27. Dezember 2025
Der letzte Schrei

Schule 2040+ – SmartLearn.CH und LearnEarn+

Wie werden Schule und Unterricht im übernächsten Jahrzehnt aussehen? Lernen ohne Anstrengung? Denken ohne Tiefe? Wissenserwerb ohne Widerstand? Zweiminütige Lektionen? Benjamin Hänni wagt einen Blick in die Zukunft, der verunsichert: Ist das Satire oder wird das doch Realität werden?

Schule in den 2040er Jahren: Wie 20 Jahre davor von den renommiertesten Bildungs- und Zukunftsforschern vorhergesagt, liegt die mittlere Aufmerksamkeitsspanne von Kindern und Jugendlichen inzwischen knapp unter jener eines Goldfischs, dafür deutlich über der eines durchschnittlich konzentrierten Eichhörnchens im Herbst. Vorausschauend wie immer, war von der EDK deswegen ein weiteres nationales Reformprogramm für die Volksschule durchgesetzt worden: SmartLearn.CH – das adaptive Bildungserlebnis. 2039 wurde es flächendeckend eingeführt.

Benjamin Hänni, Mitglied der Geschäftsleitung des lvb.

SmartLearn.CH steht für eine Schule, welche die Kinder und Jugendlichen dort abholt, wo sie stehen – oder eher sitzen bzw. liegen: vor dem Bildschirm nämlich. Anstelle von Fachinhalten stehen Erlebnisdichte-, Emotionsfrequenz- und didaktische Reizsättigungskompetenz pro Sekunde im Zentrum. Den herkömmlichen Studiengang zur Lehrperson an der PH FHNW gibt es nicht mehr. Stattdessen werden «Edufluencer» generiert, im Zentrum der Ausbildung steht die interaktive Reizdidaktik (IRD).

Ein zentrales Modul von SmartLearn.CH ist das neue pädagogische Belohnungssystem LearnEarn+ – ein Motivationsinstrument, das laut Bundesamt für Bildung und Dopamin (BBD) «die Lernfreude nachhaltig steigert». Kinder sammeln beim Lernen BrainCoins, Fokus-Kristalle und Serotonin-Tokens, je nachdem, wie oft sie den Satz «Ich bin voll im Flow!» leise in ihr Headset flüstern.

Wer genug Punkte erreicht hat, kann sich im EduShop Upgrades freischalten:

  • Schneller Denken – temporär 15 Sekunden Konzentration am Stück
  • Instant Memory Boost – eine Schulwoche lang Vokabeln merken, bevor sie gelöscht werden
  • Avatar Customizer Deluxe – leuchtende Flügel für erfolgreiche Teilnahmen an Mathe-Reels

Wer die Aufgaben dagegen zu langsam löst, bekommt eine freundliche Push-Meldung: «Du verlierst Energie. Poste deine Lernfreude für einen Boost!»

Der offizielle Slogan von SmartLearn.CH lautet: «Lernen macht süchtig!» Und tatsächlich: Viele Kinder melden Entzugserscheinungen in den Ferien. Im modernen Bildungsmonitoring gilt dies als messbarer Erfolg.

Der Lehrplan 21 ist längst Geschichte. Der Lehrplan 2040+ folgt vier klaren Prinzipien – den vier K des digitalen Zeitalters:

  • Klickkompetenz: Alles, was sich anklicken oder swipen lässt, ist Bildung.
  • Kurzzeitgedächtnis: Wissen ist flüchtig, es bleibt nur bis zum nächsten Swipe.
  • Komfortlernen: Jede Aufgabe wird automatisch ans persönliche Wohlfühlniveau angepasst. Kein Stress, kein Scheitern, kein Schweiss.
  • Konsumkreativität: Kreativ ist, wer Inhalte neu filtert oder auch einmal eine neue Filterblase ausprobiert.

Die Inhalte selbst wurden radikal entschlackt. Photosynthese? Innert sieben Sekunden erklärt: «Pflanze trinkt Sonne – CO2 weg – O2 Check!» Geschichte? Wird als Reaction-Video vermittelt. Napoleon? «Kleiner Typ, grosses Ego – wait for Part 2!» Grammatik? Nur noch als #GlowUpChallenge.

Besonders innovativ und beliebt sind diverse neue Unterrichtsformate: Mathe-Dance-Challenges (Brüche mit Breakdance), die ClimateChangeGlowUp-Kampagne (CO2 in Modeideen verwandeln) und natürlich die History-Roast-Night, bei der berühmte Persönlichkeiten gegeneinander antreten – Julius Caesar vs. Marie Curie, KI-generiert und gestreamt auf EduTok–Live, wahlweise in 3D.

Die Rolle der Edufluencer ist natürlich eine ganz andere als jene früherer Lehrpersonen. Sie drehen Lernclips, posten Unterrichts-Teaser und kämpfen um Reichweite. An der PH FHNW heissen die Module «Storytelling mit Lippenfilter», «Didaktik-Shock-Content» und «Wie ich meine Klasse mit Soundeffekten in den Fokus-Modus setze».

Der didaktische Grundsatz lautet: «Kannst du es in sechs Sekunden nicht erklären, war es eh zu kompliziert.» Denn Schule soll ein Ort sein, wo Lernen inspiriert – oder zumindest viral geht. Bekommt ein 13-Jähriger dank der #PythagorasDanceChallenge drei Millionen Likes, ist das auch eine Form von Bildungserfolg.

Praxisbericht aus einer Schule, die gemäss Audit 2040+ die Exzellenz-Stufe erreicht hat: Montag, 9.30 Uhr, August 2041. Die Sonne blendet durch die Smartglass-Fassade des EduHeadquarters (ehemals: Schulhaus), während die individualisierten Lernwaben von der KI-gesteuerten «Morningmood Lighting»-App sanft in beruhigendes Pastell getaucht werden. Der Edufluencer öffnet das HoloBoard und ruft «Guten Morgen!» – 40 Avatare nicken synchron.

Die Lektion dauert zwei Minuten. Eine längere Dauer ist pädagogisch nicht mehr vertretbar. Denn seit der grossen Bildungsreform von 2039 gilt: Konzentration ist ein knappes Gut und eine Lektion darf nicht länger dauern als der durchschnittliche TikTok-Clip. Die Lerneinheiten wurden daher in «Microbursts of Learning™» unterteilt – maximal zwei Minuten lang und alle 0.85 Sekunden durch einen neuen audio-visuellen Reiz gekennzeichnet.

Der Unterricht ist präzise getaktet: Fünfzehn Sekunden Warm-up-Tanz (Pflichtmodul «Social Engagement»), dreissig Sekunden Content-Hook (mit Explosion oder Tränen, je nach Fach), vierzig Sekunden Challenge-Phase, in der die Lernenden ein Video schauen, und zum Abschluss eine Reflection-Reel, die automatisch von der Edu+-KI ausgewertet wird. Wer in der ersten Sekunde nicht reagiert, bekommt eine Push-Benachrichtigung auf seine VR-Brille: «Deine Aufmerksamkeit sinkt. Möchtest du stattdessen ein Katzenvideo mit Lernbezug sehen?»

So gesehen ist die Schule 2040+ vielleicht gar kein Ort mehr, sondern ein Algorithmus mit guten Absichten – sanft und wohlig weich, freundlich blinkend und stets bemüht, niemanden zu (über)fordern. Lernen ohne Anstrengung, Denken ohne Tiefe, Wissen ohne Widerstand. Endlich!

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