Condorcet
Frau Bourgeois, die Initiative lässt es den Gemeinden offen, wieder Förderklassen einzuführen. Sie verpflichtet sie aber, diese bei Bedarf zur Verfügung zu stellen. Wer entscheidet über den Bedarf?
Yasmine Bourgeois
Das ist in der Regel die Schulpflege. Sie ist vor Ort und kennt die Verhältnisse, da sie mit Schulleitung und Lehrkräften laufend direkt in Verbindung steht.
Mit anderen Worten, die Gemeinden können auch auf die Einführung der Förderklassen verzichten?
Wenn kein Bedarf herrscht, ist das so. Die Initiative will den Entscheid den Leuten an Ort überlassen und respektiert die Gemeindeautonomie. Wenn aber ein Bedürfnis besteht, muss sie es tun.
Und was passiert, wenn die Förderklasse zwar eröffnet wird, die Eltern aber auf der integrierten Schulung bestehen?
Man kann die Eltern nicht zwingen. Ich bin aber überzeugt, dass sich viele Widerstände im direkten Gespräch lösen lassen werden. Die Förderklasse ist ja nicht nur als Entlastung für die Regelklassen und deren Lehrpersonal gedacht, sondern sie berücksichtigt vor allem auch die spezifischen Bedürfnisse der betroffenen Kinder.
Die Zuteilung in eine Förderklasse bringt den Kindern den dringend benötigten Schutzraum. Es geht hier keinesfalls um ein Abschieben.
Glauben Sie? Sie werden doch stigmatisiert, wenn sie in Förderklassen abgeschoben werden.
Die Zuteilung in eine Förderklasse bringt den Kindern den dringend benötigten Schutzraum. Es geht hier keinesfalls um ein Abschieben. Die Kinder erhalten eine angepasste Förderung, werden von Heilpädagogen unterrichtet und können verlässliche Beziehungen aufbauen. In vielen inkludierten Schulen erfahren die schwächeren und die verhaltensauffälligen Kinder eine alltägliche Stigmatisierung, was häufig auch der Grund für eine verstärkte Verhaltensauffälligkeit ist.
In der gegenwärtigen Debatte geht es ständig um die verhaltensauffälligen Kinder und Jugendlichen. Sie verunmöglichen teilweise einen Unterricht und bringen die Lehrpersonen an den Rand der Belastbarkeit. Wenn ich Sie richtig verstehe, sollte es aber auch Kleinklassen für die schwächeren Schüler geben.
Ja, das ist meine Überzeugung. Denn grundsätzlich müssen die Kinder in der Schule optimal gefördert werden, also ihr Leistungsvermögen ausschöpfen können. Die Gefahr bei diesen Kindern, die sich oft sehr brav und unauffällig benehmen, ist, dass sie untergehen, weil die Lehrkraft viel zu wenig Zeit hat, sich ausgiebig um sie zu kümmern.
Verhaltensauffällige und schwache Kinder in eine einzige Kleinklasse zu versetzen, kann ja auch nicht die Lösung sein. Die schwächeren, aber willigen Kinder drohen unter die Räder zu kommen.
Diese Gefahr besteht immer, ist aber in der Regelklasse viel ausgeprägter. Die Initiative überlässt es den Behörden, hier die praktikablen Lösungen zu finden. Aber vergessen Sie nicht, diese zukünftigen Förderklassen werden von Heilpädagogen geführt, also von Profis, die genau für diese Situationen ausgebildet sind.
Im Prinzip haben wir im Kanton Bern dieses Modell, das Sie in Zürich einführen wollen, schon längstens. Die linke Stadt Biel zum Beispiel hat Kleinklassen und niemand in dieser Stadt will sie abschaffen. Warum tut man sich in Zürich so schwer mit diesem Anliegen?
Viele Lehrkräfte sowie ein Grossteil der Eltern – kurz ein grosser Teil der Bevölkerung – haben schon längstens eingesehen, dass die Verabsolutierung des Inklusionsgedanken ein Irrweg ist. Es ist diese Allianz von einem Teil der Wissenschaft, Politik und Verwaltung, die das noch nicht einsehen und handeln will.
Warum nicht?
Niemand gibt gerne zu, dass er sich geirrt hat…
Diese Studie bemängelt übrigens auch die Qualität vieler Studien. Viele sind Auftragsstudien. Die sind genauso mit Vorsicht zu geniessen, wie wenn der TCS eine Studie in Auftrag gibt, welche die Umweltwirkung von Tempo 30 widerlegen soll.
Immerhin zitieren die Leute dieser Allianz oft die Wissenschaft, nach der es klar sei, dass Inklusion nicht nur humanistisch eine gute Sache sei, sondern auch funktioniere.
Da muss ich Ihnen widersprechen. Erstens ist es nicht die Wissenschaft, sondern ein Teil der Studien, von mir aus auch eine Mehrheit, die zu diesen Befunden kommt. Ich empfehle Ihnen einmal die dänische Studie von Nina T. Dalgaard: «Die Auswirkungen der Inklusion auf
schulische Leistung, sozioemotionale Entwicklung und Wohlbefinden der Kinder mit speziellen Bedürfnissen». Der Befund dieser Metastudie ist – ich zitiere: «Die Wirkung der Platzierung von Kindern mit speziellen Bedürfnissen der Stufen Kindergarten bis Schuljahr 12 in integrierte Klassen ist widersprüchlich [und uneinheitlich]. Erkenntnisse der Übersichtsstudie weisen darauf hin, dass Inklusion insgesamt das Lernen und die psychosoziale Anbindung der Kinder mit speziellen Bedürfnissen in den OECD-Ländern weder verstärkt noch abschwächt.»
Diese Studie bemängelt übrigens auch die Qualität vieler Studien. Viele sind Auftragsstudien. Die sind genauso mit Vorsicht zu geniessen, wie wenn der TCS eine Studie in Auftrag gibt, welche die Umweltwirkung von Tempo 30 widerlegen soll. Oft sind in den Studien auch Gelingensbedingungen formuliert, die nie diskutiert werden und die Forschungen sind meisten nicht „peer reviewed“, also von einer unabhängigen Fachinstanz eines Wissenschaftsmagazins überprüft. Und noch etwas: Die Studien beschränken sich auf die Effekte für Kinder mit speziellen Bedürfnissen. In integrierten Klassen gibt es jedoch eine heterogene Gruppe anderer, normal beschulbarer Kinder. Der eingeengte Blick auf die Benachteiligten schliesst den Aspekt der normal Beschulbaren und den Einbezug von deren Bedürfnissen oft aus, bzw. begnügt sich mit pauschalen Annahmen. Ich halte mich da an die Praxis, den Alltag, und den erlebe ich selbst als Schulleiterin.
Sie sind Mitglied der FDP und als Schulleiterin in der links-dominierten Zürcher-Schullandschaft fast noch seltener als der Apollo-Falter auf unseren Wiesen. Wie politisiert es sich aus dieser Minderheitsposition?
Man könnte mit einem ergänzenden Bild antworten. Der Gegenwind stärkt die Flügel. Man benötigt schon etwas dicke Haut Damit muss ich leben.
Schulleiterin, Mitglied des Gemeinderats, Initiantin einer Volksinitiative und Nationalratskandidatin der FDP… ist das nicht ein wenig viel?
Ja, das stimmt… Ab und zu ist die Belastung enorm. Ich habe ein gutes Umfeld und bin belastbar. Das hilft…
Sie sind Condorcet-Autorin, hilft Ihnen unser Bildungsblog auch?
Er liefert mir wertvolle Informationen und auch Kontakte. Den Heilpädagogen Bonfranchi, der bei unserer Initiative mitwirkt, oder den ehemaligen SP-Präsidenten in Basel, Roland Stark, der in Basel eine ähnliche Initiative lanciert und erfolgreich eingereicht hat, habe ich in Ihrem Blog kennengelernt. Und ja, das muss ich auch feststellen: Im Condorcet-Blog kommen beide Seiten zu Wort. Man erhält auch Gegeninformationen, was die Diskursfähigkeit stärkt.
Frau Bourgeois, wir danken Ihnen für das Gespräch
“Erkenntnisse der Übersichtsstudie weisen darauf hin, dass Inklusion insgesamt das Lernen und die psychosoziale Anbindung der Kinder mit speziellen Bedürfnissen in den OECD-Ländern weder verstärkt noch abschwächt.”
Das ist ein Strohmann. Der Hauptkritikpunkt ist doch, dass das Lernen der Kinder “ohne spezielle Bedürfnisse” vielfach nicht mehr funktioniert.