Schule aus der Froschperspektive sieht anders aus

Der Bericht des jungen Lehrers B. “Wo holistische Modelle scheitern: Ein Unterrichtsprotokoll” hat Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz bewegt. Er fordert die Erziehungswissenschaftler auf, bisweilen die erhabene Adlerperspektive zu verlassen, um die Details und Realitäten des Schulalltags wieder in den Blick zu bekommen.

Hanspeter Amstutz
Bild: Fabü

Im Gastbeitrag des Condorcet-Blogs “Wo holistische Modelle scheitern” (vom 25.2.2020) wird eine Situation geschildert, wie sie kompetente Fachlehrkräfte in den tieferen Niveaus der Sekundarschule leider gar nicht so selten antreffen. Sicher ist das Unterrichtsprotokoll des Lehrers B. eher ein Extremfall. Aber es genügt, wenn in Regelklassen mit zwanzig Schülern drei oder vier Auffällige bestens vorbereitete Physikübungen mit unsozialem Verhalten durcheinanderbringen. Wut und Frustration sind gross, wenn sorgfältig geplanter Unterricht durch dumme Bemerkungen Einzelner völlig aus den Fugen gerät. Wer als junger Lehrer mit einem Rucksack voller Schönwetterpädagogik vor einer Klasse tritt, ist doppelt gefährdet. Je anspruchsvoller der Unterricht bezüglich der Eigenverantwortung der Schüler ist, desto wichtiger ist es, dass eine Klasse zuerst einmal weiss, was zielgerichtetes Arbeiten konkret bedeutet.

Wirksame Methoden gelten als rückständig

Doch da liegt der Hase im Pfeffer. Die meisten Pädagogischen Hochschulen sind nicht bekannt dafür, dass sie einer souveränen Klassenführung und den erzieherischen Aufgaben die höchste Aufmerksamkeit schenken. Viel lieber werden neue didaktische Konzepte entwickelt, die auf Klassen mit guter Disziplin aufbauen. Besonders ärgerlich dabei ist, dass eine derart wichtige pädagogische Vorleistung oft mit Methoden, die als rückständig gelten, in Verbindung gebracht wird. Ja, wer in sehr unruhigen Klassen zuerst einmal einiges an erzieherischer Schwerarbeit leistet und eine Klasse mit viel Frontalunterricht zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen lässt, ist oft ungerechtfertigter Kritik ausgesetzt.

Die meisten wollen nicht zu einer vorzeitigen Selbständigkeit im Lernen verurteilt werden, wenn ein Lernbereich durch eine kompetente Lehrperson viel einfacher erschlossen werden kann.

Grosser Schaden

Schüler fragen nicht nach Dogmen.
Bild: api

Die Geringschätzung dieser fundamentalen Aufgabe richtet gewaltigen Schaden in unseren Schulen an. Manche ausgezeichnete Lehrformen mit starker erzieherischer Wirkung werden heute vernachlässigt, weil sie scheinbar nicht zu aktuellen Dogmen in den Erziehungswissenschaften passen. Doch unsere Schüler fragen nicht nach Dogmen. Sie möchten Lehrerinnen und Lehrer, die mit Können und Begeisterung eine Klasse führen. Jugendliche wollen sich durch direkte Instruktion in anschaulicher Weise Neues aneignen und sind bereit, mit Einsatz zu üben, wenn sie gut motiviert werden. Sie freuen sich auf spannende Geschichten und aufregende Experimente im naturwissenschaftlichen Unterricht. Aber die meisten wollen nicht zu einer vorzeitigen Selbständigkeit im Lernen verurteilt werden, wenn ein Lernbereich durch eine kompetente Lehrperson viel einfacher erschlossen werden kann.

Reissbrett-Ideen versus Wirkung

Es ist an der Zeit, dass Erziehungswissenschaftler die alltägliche Arbeit unserer Lehrerinnen und Lehrer wieder stärker aus der Froschperspektive betrachten. Als Adler hoch über dem Geschehen zu kreisen und dabei nicht genau zu sehen, was unten im Detail abläuft, muss ein erhebendes Gefühl sein. Auch als Lehrer möchte man da ab und zu mitfliegen. Auf diese Weise behält man das ganze Schulgeschehen besser im Auge und ist offen für neue Ideen. Doch es ist ein Skandal, wenn engagiert arbeitende Lehrerinnen und Lehrer mit schrägen Blicken diffamiert werden, nur weil sie nicht auf bewährte Lehr- und Lernmethoden verzichten wollen. Reden wir endlich mehr von der Wirkung von Methoden im Unterricht statt von ihrer vermeintlichen Grossartigkeit auf dem Reissbrett!

 

 

 

 

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