5. Dezember 2025
Archimedes in der Unterstufe

Das Hebelgesetz in der 3. Klasse – geht das?

Condorcet-Autor Alain Pichard, der jahrelang Physik auf der Sekundarstufe unterrichtete, sah sich unvermittelt in der Situation, eine 3. Klasse übernehmen zu müssen, für ihn ein absolutes Neuland. Wie kann man physikalische Gesetze 9-jährigen Kindern verständlich machen? Er wagte es. Hier sein Bericht.

Auch wenn ich meine verehrten Mathematikkollegen im Condorcet-Blog – Bernhard Krötz, Mario Gerwig oder Hans Bandelt – nun etwas verärgere, bekenne ich, dass ich in den Naturwissenschaften stets einen narrativen Ansatz wählte, um den Jugendlichen physikalische Zusammenhänge näherzubringen. Demokrit und Marie Curie in der Atomlehre, Lavoisier als Wegbereiter der modernen Chemie oder eben Archimedes als Türöffner für die Mechanik. Mein Bestreben war, dass ich mich mit den Schülerinnen und Schülern auf eine wissenschaftliche Entdeckungsreise begab, die durch die Leistungen herausragender Wissenschaftler vorangetrieben worden waren.

Alain Pichard, Lehrer, Grossrat, Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Auch in der Naturwissenschaft wähle ich einen narrativen Ansatz.

Die Vorlage war für mich das faszinierende Werk “Der Aufstieg des Menschen” von Jacob Bronowski, einem polnisch amerikanischen Mathematiker. Es wurde in den 70ger Jahren in einer sehenswerten BBC-Reihe verfilmt. Sie eröffnete mir in jungen Jahren den Schlüssel zur Wissenschaftsgeschichte und beeinflusste auch meine Tätigkeit als Vermittler der Naturwissenschaft.

«Abenteuer mit Archimedes» hiess ein Physikbuch aus der ehemaligen DDR, das mir in den 70er-Jahren in die Hände fiel. Man las darin die Lebensgeschichten eines Isaac Newton, eines Galileo Galileis oder eben eines Archimedes und gelangte neben vielen historischen Bezügen und biografischen Angaben sehr anschaulich zu komplexen physikalischen Gesetzen und deren Berechnungen. Die ideologisch motivierten marxistischen Einflechtungen konnte man getrost weglassen. Didaktisch interessant ist dieser Ansatz, weil es meinen Schülerinnen und Schülern erlaubt, jeweils den Menschheitsprozess des Fortschritts, die Fragen von Unwissenden angesichts von Naturphänomenen und das harte Erkunden durch Beobachtungen und Experimente zu durchlaufen. Die «Krone des Hieron» beispielsweise ist ein Krimi der Antike, welcher am Schluss der Türöffner zum Verständnis des «spezifischen Gewichts» oder – korrekter ausgedrückt – «der Dichte» von Stoffen war. Warum sollte die spannende Geschichte des Griechen Archimedes nicht auch 3. Klässlern vermittelbar sein?

Man soll vorsichtig sein mit Superlativen, wenn es um Leistungen von Wissenschaftlern geht. Aber für mich gehört Archimedes von Syrakus zu den genialsten Forschern der Wissenschaftsgeschichte. Bereits 200 Jahre vor Christus berechnete er den Durchmesser von Sonne und Mond und die Grösse eines Sandkorns. Er ermittelte die Näherungswerte der Kreiszahl, begründete die Infinitesimalrechnung und er löste eines der grössten Probleme der euklidischen Geometrie: Er berechnete das Volumen einer Kugel. Er formulierte das Auftriebsgesetz und das Hebelgesetz.

Als Universalgelehrter beschränkte er sich aber nicht auf Lösungen theoretischer Probleme. Er trieb auch den technischen Fortschritt voran. Man sah ihn des Öfteren auf den Werften seiner Heimatstadt, wie er die Tätigkeiten der Arbeiter und Sklaven beobachtete. Die Erkenntnisse, die er dabei gewann, setzte er in erstaunliche Ingenieurleistungen um. Er erfand allerlei Gerätschaften wie die Zahnräder oder die archimedische Schraube, ein Fördersystem, das heute noch verwendet wird. «Gebt mir einen Hebel, der lang genug ist, und ich werde euch die Welt aus den Angeln heben», soll er gesagt haben. Aus dem wissenschaftlichen Bonmot entstand schliesslich der Flaschenzug.

Auch das tragische Ende des Archimedes gibt einiges her, um das Interesse der Jugendlichen und Kinder zu wecken und dabei elementare physikalische Zusammenhänge zu verstehen. Als die Römer Syrakus im Jahre 202 vor Chr. belagerten, machten sie Bekanntschaft mit damals völlig unbekannten Verteidigungsanlagen. Archimedes entwarf präzise Katapulte, mit Schildern produzierte Brennglas-Prozesse und eine gigantische archimedische Metallkralle. Dies forderte von den Römern einen gewaltigen Blutzoll. Die Belagerung dauerte schliesslich zwei Jahre, bevor die Stadt durch Unachtsamkeit und mittels Verrats dann doch noch in die Hände der Römer fiel. Der römische Befehlshaber gab seinen frustrierten und auf Rache sinnenden Legionären den Befehl mit: «Bringt mir diesen Wissenschaftler lebend!»

Der Ausgang ist bekannt. Drei Legionäre entdeckten einen alten Mann am Strand, der mit einem Stab Kreise in den Sand zeichnete. Als sich einer der Soldaten vor ihn stellte, um ihn zu fragen, wer er sei und was er da mache, antwortete Archimedes mit dem legendären Spruch: «Störe meine Kreise nicht!» Kinder lieben Geschichten. Als ich den 3. Klässlern den tödlichen Schwerthieb des Legionärs dramatisch und kunstvoll erzählte, sah ich Tränen in einzelnen Augen. Und natürlich kam sofort die Frage, was denn mit diesem Schuft passierte. Er hatte doch den Befehl, Archimedes am Leben zu lassen.

Vor dem dramatischen Ende aber ging es um Physik. In der Turnhalle wurden Schaukeln gebaut, in Aquarien wurde untersucht, was denn nun schwimmt, und was nicht. Im nahen Schwimmbad konnten die Kinder im Ansatz das Auftriebsgesetz erleben. Und dann, als die ersten phänomenologischen Erkenntnisse in den Köpfen waren, ging es um handfeste Berechnungen. Dazu konstruierte ich im Werken mit den Schülerinnen und Schülern eine kleine Schaukel mit eingravierten Massen. Mit Zweifrankenmünzen in genügender Zahl bei der Post geholt, konnten die Schüler das Gesetz rudimentär erkennen. Den begabtesten Kids gelang es sogar, das eigentliche Gesetz und leichte Gleichungen zu lösen.

 

Ermutigt durch die Begeisterung und den Lernzuwachs wagte ich mich sogar an die Krone des Hieron. Natürlich blieb ich hier im Phänomenologischen stecken. Dass Silber aufgrund der kleineren Dichte ein grösseres Volumen erfordert und dadurch mehr Wasser verdrängt, war auch den intelligentesten Kindern nicht zu vermitteln. Dass aber Schiffe auch mit Eisen schwimmen können, wenn man ihnen einen Hohlraum gibt, haben die meisten verstanden.

Der narrative Ansatz im Physikunterricht hat mich auch an elementare didaktische Prozesse erinnert. Der Konstruktivismus, der ja besagt, dass sich die Kinder ihre eigenen Lösungswege erschliessen müssen, durch entdeckendes Lernen und individualisierten Unterricht, ist in Einzelbereichen eine verlockende und sicher auch nachhaltige Lehrmethode. Der Physiker und Pädagoge Martin Wagenschein erklärte dies ja durchaus zu einem didaktischen Prinzip. Wenn man sich aber überlegt, wie lange die Menschheit gebraucht hat, um beispielsweise das Hebelgesetz oder das Auftriebsgesetz zu verstehen und in einen Alltag umzusetzen, dann wird einem klar, dass es in einem schulischen Kontext ohne direkte Instruktion und einem geführten wissenschaftlichen Dialog nicht geht. Ein PP-Präsentation kann hier heruntergeladen werden: https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2025/09/Archimedes.pptx

 

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2 Kommentare

  1. Grossartig, so sollte Physikunterricht sein. Klar, später darf dann auch die Sprache der Natur nicht vergessen werden: Die Mathematik!
    Ein weiteres Beispiel ist der freie Fall. Ein 3.Klässler kann verstehen, wieso nicht die Masse die Fallbeschleunigung bestimmt. Vorgehen: 2 gleiche Bälle nehmen. Beide einzeln aus gleicher Höhe fallenlassen und fragen, welcher Ball schneller unten ist. Dann dasselbe mit den 2 Bällen gleichzeitig ausführen. Mal im Abstand von 2m zueinander mit gestreckten Armen, dann nahe beieinander und wieder die Frage: Sind beide gleich schnell unten?
    Dann: Mit einem Stück Klebband die Bälle zusammenkleben. Ändert die Fallzeit? Nein. Also: Doppelte Masse ändert nichts an der Fallbeschleunigung.
    Für Fortgeschrittene: Ein flaches Stück Pappe nehmen, gleichzeitig mit dem Ball fallenlassen. Mal hochkant, mal quer fallenlassen. Die Masse ist gleich geblieben, nicht aber die Angriffsfläche für die Luft…
    Als Erinnerung sollte das auch auf der Oberstufe, dem Gymnasium wenn nicht gar an der Uni demonstriert werden!

  2. Hier wird offensichtlich ein Unterricht beschrieben, der im besten Sinne allgemeinbildend ist. Die in der Überschrift gestellte Frage ist allerdings überflüssig – das Hebelgesetz wird immer wieder in der Grundschule Thema: Man google etwa “Rechenwaage”.

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