29. April 2024
Berliner Erfolgsschule

Rund 90 Prozent aus Familien ausländischer Herkunft – alle schaffen den Abschluss

Einer privaten Sekundarschule in Berlin-Wedding gelingt das, woran die staatlichen Nachbarschulen scheitern: Sie bringt alle Jugendlichen zu einem Abschluss – egal, wie wenig Deutsch sie anfangs können oder wie wenig sie in der Grundschule gelernt haben. Was ist ihr Erfolgsrezept? Ein Bericht der Journalistin Freia Peters, der in der WELT erschienen ist.

Die Jugendlichen, die an diesem Morgen in das unscheinbare Schulgebäude in Berlin-Wedding schlendern, sind nicht anders als die in der Nachbarschule ein paar Straßen weiter: Rund 90 Prozent der Schüler stammen aus Familien nicht-deutscher Herkunft. Ebenso viele sind lernmittelbefreit, sie müssen also keine Zuzahlung für Schulbücher leisten, weil ihre Eltern Arbeitslosengeld, Wohngeld oder weitere Sozialtransfers beziehen.

Gastautorin Freia Peters

Und doch blicken die Schüler der Privatschule im Gewerbegebiet gegenüber der Senffabrik einer etwas rosigeren Zukunft entgegen: Sie haben eine bessere Chance auf einen anerkannten Schulabschluss.

Alle Zehntklässler haben im vergangenen Sommer unsere Schule mit einem Abschluss verlassen“, sagt Schulleiter und Quereinsteiger Pantelis Pavlakidis, 37 Jahre alt. Seit fünf Jahren leitet er die freie Quinoa-Schule, die mehr Chancengleichheit bieten will und damit sehr erfolgreich ist.

An den anderen Sekundarschulen in Berlin-Mitte verfehlten im vergangenen Jahr neun Prozent den untersten Abschluss Berufsbildungsreife. Weit mehr als die Hälfte der Schüler hingegen schaffte sogar den mittleren Schulabschluss auf der Quinoa-Schule. Die ist benannt nach der Pflanze, die auch auf kargem Boden gedeiht.

Gute Beziehung zum Lehrer schafft Lernmotivation

Damit die Leistung der Schüler wächst, so der Leitgedanke der Schule, brauchen sie vor allem eine gute Beziehung zum Lehrer. „Je besser diese ist, desto stärker steigt die Leistung. Denn Bindung schafft Lernmotivation“, erklärt Pavlakidis. „Und die Tragfähigkeit der Beziehung verpflichtet auch dazu, sein Bestes zu geben.“ Also hat jeder der 170 Schüler einen Tutor aus dem pädagogischen Team aus Lehrern, Sonderpädagogen und Lerntherapeuten. Die jeweilige Lehrkraft nimmt sich mindestens alle zwei Wochen Zeit und spricht mit seinem Mentor-Schüler: Wie läuft es?

Schulleiter Pantelis Pavlakidis (Bild: Martin U.K. Lengemann/WELT)

Den Lehrern ist das möglich, weil der Bindungsaufbau als Arbeitszeit anerkannt wird – dafür müssen sie weniger unterrichten, bekommen aber auch weniger Gehalt. „Zudem haben wir hier flache Hierarchien und ein sehr kollegiales Klima.“ Das scheint vielen Lehrern wichtiger zu sein als das Gehalt: Wenn Pavlakidis eine freie Stelle zu besetzen hat, kann er sich den besten Kollegen aus mehreren Bewerbungen herausfischen – und das, obwohl für das Schulbudget ständig aufs Neue geworben werden muss: 75 Prozent deckt der Berliner Senat; für den Rest müssen Spenden akquiriert werden.

„Was aber allen gemein ist: Sie wollen, dass ihre Kinder einen Schulabschluss machen.“

Lerntherapeutin Stefanie Böjty-Ohler nimmt all das gerne in Kauf. „Ich habe in den vergangenen Jahren einen guten Einblick in die türkische und arabische Kultur bekommen“, sagt sie. Lange habe sie in einem gut situierten Viertel gearbeitet, viel mit Eltern zu tun gehabt, die ihrem Kind trotz Lese-Rechtschreib-Schwäche unbedingt die dritte Fremdsprache beibringen wollten. An der neuen Schule ergebe ihre Arbeit mehr Sinn. Sie lerne die Familien kennen, besuche ihre Schüler zu Hause. „Die Eltern reagieren sehr unterschiedlich auf mich und unsere Gespräche“, erzählt sie. „Was aber allen gemein ist: Sie wollen, dass ihre Kinder einen Schulabschluss machen.“

Dahin zu kommen sei keine einfache Aufgabe. „Wenn die Schüler in der siebten Klasse zu uns kommen, sind bei einem Großteil der Schüler – circa 80 Prozent – die Rechtschreibleistung und Lesekompetenz unterdurchschnittlich“, sagt Böjty-Ohler, „und was wir dann oft zu hören bekommen ist: ‚Ich kann das eh nicht, ich bin dumm‘. Meine Aufgabe ist es dann erst mal, das Selbstwertgefühl der Schüler zu stärken und zu bekräftigen: Du schaffst das! Wir schaffen das!“

Erst mal flüssig lesen – auch mit Lücken

Böjty-Ohler steigt die Treppe hinauf, hinein in den Klassenraum, in dem der Grundkurs Deutsch der neunten Klasse stattfindet. Die Jugendlichen sind 14, 15 Jahre alt. An den Tischen sitzen vier Mädchen und acht Jungen – halt, sieben Jungen, der achte ist der Lehrer: Tamer Cinar ist Referendar – sehr jung, schwarzes Jackett, Silberkette, die Haare am Hinterkopf abrasiert.

Gemeinsam lesen sie das Buch „Sonne und Beton“ über Jugendliche in Berlin-Neukölln, die abhängen, kiffen und in ihrer Schule die neuen Computer klauen wollen.

Referendar Tamer Cinar (M.) – Bild: Martin U. K. Lengemann/WELT

Die Schüler (Namen im Folgenden geändert) lesen nacheinander laut ein Kapitel des Buches vor. Kemal spricht leise, während er seinen Kopf in der Schulter vergräbt. Laila liest stockend weiter. Referendar Cinar unterbricht nicht, wenn sie einen Artikel oder das Verb weglässt; oder wenn sie „Computers“ sagt statt „Computer“.

Später wird Cinar erklären, dass er die Schüler nicht korrigiere, weil das primäre Ziel sei, mit ihnen das flüssige Lesen zu üben – was nicht möglich wäre, wenn er dauernd unterbrechen würde. Die „Sprachbooster“ kommen später im Schuljahr.

Vom Diplomatenkind bis zu syrischen Geflüchteten

Cinar ist Referendar kurz vor seinem zweiten Staatsexamen. Einen Teil seiner Ausbildung macht er an der Quinoa-Schule in Berlin-Wedding, einen anderen am altsprachlichen Canisius-Kolleg in freier Trägerschaft des Jesuitenordens. So begegnet er der vollen Bandbreite der Berliner Schüler – vom Diplomatenkind bis zu syrischen Geflüchteten. Ein Mädchen aus der Klasse habe nach der Flucht aus Aleppo drei Jahre lang nicht gesprochen. Seit Kurzem antworte sie, wenn Cinar ihr eine Frage stelle, erzählt er. „Solche Erfolgsmomente geben mir einen großen Motivationsschub.“

Anschließend sollen die Schüler einen Lückentext ausfüllen. Die Schüler sollen die Rolle des Anstifters unter den Schülern in der Geschichte herausarbeiten, er heißt Sanchez. „War es Sanchez‘ Idee, die Computer zu klauen?“, hakt Böjty-Ohler nach. „Ich hab das nicht verstanden“, sagt Larissa. „Wer ist Sanchez noch mal?“

Böjty-Ohler: „Ein Korrigieren der Groß- und Kleinschreibung würde den Rahmen sprengen“

Auch hier sollen die Anforderungen nicht hoch gehängt werden. Es reicht, wenn die Schüler auf die Frage nach dem Standpunkt von Sanchez „war dafür“ hinschreiben. Es muss kein ganzer Satz sein. In der Prüfung zur Berufsbildungsreife ist es vor allem wichtig, dass die Schüler den Text verstanden haben.

„Ein Korrigieren der Groß- und Kleinschreibung würde den Rahmen sprengen“, sagt Böjty-Ohler nach der Stunde. „Die Baustellen sind so riesig, da muss man priorisieren.“ Wenn man nur früher ansetzen könnte, nicht erst mit zwölf Jahren. „Es wäre besser, wir hätten sie schon ab Klasse fünf“, findet auch Schulleiter Pavlakidis.

Auch Eltern müssen an ihre Verantwortung erinnert werden

Berlin und Brandenburg sind die einzigen Bundesländer, in denen die Grundschule sechs Jahre dauert, daran hat sich seit der Nachkriegszeit nichts geändert. Vor allem grüne Bildungsexperten sind nach wie vor von der späten Trennung der Kinder überzeugt, sie vermindere die sozialen Ungleichheiten. Doch bei den Lesefähigkeiten der Grundschüler rangiert Berlin stets auf den hintersten Plätzen.

„Gezielte Förderung nach der fünften Klasse – vor allem im sprachlichen Bereich – würde vielen Schülern einen besseren Abschluss ermöglichen“, resümiert Pavlakidis.

Die Quinoa-Schule in Berlin-Wedding
(Bild:: Martin U. K. Lengemann/WELT)

Auch viele Eltern müssten eher an ihre Verantwortung erinnert werden. „Können Sie mal eine Regel machen, dass die Kinder mit Rucksack in die Schule gehen sollen?“, bat jüngst eine Mutter auf der Elternversammlung. „Meine geht immer nur mit einem kleinen Täschchen los.“ Eine andere Mutter erwiderte: „Aber das ist doch eigentlich Ihre Verantwortung.“

„Ich habe dank dieser Schule das Beste aus mir herausgeholt!“

„Da muss ich zustimmen“, sagte Pavlakidis, nachdem er diese Anekdote erzählt hat. Sie zeige, wie wichtig es sei, die Eltern in die Schularbeit einzubeziehen. „Wir versuchen, den Schüler nicht nur als jungen Menschen zu sehen, dem wir etwas beibringen wollen, sondern auch als Kind seiner Eltern, eben mit all dem, was seine Biografie ausmacht“, sagt Pavlakidis. Der Erfolg gibt ihm recht.

„Ich habe dank dieser Schule das Beste aus mir herausgeholt!“ Mit diesem Satz einer ehemaligen Schülerin wirbt die Schule auf ihrer Website. Sie macht demnach gerade ihr Abitur. Ihr Berufswunsch: Neurochirurgin.

Verwandte Artikel

Was Lehrer in europäischen Ländern verdienen

Deutschlands Schulen suchen verzweifelt Personal, vielerorts ist der Unterricht gefährdet. Doch eine langfristige Lösung ist nicht in Sicht, kaum einer will noch Lehrer werden. Können andere Länder hier Vorbild sein? Ein Überblick zeigt, wie andere Länder ihre Pädagogen behandeln – und bezahlen. Wir publizieren einen Bericht der WELT-Journalisten Martina Meister, Virginia Kirst, Julia Wäschenbach, Mandoline Rutkowski, Philipp Fritz.

Ein Kommentar

  1. Der Grundschulunterricht und die Lehrerausbildung im Fach Deutsch, sind nach meiner Erfahrung nach falsch. Scheinbar in vielen Bundesländern.
    Während meines Lehramtsstudiums in Bremen, absolvierte ich ein Praktikum (6 Monate) in Stuhr (Niedersachsen). In der Integrativen Gesamtschule mit 1% MIgranten, umgeben von Einfamilienhäusern, ließ ich in einer 8 Hauptschul- Klasse (keine Behinderten), jeweils einen Schüler, einen Satz vorlesen, um die Aufmerksamkeit zu “sichern”. Ich wurde vom Klassenlehrer gerügt. Ich hätte einige Schüler gedemütigt, weil sie es nicht flüssig konnten. Ich dürfte nur den dran nehmen, der aufzeigt?
    In Niedersachsen gibt es Noten und ich frage mich, wie einige Schüler es überhaupt in die 8
    Klasse geschafft haben. Im Hauswirtschaftsunterricht wurde nicht gekocht, dass konnte die Lehrerin nicht, sondern über gesunde Ernährung, mit lustigen rätselhaften Arbeitsblättern recherchiert. Darüber waren die Schüler, zu recht “sauer” und blödelten gelangweilt herum.
    Der Werkraum mit gut ausgerichteten Maschinenraum, aber ein Lehrer mit “zwei linken” Händen.
    Viel Theorie, viele Arbeitsblätter, kein fertiges Produkt. Die Schüler schnitzten lustlos und wütend an der Werkbank herum.
    Was können wir tun, die wir erkannt haben, dass viele KInder, mit oder ohne Migrationshintergrund, nach 4 Jahren Grundschule nicht die Grundlagen im Lesen,Schreiben und Rechnen gelernt haben? Wer bestimmt über die Lehrerausbildungen ?
    P.S.Ich meine immer alle Geschlechter
    LG
    Helga Dreyer
    1. Staatsexamen ,LA Sek.1, Religionskunde und Arbeitslehre
    Erzieherin und Tischlerin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert