.

Nur das erklärt, warum das Chaos in integrativen Klassenzimmern, die Überforderung vieler Lehrpersonen nicht zum sofortigen Abbruch der Übung «integrative Schule» geführt haben. Das Chaos wird als Erscheinung des emanzipativen Konzepts in Kauf genommen. Das Konzept soll die traditionelle Schulwelt an die Beeinträchtigten anpassen, denn sie gehören dazu. Damit ist die integrative Schule nicht mehr mit der herkömmlichen zu vergleichen. Dass die emanzipatorische Auslegung der Behindertenkonvention utopische Züge haben kann, hat Hermann Giesecke nachgewiesen. (2)

Die Nachteile sollen mit provisorischen Massnahmen gemildert werden: Mehr finanzielle und personale Ressourcen, kein gemeinsamer Unterricht mehr, sondern Individualisierung, Kinder tragen Kopfhörer gegen den Lärm, arbeiten auf dem Gang oder werden zeitweise auf «Lerninseln» geschickt, werden individuell von Heilpädagoginnen betreut, arbeiten am Laptop, dürfen sich im Hof austoben, etc. Damit hofft man, das sinkende Schiff wieder seetüchtig zu kriegen. Dass sich durch solche Praktiken, welche die Klassengemeinschaft als Lerngruppe zwangsläufig teilweise auflösen, wieder Separierung und Diskriminierung einschleicht, blenden die Befürworter aus.

Selbst die Kritiker der integrativen Schule betonen, dass sie kein Zurück zu früheren Zuständen wollen, möchten jedoch wenigsten die Kinder, die sich gar nicht einfügen können oder vollständig überfordert sind, separat beschulen lassen. Im Grunde zeigt sich, dass die beiden gegensätzlichen Philosophien der kompensatorischen und der emanzipatorischen Bildung die Fachleute und die Eltern in zwei Lager spalten. Das politische Hick-Hack um die integrative Schule wurzelt in diesem ideologischen Gegensatz: Eingliederung in die bestehende Welt durch kompensatorische Bildung oder Umgestaltung der schulischen Gemeinschaft zum Modell einer besseren Welt, in der sich die Beeinträchtigten emanzipieren können.

Tatsächlich haben beide Lösungen ihre Vor- und Nachteile, wie die Metastudie von Dalgaard et al. von 2022 zeigt. (3) Augenblicklich geht der Trend in Richtung Emanzipation bis zu einer Schmerzgrenze. Wenn diese überschritten wird, greift man wohl oder übel auf kompensatorische Mittel zurück, sofern die Ressourcen vorhanden sind. Kinder und Jugendliche dürften sich mit beiden Formen abfinden und darin gedeihen können, wenn ein angenehmes Unterrichtsklima herrscht und sie sich sozial aufgehoben fühlen. Diese Bedingungen sind jedoch im emanzipatorischen Modell selten einzulösen, während sie sich im kompensatorischen System leichter und mit weniger Aufwand herstellen lassen.

(1) Vereinte Nationen, Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Abgeschlossen in New York am 13. Dezember 2006, https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2014/245/de

(2) Hermann Giesecke, Warum ich gegen inklusive Schulen bin, Die zerstörerische Naivität ideologisch motivierter Schulreformen 2017

(3) Dalgaard, N. T., Bondebjerg, A., Viinholt, B. C. A., & Filges, T. (2022). The effects of inclusion on academic achievement, socioemotional development and wellbeing of children with special educational needs. Campbell Systematic Reviews, e1291. https://doi.org/10.1002/cl2.1291

 

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Ein Kommentar

  1. Felix Schmutz ist es gelungen, das integrative und das separative Schulmodell in einem klugen Vergleich geschichtlich und philosophisch überzeugend einzuordnen. Man merkt beim Autor, dass er die Schulrealität ins Zentrum stellt und von ideologischen Ansätzen, die auf die Utopie einer völlig individualisierten Schule zielen, wenig hält.

    Die Erfolge der beiden Förderklassen-Initiativen in Basel und Zürich haben schlagartig gezeigt, dass es rund um die schulische Integration gewaltig brodelt. 15 Jahre lang hat man mit laufend gesteigertem Aufwand versucht, Kinder mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen in die Regelklassen zu integrieren. Die Resultate dieser Bemühungen in vielen Klassen waren ernüchternd, ja in manchen Schulen gar erschütternd. Dank dem Zustandekommen der beiden Initiativen ist jetzt gewaltiger Druck entstanden, endlich tragfähige Lösungen zu finden. Mit utopischen Versprechungen aller Art werden sich die Kritiker der inklusiven Schule nicht mehr beruhigen lassen.

    Irritierend in der aktuellen Diskussion ist die Position des LCH und einiger kantonaler Lehrerverbände. Man scheut sich einzugestehen, dass ein radikal umgesetztes Ideal einer Schule für restlos alle Bedürfnisse unser Schulsystem überfordert. Doch dieser verkrampfte Idealismus hilft niemandem. Der Preis dafür ist Chaos in vielen Klassen, erschöpfte Lehrkräfte und unglückliche Integrationsschüler. Nichts gegen die als Alternative vorgeschlagenen Schulinseln, die in gewissen Fällen Schüler stabilisieren können. Aber solange Förderklassen als mögliches Grundangebot in Schulen von den meisten Verbänden vehement abgelehnt werden, kommen wir keinen Schritt weiter.

    Wie wäre es, wenn der LCH oder die kantonalen Lehrerverbände unter ihren Mitgliedern Befragungen zu zukunftsweisenden Schulmodellen mit und ohne Förderklassen durchführen würden? Die vorgeschlagenen Modelle müssten allerdings die Gewähr bieten, auch innert nützlicher Frist umgesetzt werden zu können. Mit finanziell und personell unerfüllbaren Forderungen wie bisher würden sich die Schulen nur in die nächste Sackgasse manövrieren. Die Lehrerverbände sind jetzt zweifellos gefordert, klare Haltungen zu vertreten, wenn sie ihre schulpolitische Bedeutung nicht verspielen wollen.

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