Von Disziplinen und Fächern

Tausendkünstler*in

Immanuel Kant warnt in seiner «Grundlegung zur Metaphysik der Sitten» davor, zu viele Geschäfte zugleich zu treiben. Denn wo «jeder ein Tausendkünstler» sei, da würden «die Gewerbe noch in der größten Barbarei» liegen. Dagegen hätten alle «Gewerbe, Handwerke und Künste» durch «die Verteilung der Arbeiten gewonnen», um sie besser und mit mehr Leichtigkeit leisten zu können.

Die Figur des Tausendkünstlers geistert durch alle Epochen und alle Berufsgruppen. Seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert sind Wissenschaftler besonders anfällig für diese Form der Barbarei. Das Psychoprofil ist relativ einfach: Wir haben einen begabten Physiker, Biologen, Hirnforscher, Arzt, Soziologen oder Philosophen, der auf seinem angestammten Fachgebiet Grosses leistet und im Erfolg dann plötzlich vergisst, zu unterscheiden, was er wirklich weiss und was nicht.

Die Undiszipliniertheit ist unterschiedlich ausgeprägt. Im harmloseren Fall beschränkt sich der moderne Tausendkünstler auf den Wissenschaftsbetrieb. Er will eine Einheitswissenschaft, Antworten auf alle Welträtsel, eine Weltformel. Im schlimmeren Fall zeigt sein Verhalten eine politische Note. Der Tausendkünstler beschliesst, die Gesellschaft zu therapieren. Moral und Bildung sind beliebte Kampfplätze. Seine Zukunftsversprechen zielen auf das Ganze. Er wirbt etwa für einen neurowissenschaftlichen Masterplan, um die Gesellschaft von Kriminellen zu säubern oder Kinder für die Leistungsgesellschaft fit zu machen. Im Extremfall steigert sich der Tausendkünstler ins Revolutionäre. Er propagiert nun die Erlösung von Weltproblemen, etwa von der sozialen Ungerechtigkeit oder dem menschlichen Leiden.

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war das Tausendkünstlertum eine klassische Männerdomäne. Heutzutage ergänzt die Tausendkünstler*in die Szenerie. Im Kern bleiben die Allmachtsphantasien die gleichen, links wie rechts, männlich wie weiblich wie divers. Kants Empfehlung bleibt darum aktuell: Verteilung der Arbeiten. Das bedeutet mehr Debatten, mehr Kompromisse, aber auch mehr Qualität und weniger Barbarei.

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Die Ethnologin Susanne Schröter steht unter Druck – Wissenschaft ist auch eine Charakterfrage

Während seit einer Woche alle Welt über Boris Palmers Auftritt auf einer wissenschaftlichen Konferenz diskutiert, spielt sich in deren Hintergrund etwas viel Gewichtigeres ab. Mehr als einhundert Wissenschaftler haben sich verbündet, um eine Kollegin mundtot zu machen. Und die eigentlich zuständige Hochschulleitung schweigt darüber. Mathias Brodkorb, ehemaliger Finanz- und danach Kultusminister in Mecklenburg-Vorpommern, Mitglied der SPD und Kolumnist in der Monatszeitschrift Cicero, veteidigt in diesem Beitrag die Lehrfreiheit.

Sehnsucht nach der ganz normalen Schule

Die Schule ist zu einer Therapieanstalt verkommen. Das verdirbt den Kindern nicht nur den Spass, es versperrt auch den Blick auf das, was Schule sein sollte: Ein Ort des Lernens, Wetteiferns, des Umfallens, des Wiederaufstehens, der Sozialisierung und nicht zuletzt der Emanzipation. Erinnerungen der Condorcet-Autorin Claudia Wirz, einer ehedem ganz normalen Schülerin, die froh ist, dass sie nicht heute zur Schule gehen muss.

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert