Kinder sind keine Autos
Die Umwandlung der Schule in einen Zulieferbetrieb für die Industrie – wie von der UNO-Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) seit den 1960-er Jahren angestrebt – widerspricht aber der Geschichte und Tradition unseres Bildungswesens. In der Schule geht es – im Unterschied zur Wirtschaft – nicht um Kundenzufriedenheit, sondern um einen Bildungsauftrag. Kinder sind keine Autos, die man nach Standards fertigt. Am Beispiel des Qualitäts-Managements der Volksschule des Kantons St. Gallen zeigt Krautz, wie nahe sich die Schule bereits an wirtschaftliche Organisationsformen angenähert hat. Jede Hierarchiestufe ist verantwortlich für die «Produktion» von Daten (Evaluation, Feedback, Testsysteme), die weitergereicht werden. Eindrücklich ist auch, wie in Fragen der Schulqualität die eigentlich zentrale Rolle der Lehrpersonen zurückgestuft wird. Die Lehrerinnen und Lehrer sind für die «Lernprozesssteuerung» gemäss den Direktiven von oben zuständig – ihre eigene professionelle Expertise wird dadurch entwertet. Dabei wissen wir doch, dass pädagogische Qualität nicht durch Bürokratisierung und Formalisierung erreicht werden kann.
Wie konnte es soweit kommen?
Dass es nicht einfach ist, eine jahrhundertealte pädagogische Tradition umzukehren, zeigen die Strategien, die dabei angewendet werden. Die Initialzündung lieferte PISA: Um den Druck auf die staatlichen Bildungswesen zu erhöhen, wurden in den Mitgliedstaaten Testserien durchgeführt, welche grundverschiedene Schulsysteme ohne Rücksicht auf ihre Lehrpläne in bestimmten, wirtschaftlich relevanten Fähigkeiten vergleichen. Die Wirkung der breit in den Medien veröffentlichten Resultate verstärkte den Anpassungsdruck auf die nationalen Bildungswesen. Fortan gilt es, im Wettbewerb zwischen den Ländern mitzuhalten. Demokratisch legitimierte Lehrpläne werden durch kompetenzorientierte ersetzt, wobei der Fokus auf der praktischen Anwendbarkeit des Stoffes liegt. Dazu werden die Lerninhalte in Tausende von Kompetenzen zerstückelt, welche alle einzeln überprüfbar sind. Dieser Paradigmenwechsel vom ganzheitlichen, humanistisch geprägten Bildungsideal zu einem funktionalen Bildungsbegriff erfolgte auch in einem Land wie der Schweiz mit ihren ausgebauten Volksrechten nahezu reibungslos.
Als weitere Etappenziele in dieser Entwicklung erwähnt Krautz Methoden wie Classroom Walkthrough und dem aus der Wirtschaft bekannten Change Management. Beide Techniken sollen durch manipulativen Druck den Widerstand der Lehrer brechen. Wer Fragen stellt, wird an den Pranger gestellt und gilt als Ewiggestriger. In den Kollegien werden Angst und eine Kultur der vorauseilenden Anpassung erzeugt. Aus selbständig denkenden, zur kritischen Reflexion fähigen Lehrkräften entstehen so Marionetten der Bildungsbürokratie. Die staatlichen Bildungswesen werden nun von ausserstaatlichen, der demokratischen Kontrolle entrückten, Institutionen konkurrenziert, welche die angestrebten Veränderungen jeweils als alternativlos bezeichnen.
Begleitet wird der Wechsel von schönfärberischen, inflationär verwendeten Begriffen wie Individualisierung und selbstorganisiertes Lernen. Man denkt, jedes Kind werde nun individuell gefördert, doch in Wirklichkeit werden die Kinder separiert, jedes lernt nun allein am Wochenplan oder am Computer. Es wird eben gerade nicht individualisiert, sondern sozial atomisiert. Die für das Lernen unabdingbare Beziehungs-Komponente wird unterbrochen. Beim selbstorganisierten Lernen findet gar kein gemeinsamer Unterricht mehr statt. Es bildet eine Vorstufe zur Digitalisierung im Grossraumbüro mit gegenseitiger Kontrolle. Die Hauptaufgabe der Lehrer beschränkt sich dabei noch auf das Kopieren und die Hilfestellung bei Computerproblemen. Die inhaltlichen Inputs werden als digitale Häppchen in unterschiedlichen Zeitintervallen an die einzelnen Schüler weitergereicht.
Gefährdete Demokratie
Die oben genannten Veränderungen im Unterricht haben Folgen: Die Lehrer werden zu blossen Coaches degradiert und deprofessionalisiert. Ihre pädagogische Freiheit (Methoden, Lehrmittel) wird eingeschränkt. Die Förderung rein anwendungsbezogener Inhalte führt zu einem Abbau von Wissen und Können bei den Schülern. Dabei werden ausgerechnet die Schwachen geschwächt. Wer es sich leisten kann, bedient sich ausserhalb der öffentlichen Schule: Privatschulen, Nachhilfeunterricht und vermehrte elterliche Unterstützung sind die Folge. Unsere anspruchsvolle direkte Demokratie benötigt Bürger, welche die elementaren Kulturtechniken beherrschen. Eine transparente Bildungspolitik ohne manipulative Gängelung wird so zum staatstragenden Akt.
Wer den Gebrauch der Freiheit fürchtet, ist ihr heimlicher Gegner
Was tun?
Angesichts der ernsten Lage müssen wir Lehrerinnen und Lehrer uns auf unsere Professionalität besinnen und uns nicht durch Kopien aus Management-Seminaren zu Befehlsempfängern degradieren lassen. Wir als Lehrer und Lehrerinnen sind gefordert unsere Position mit Selbstvertrauen und Beharrlichkeit gegenüber den Steuerungsorganen zu erklären. Die Kunst des Unterrichtens erfordert in erster Linie die Freiheit, unser Wissen und Können auch anzuwenden. Oder wie Carl Bossard zusammenfasst: «Wer den Gebrauch der Freiheit fürchtet, ist ihr heimlicher Gegner. Man muss sich Freiheit nehmen. Man muss sie wollen und sie erkämpfen – erst recht in ungewissen und bedrohlichen Zeiten.»
Vielen Dank für den interessanten Artikel – nur einen Kommentar. OECD ist meines Wissens keine UN-Organisation, sondern einfach eine internationale Organisation ehre reicher Länder.