22. Dezember 2024
Newsletter der Starken Volksschule Zürich

Die bestmögliche Bildung für jedes Kind

Für den aktuellen Newsletter der Starken Volksschule Zürich, zeigt sich die Berufsschullehrerin Marianne Wüthrich verantwortlich.

Zur Podiumsdiskussion der Starken Volksschule Zürich am nächsten Donnerstag tut ein Einstieg not, der die pädagogisch-psychologische Richtung für die Förder- oder Kleinklassen-Debatte weist: Anzustreben ist nicht die «Separation von Störern», sondern eine bestmögliche Bildung für jedes Kind. – Nicht weniger brennend ist eine gründliche Einführung unserer Jugend in die Schweizer Staatskunde und die politische Entscheidungsfindung. In der Schule sollen nicht nur gute Grundlagenkenntnisse vermittelt, sondern auch die Fähigkeit zur direktdemokratischen Teilhabe in Gemeinde, Kanton und Bund gelegt werden.

Marianne Wüthrich: Jedes Kind hat Anspruch auf eine Schulbildung, die diesen Namen verdient

Im Zentrum von Förder- oder Kleinklassen muss das Wohl des Kindes stehen!

Über die Kantonale «Volksinitiative für eine Schule mit Zukunft – fördern statt überfordern» spuken verschiedene Kommentare herum, die dem Anliegen der Initianten in keiner Weise gerecht werden. Sie wolle «schwierige Schüler wieder separieren», behauptet der Tages-Anzeiger schon im Lead («Jetzt geht der Streit um die Kleinklassen im Kanton Zürich richtig los»). Das ZLV-Präsidium lehnt die Initiative gar ab – ohne seine Mitglieder zu fragen! – und lobt Silvia Steiners «Schulinseln» als «niederschwellige Lösung». In Wirklichkeit fehlt bei der vorübergehenden Unterbringung in einer anderen Klasse oder einem Sammelraum mit Betreuung die Zeit und der Anspruch, mit dem Kind in Beziehung zu treten und es zum Lernen zu gewinnen. «Niederschwellige Lösungen» sind weder Lösungen für das einzelne Kind noch beheben sie die grundsätzlichen Mängel des Integrations- und Inklusionsmodells.

Jedes Kind hat Anspruch auf eine Schulbildung, die diesen Namen verdient

Genau dieses Ziel verfolgt die kantonale Förderinitiative. Sie will, dass Förderklassen eingerichtet werden, in die Schülerinnen und Schüler eingeteilt werden, «die kleinere Lerngruppen benötigen, um sich entfalten zu können, oder Schülerinnen und Schüler, die wegen ihres auffälligen Verhaltens nicht oder vorübergehend nicht in eine Regelklasse integriert werden können». Alle Kinder im Kanton Zürich sollen «bei Bedarf Zugang zu heilpädagogisch geführten Förderklassen haben». Dort sollen sie nicht nur parkiert werden, weil sie in den Regelklassen stören, sondern von einer eigen­ständigen Klassenlehrerin unterrichtet werden. In einer ruhigen und von Beziehung und Verständnis geprägten Lernsituation vermag sich manch ein Kind allmählich dem Lernen zuzuwenden. Der Aufenthalt in der Förderklasse soll gemäss Initiative mindestens ein Semester lang dauern, denn der Aufbau einer Lernbeziehung braucht Zeit. Ziel ist der Wiedereinstieg in die Regelklasse (Durchläs­sigkeit), sobald das Kind dazu genügend gefestigt ist.

Die Leserbriefe von Kinderarzt Dr. Arnold Bächler und Heilpädagogin Renate Dünki zum Gastkommentar «Medizin statt Pädagogik» von Eliane Perret (siehe letzter Newsletter) fokussieren auf das Wohl des Kindes. Zum Einstieg in die Podiumsdiskussion vom 11. April ist deren Lektüre empfehlenswert.

Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme.

Politische Bildung: Die Schüler für die demokratische Teilhabe begeistern

Mario Andreotti spricht mir mit seinem Aufruf für ein eigenständiges Fach «Staatskunde und Politik» aus dem Herzen. Wie er festhält, eignet sich dafür die Sekundarstufe II, also die Berufsschule und das Gymnasium, besonders, weil die Jugendlichen schon bald abstimmen und wählen können. In der Oberstufe der Volksschule würde ich eher von einem zusätzlichen Fach abraten, denn dort benötigen die Jugendlichen zuallererst eine breite Bildung in den Grundlagenfächern als Vorbereitung für eine Berufslehre oder eine weiterführende Schule.

Das Interesse und die Wissbegier ist ganz besonders im Bereich Staatskunde und Politik bei den meisten Jugendlichen riesig.

Als Berufsschullehrerin liess ich mich wie viele andere Kolleginnen auch nach der Zusammenlegung der Fächer zum Sammelfach Allgemeinbildung nicht davon abhalten, meine Klassen in die faszinierende Welt des Schweizer Staatssystems einzuführen. Wie Mario Andreotti habe ich die Erfahrung gemacht, dass die meisten meiner Schüler – nicht nur diejenigen ausländischer Herkunft! – wenig über «den Aufbau und die Funktionsweise unseres Staates und über die politischen Rechte und Pflichten seiner Bürgerinnen und Bürger» wussten. Was mich immer wieder gefreut und beeindruckt hat: Das Interesse und die Wissbegier ist ganz besonders im Bereich Staatskunde und Politik bei den meisten Jugendlichen riesig.

Die eigene Gemeinde kennen lernen und Zeitung lesen

In einigen Klassen verfassten meine Schüler eine Reportage in Wort und Bild zu ihrer Wohngemeinde. Da gab es einige, die noch nie im Gemeindezentrum oder im Stadthaus gewesen waren. Sie besuchten das Einwohneramt, die Stadtpolizei oder den Werkhof, einer interviewte seinen Gemeindepräsidenten und erfuhr von ihm, wie die Gemeinde organisiert ist. Andere machten sich kundig, wie die Abstimmungen und Wahlen organisiert werden. Nach dem 18. Geburtstag besuchten Schüler aus kleineren Gemeinden die Gemeindeversammlung. Durch die spannenden Gespräche in der Klasse und das gegenseitige Kennenlernen der Reportagen verloren viele die Scheu vor den Ämtern, so dass sie sich auch als Erwachsene getrauen werden, beim Steueramt anzurufen, wenn sie Rat benötigen.

Mit den meisten Klassen las ich eine Zeit lang jede Woche in einer Regional- oder Tageszeitung. Damit weiteten sich unsere Diskussionen über die Gemeinde hinaus auf den Kanton, den Bund und ausländische Themen aus. Heute, wo viele Jugendliche sich nur durch Schlagzeilen auf dem Handy über die Politik informieren, ist es von grosser Wichtigkeit, sie fürs Zeitungslesen zu gewinnen, sei es auch nur in 20Minuten. Dabei stellte ich nicht selten fest, dass dort zuweilen etwas Schlaueres steht als in den «Qualitätsmedien».

Das Schweizer Staatssystem kennenlernen

Im Zentrum des Staatskundeunterrichts muss der Aufbau der Schweiz stehen: Im Minimum die Aufgaben des Staates, die drei Staatsgewalten auf den drei Staatsebenen, die Entstehung eines Gesetzes (mit Initiative und Referendum), die Wahlen und Abstimmungen, die Rechte und Pflichten der Bürger. Die Staatskundelehrmittel wurden mit den Jahren immer unbrauchbarer, aber mit der Broschüre aus der Bundeskanzlei: «Der Bund kurz erklärt» (als Klassensätze erhältlich) können die wichtigsten Grundkenntnisse erarbeitet werden.

Die meisten ausländischen Jugendlichen, die eine Lehre machen, sind schon vorher mit ihrer Familie eingebürgert worden oder bewerben sich während der Berufsausbildung selbst um die Einbürgerung. Viele bezeichneten sich selbst als «Papierli-Schwiizer». Ihnen hielt ich entgegen: «Deshalb lernen Sie in der Staatskunde die Schweiz besser kennen, dann sind Sie kein ‘Papierli-Schwiizer’ mehr.» Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals einer meiner einbürgerungswilligen Schüler abgewiesen worden wäre, obwohl manch einer «grottenschlecht» Deutsch konnte. «Wenn er eine Berufslehre erfolgreich durchsteht, dann ist er integriert», sagte mir ein Gemeindebeamte. Es hat etwas: Mit weit mehr Stolz als viele gebürtige Schweizer erzählten sie zum Beispiel, dass sie das erste Mal abstimmen waren oder nach der Lehre in die RS gehen werden.

Das Abstimmungsbüechli lesen und Wahlzettel panaschieren und kumulieren

In Bern erhielt man, jedenfalls vor zehn Jahren, auch Klassensätze vom Abstimmungsbüechli, die ich mit jeder meiner Klassen immer einmal wieder durchging, oft auf Wunsch der Schüler. In der Sekundarstufe II kann man sich notfalls auch digital einlesen. «Sind Sie dafür oder dagegen?», wollten einige jeweils zu Beginn wissen. «Wisst ihr denn, worum es geht?» fragte ich zurück? Einige hatten nur ein paar Schlagworte auf dem Handy gelesen. Es gab aber auch Schülerinnen, bei denen zuhause beim Abendessen oder beim Znüni im Lehrbetrieb über politische Fragen diskutiert wurde. Ob auf Papier oder digital: Die meisten Jugendlichen trauen sich nicht zu, auf eigene Faust die Abstimmungsinfos zu lesen. Es ist Aufgabe der Staatskundelehrerin, ihnen zu zeigen, dass es gar nicht so kompliziert ist. Die Einwände der Referendumsgegner oder der Parlamentsminderheit sind übrigens meistens das Erste, was die Schüler interessiert.

Zum Thema Wahlen brachte ich mein dickes Bündel von den letzten Nationalratswahlen mit, und es machte Spass, eine der Listen mit Kumulieren, Panaschieren und Streichen zu bearbeiten. Mit den kleinen Ständeratswahlzetteln und den ellenlangen Zürcher Nationalratslisten war es nicht schwierig, den Unterschied von Majorz- und Proporzwahlen zu lernen und zu überlegen, wo welches System Sinn macht.

Auch das Verstehen politischer Zusammenhänge lernt man am besten in der Klassengemeinschaft

Am wenigsten erfolgreich waren meine Versuche, die Schüler zu zweit am Computer eine politische Partei erforschen zu lassen. Obwohl sie sehr motiviert waren, die Partei selbst auswählen durften und deren Standpunkte zu vorher abgemachten Themen sauber herunterluden und in kreativen Power-Point-Präsentationen der Klasse vorführten.

Zu den erfreulichsten Erinnerungen als Berufsschullehrerin gehört es, dass sich beim Abschied vor der Lehrabschlussprüfung immer wieder Schüler – besonders ausländischer Herkunft – dafür bedankten, was sie im Staatskundeunterricht gelernt hatten. «Wenn ich in mein Land zurückgehe, erzähle ich meinen Kollegen und Verwandten, wie die Demokratie funktioniert», so ein Schüler aus dem Kosovo. Die Einführung in den Schweizer Staat ist nicht nur unverzichtbar für die Heranführung der Jugend zur Teilhabe als Bürger am direktdemokratischen Gemeinwesen, sondern auch für eine gelungene Integration der Jugendlichen aus anderen Ländern und Kulturen.

Lesen Sie zum Abschluss die Gedanken unseres «Hauspädagogen» Carl Bossard zur Bedeutung einer verantwortungsbewussten Bildungspolitik. Sie soll sich der Schule und der Behebung ihrer Defizite annehmen, statt von den Lehrerverbände und Hochschuldozenten Wunder zu erwarten.

Eigentlich wollte ich diesmal ganz kurz bleiben – aber ich hoffe trotz der Länge des Vorwortes, dass Sie es mit Vergnügen lesen.

Marianne Wüthrich

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