29. April 2024
Schulnoten

Ist die Abschaffung von Noten eine sinnvolle Reform?

Philippe Wampfler setzt sich seit Jahren für die Abschaffung der Schulnoten ein. Im folgenden Beitrag setzt er sich mit den Gegnern auseinander und erklärt, dass die Abschaffung der Noten auch weitere überfällige Schulreformen in Gang bringen würden. Der Artikel ist auf der Homepage von Herrn Wampfler erschienen und erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Philippe Wampfler, Lehrer in der Kantonsschule Enge und Experte für Lernen mit Neuen Medien: Kein isolierter Reformschritt.

Diese Woche sind in zwei rechten Publikation in der Schweiz kritische Artikel zur Frage erschienen, ob Noten abgeschafft werden sollen. Das ist erfreulich: Es bedeutet, dass diese politische Bewegung so viel Gewicht hat, dass sie wahrgenommen (und bekämpft wird).

In der NZZ paraphrasiert Katharina Fontana die Argumente konservativer Lehrer (ausschließlich Männer): Die Schule brauche keine weiteren Grossbaustellen, und ohne Noten oder Selektion werde sie in keiner Weise besser.

In seinem Newsletter fordert (Paywall) der Nebelspalter-Chefredaktor Markus Somm in zwei Folgen, Reformen an Schulen einzustellen, weil die PISA-Ergebnisse immer schlechter würden: Würde man dann nicht meinen, es wäre Zeit, einmal innezuhalten? Und eine mit Daten abgestützte Bilanz zu ziehen? Befreit man diese Standpunkte von ihrer Polemik und ihrer ideologischen Rahmung, dann bestehen sie aus einem Argument, das durchaus geprüft werden muss: Könnte es sein, dass die Reformschritte, die von Noten wegführen, so aufwändig sind, dass die erhofften Resultate daneben vernachlässigbar sind?

Dazu möchte ich folgende Gedanken anbieten:

Noten abschaffen ist kein isolierter Reformschritt. Er ist eingebunden in Bestrebungen, schulisches Lernen mit persönlicher Sinnstiftung anzureichern, Schüler:innen stärker einzubeziehen, individueller auf ihre Bedürfnisse einzugehen, Kompetenzen in den Vordergrund zu stellen und Schulen vom Selektionsauftrag wegzubringen. Nimmt man all das ernst, dann ist die Abschaffung von Noten keine Reform an sich, sondern die Konsequenz aus bereits erfolgten und umgesetzten Reformen.

Noten abschaffen ist eine Entlastung für alle.

Noten sind ein Stress für Lernende, Lehrende und auch für die Eltern. In der Diskussion wird oft darauf hingewiesen, dass Alternativen mit viel Aufwand verbunden sind, teilweise mit mehr Aufwand. Das stimmt nicht notwendigerweise: Es ist problemlos denkbar, die durch das Wegfallen des Bewertungszwangs freiwerdende Energie in Feedback-Prozesse zu investieren, die für Lehrer:innen und Schüler:innen einen Wert haben. Die Abschaffung von Noten ist einer der wenigen Vorschläge für eine Verbesserung der Schulen, die nicht mit einem zusätzlichen Aufwand verbunden ist.

Notenverzicht führt zu automatischen Reformen.

Viele der pädagogischen Ideen, die hinter bereits angestrebten Reformen stehen, sollen die Lernqualität verbessern. Viele sind nicht konsequent umgesetzt, nicht genau verstanden oder stehen im Widerspruch zu anderen Funktionen der Schule. Würden Noten wegfallen, würde das viele dieser Projekte vorantreiben, ohne dass das zusätzlicher Steuerung oder Mittel bedürfte. Warum? Orientieren sich Lehrpersonen in ihrer Unterrichtsplanung nicht an Bewertungen und Prüfungen, fokussieren sie automatisch auf Lernprozesse. Sie müssen sich der Frage stellen, wozu und wie Schüler:innen lernen – Prüfungen ersetzen diese Frage. Zudem werden sie automatisch mehr Leistungen von Schüler:innen wahrnehmen, ihr Selbstvertrauen stärken – statt nach Fehlern zu suchen.

Der Wahn der Messbarkeit

Somm und andere verweisen verzweifelt auf die PISA-Studie um ihr Bauchgefühl, die heutige Schule sei schlechter als die, welche sie selber besucht haben, irgendwie objektiv auszudrücken. Dahinter steckt dasselbe Problem wie hinter Noten: Die falsche Vorstellung, die Qualität menschlicher Aktivitäten wie Unterricht oder Lernen ließen sich über Zahlenwerte ausdrücken. Die Lese- und Rechenfähigkeiten von Schüler:innen stehen in komplexen Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen, beruflichen und medialen Transformationen. Sie davon gelöst isoliert zu messen und zu vergleichen – das sagt nichts über die Qualität von Schule aus.

Verbindet man diese Überlegungen, dann ist die Abschaffung von Noten nicht eine weitere, möglicherweise falsche Reform. Sie ist eine längst überfällige, einfach umzusetzende Anpassung, die Energien freisetzt. Die Befürchtung, dadurch sinke die Qualität von Schule und das Kompetenzniveau von Schüler:innen, ist ein konservativer Teufel, der immer wieder an die Wand gemalt wird. Eine ganzheitliche Betrachtung der Schule und ihrer Qualitäten berücksichtigt, dass sinnvolle und angstfreies Lernen für das Leben von Schüler:innen Auswirkungen hat, die sich nicht über Leistungstests in Mathe und Deutsch erfassen lassen.

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10 Kommentare

  1. Ich sehe schon ein, dass wir hier einen Diskurs pflegen möchten. Aber dazu gehört doch, dass jemand außer hohlen Behauptungen und Wunschvorstellungen auch zumindest ansatzweise ein Argument vorbringen kann. Dass sich ein solches Argument in einen Text von Herrn Wampfl:er (m/w/d) verirrt, konnte ich bisher aber nicht feststellen. Hier gibt es nur ein lauwarmes Lüftchen.

    1. Ich habe im Text versucht, das sachliche Argument der Gegenseite herauszuschälen und darauf zu antworten. Weshalb versuchst du das nicht auch? Würde doch mehr bringen, als hier einfach Unmut auszudrücken.

  2. 1) In den letzten Jahrzehnten wurde reformiert wie noch nie in der Geschichte der Schule.
    2) Wirklich niemand – auch nicht die grössten Optimisten und -innen – behauptet, dass die Schülerinnen und Schüler heute besser lesen, schreiben, rechnen (und denken!) können als vor den Reformen.

    Dass dem so ist, liegt gemäss dem Autor eben daran, dass die Reformen nur halbherzig umgesetzt wurden…
    Achja: und wenn die Messergebnisse nicht das Erwünschte zeigen, erklärt man die Sache kurzerhand für nicht messbar.

    Das erinnert an einen Regentanz, dessen erwünschtes Ergebnis ausbleibt, weil nicht inbrünstig genug getanzt wurde.

  3. Herr Wampfler erklärt, Noten verhinderten die Umsetzung von Reformen. Er unterstellt, wegen der Noten orientierten sich Lehrpersonen «an Bewertungen und Prüfungen», anstatt auf «Lernprozesse zu fokussieren». Ohne Noten müssten sie sich der Frage stellen, «wozu und wie Schüler:innen lernen», Prüfungen «ersetzen diese Frage».

    Ist sich Herr Wampfler bewusst, dass er damit ausgebildete und erfahrene Lehrpersonen aufs Gröbste in ihrer Berufsehre beleidigt? Das Lernen, die didaktische und methodische Vorbereitung des Unterrichts, das Vermitteln von Wissen und Fertigkeiten, der Einsatz von Lehrmitteln und Medien stehen seit je im Zentrum der pädagogischen Berufsvorbereitung im Anschluss an die fachliche Grundausbildung.

    Des Weiteren irrt Herr Wampfler, wenn er die Noten und die Prüfungen zu einem Popanz hochstilisiert, der Lernen regelrecht verhindere. Jedes Lernen folgt in definierten Abschnitten oder Schritten. Um die Fortschritte zu erfassen, werden Zwischentests durchgeführt. Diese Tests zeigen an, wie gut der behandelte Abschnitt begriffen und gelernt wurde. Noten – gleichgültig ob Zahlen, Buchstaben oder Prozente – haben den grossen Vorteil, dass sie erlauben, den eigenen Lernfortschritt mit einem Blick auf einer Skala verorten zu können. Prädikate wie «erreicht» oder «teilweise erreicht» erlauben keinen solchen Vergleichsrahmen.

    Noten haben einen unschätzbaren Wert für die Motivation. Teenager zwischen 11 und 16 müssen Dinge lernen, für die sie keinerlei intrinsische Motivation besitzen, die aber für ihre schulische, berufliche oder private Zukunft unentbehrlich sind. Andere Interessen stehen Jugendlichen oft im Wege und hindern sie am Lernen. Lieber hängen sie irgendwo herum oder verlieren sich in Computerspielen. Noten bilden hier eine Möglichkeit, Druck aufzubauen, damit sie anderes hintanstellen und sich an eine gewisse Regelmässigkeit im Lernen gewöhnen. Das mag unpopulär tönen, ist aber Realität.

    Noten sind dabei keine absolute, geeichte Messgrösse. Sie entstehen aus dem vorhergehenden Unterricht und zeigen an, wie gut der behandelte Stoff verstanden wurde, wie ernsthaft jemand sich am Unterricht beteiligt hat. Sie sind Momentaufnahmen und nur aus dem Unterrichtszusammenhang erklärbar. Die Zeugnisnote bietet dann den Überblick über die Lernfortschritte während eines Semesters. Mehr nicht!

    Eine weitere Unterstellung ist, dass sich Lehrpersonen bei ihren Rückmeldungen mit Noten begnügen würden. Ich zeige Herrn Wampfler gerne meine Aufsatzkorrekturen, bei denen ausführliche Anregungen und Kommentare für die Überarbeitung enthalten sind. Selbstverständlich gehören alle Prüfungen besprochen, damit aus allfälligen Problemen und Mängeln gelernt werden kann. Prüfungen und ihre Besprechungen sind Teil des Lernprozesses. Wenn Herr Wampfler dies bisher nicht wusste, fragt man sich, wo er seine Lehrerausbildung absolviert hat.

    Einen Widerspruch müsste Herr Wampfler noch auflösen: Er wehrt sich gegen Prüfungen, fordert aber gleichzeitig einen Unterricht, der auf Kompetenzen ausgerichtet ist. Man müsste ihn daran erinnern, dass Kompetenzen als überprüfbare Fähigkeiten definiert sind. Eine Kompetenz kann nur ausweisen, wer dies mit der Lösung einer Problemaufgabe dokumentieren kann. PISA, der wir die Kompetenzorientierung verdanken, ist nichts anderes als eine Prüfung.

      1. Wie der Text sagt, auf diejenige von PISA und diejenige des Lehrplans 21, was nicht immer derjenigen von Franz E. Weinert oder Eckhard Klieme entspricht: Lehrplan, standardisierte Tests, PISA prüfen einzelne Fähigkeiten, Weinert und Klieme meinen schulisch erworbene Potenziale. In beiden Fällen wird getestet, getestet, gemessen, gemessen und auf Kompetenzen rückgeschlossen. Intelligenz und Kompetenz sind Konstrukte, die es nur geben kann, wenn vorher getestet wurde.

          1. Erstens reden wir nicht von Berufsbildung, sondern vom Lehrplan 21. Zweitens gibt es in der Berufslehre nicht nur Zwischenpr[üfungen, sondern auch eine gesalzene Lehrabschlussprüfung. Drittens: Was verstehen Sie unter “nachgewiesen”? Das ist schlicht ein anderes Wort für “überprüft”.
            Wie weisen Sie eine Kompetenz nach? Indem Sie eine Aufgabe stellen und schauen, ob der Kandidat oder die Kandidatin diese lösen kann. Das nennt man “Prüfung”. Schon bei Robert F. Mager (Lernziele und Unterricht, Weinheim 1978) lesen Sie (S. 69): “Eine Zielbeschreibung [mit kann] bezeichnet immer eine Tätikgkeit, etwas, was der Lernende TUT, wenn er zeigt, dass er das Unterrichtsziel beherrscht.” Das gilt auch für Kompetenz. Ohne Tatbeweis keine Kompetenz. Der Tatbeweis ist die Prüfung. Passt wohl nicht in Ihr Konzept, ist aber reine Logik.

  4. Ich als Frau werde in meinem Umfeld nicht müde, zu betonen, wie fatal ein Abschaffen von Noten wäre. Dass sich gerade Männer dazu geäussert haben, tut hier deshalb überhaupt nichts zur Sache («ausschliesslich Männer»). Solche Zuschreibungen sind polemisch.
    Als Mutter (Frau) weiss ich um die Bedeutung von Noten. Es tut unseren Kindern nicht gut, wenn wir aus ihnen Snowflakes mit Individualbehandlung machen. So kann nicht einmal mehr ein Schneeball entstehen…
    Viele Kinder wollen sich messen. Wie sollen Kinder auf das künftige Leben vorbereitet werden? Woher sollen sie die Motivation nehmen, sich anzustrengen? Wie sollen bildungsnahe Eltern von ihren gamenden Sprösslingen (Beispiel Somm) schulische Leistung einfordern? Viele Erwachsene verfügen nicht über genügend intrinsische Motivation. Wieso erwarten wir dies von unseren Kindern? Wenn wir Noten abschaffen wollen, sollten wir auch über den Kinder- und Jugendsport sprechen. Folgerichtig müssten wir ¬- statt die Zeit zu messen – jedem jungen Wettkampfteilnehmenden ein schriftliches Feedback über seine Leistung in die Hände drücken.
    Ich bin befremdet über die Stimmungsmache gegen Noten. Der Lehrplan 21 ist ein Disaster. Und jetzt soll das Disaster 2.0 angepackt werden? Wenn es so weitergeht, wäre ich dafür, die Schweiz analog zu den Klimaseniorinnen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu zerren. Die Schweiz verhindert durch ein sich ständig reformierendes Schulsystem die Bildung unserer Jugend und verletzt so die Menschenrechte.

  5. Immerhin muss man feststellen, dass Herr Wampfler im Gegensatz zu den “Plauderis”, wie Berger, Minder, Müller oder Tschopp, intellektuell schon eine andere Nummer ist. Da möchte ich auch dem Kollegen Lemmermeyer widersprechen. Philipp Wampfler hat ein relativ klares Konzept, wie die Volksschule und auch das Gymnasium, wo er arbeitet, künftig funktionieren sollen. Die Notenabschaffung ist für seine Vision unerlässlich, ja eine Voraussetzung. Inwieweit Kompetenzraster, computergestützte Individualisierung und der Verzicht auf jegliche Gliederung praxistauglich sind, darüber kann man diskutieren. Manchmal erschwert Philipp Wampfler den Zugang zu seiner Argumentation mit seinem etwas kindischen Framing. Ich bin zwar gegenüber seinen Ideen skeptisch, fühle mich aber überhaupt nicht als rechts.

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