21. Dezember 2024

Ausbildung, so ziemlich am Lehrerberuf vorbei

Daniel Wahl, Journalist beim Nebelspalter, entwickelt sich in seiner Berufsbranche immer mehr zu einem profunden Bildungsjournalisten. In diesem Beitrag beschreibt er – ausgehend von einem originellen Stelleninserat – den Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit.

Daniel Wahl ist Redaktor und Reporter beim Nebelspalter.

Die Primarschule Schötz im Kanton Luzern hat in Zeiten des Lehrermangels auf kreative Weise ein Stelleninserat formuliert: Sie drehte ein Filmchen, in dem die Kinder ihre künftige Lehrerin beschreiben: «Sie muess liäb sy, sie muess nätt sy, sie muess mir chönne hälfä, muess guet zeichne, singä und uns Mathe lerne chönnä. Sie muss chönnä, säge, dass mir ruhig sind».

Der Videoclip lief diesmal aber nicht auf einem Stelleninserate-Portal, sondern vor Lehrern und Schulleitern im Kanton Zürich, die sich Gedanken über die Ursache des Lehrermangels machten und darüber diskutieren wollten.

Das Fazit: Die Kinder beschreiben einen völlig anderen Lehrer, als er an den Pädagogischen Hochschulen (PH) herangezüchtet wird. «Die Stimmen unserer Kunden gehen leider vergessen. Wir sollten wieder einmal auf die Kinder hören, sie sagen es uns doch deutlich», erklärte der Pädagoge Carl Bossard, der das Filmchen mitgebracht hatte. Bossard zählt als Gründungsrektor der PH Zug und heutiger Bildungsberater zu den fundiertesten Kritikern des Bildungssystems im Land.

Eigentlich hätte der Diskussionsanlass des Vereins «Starke Voksschule Zürich» unmittelbar vor dem Wochenende das Diskussionsfeld zum Thema Lehrermangel – Ursachen und Lösungsansätze – sehr weit stecken wollen. Doch die Stimmen der Kinder der Primarschule Schötz gingen den anwesenden Pädagogen derart unter die Haut, dass man fast nur noch über den Zustand der PHs zu sprechen in der Lage war. Das Filmchen offenbarte offensichtlich, dass die «verkopfte Ausbildung», wie es hiess, an der PH ziemlich an den Bedürfnissen des Lehrerberufs vorbeizielt und Ursache für den Lehrerverleider ist.

Carl Bossard analysierte die Aussagen im Videoclip: Da sind Kinder, die in erster Linie von Menschen mit einer pädagogischen Haltung unterrichtet werden möchten – von einem Lehrer, der Kinder wirklich gern hat. Sie wünschen Vorbilder im Singen, im Zeichnen; sie wünschen sich eigentlich Fachkompetenz. Das wird aber an den PHs heutzutage nicht mehr vertieft vorausgesetzt (siehe Interview mit Lehrer Jürg Wiedemann: «Das Aufgabenfeld der Pädagogischen Hochschulen soll zusammengestrichen werden»).

«Man kann nie beides gleichzeitig haben – heterogene Klassen führen und eine effiziente Schule sein. Oder Freiheit ausleben und Ordnung zugleich einfordern».

Carl Bossard

Da sind Kinder, die sich nach Hilfe und Unterstützung sehnen und nicht selbstorientiertes Lernen oder Büro-Lernlandschaften auf dem Radar haben. Es sind Kinder, die Ruhe im Unterricht wünschen; während die Bildungsreformen der PH auf integrative und heterogen zusammengesetzte Klassen zielten und so ein Klima der Hektik schafften. «Das sind ganz konkrete Erwartungen, die die Kinder äussern», sagt Bossard. Das Filmchen zoome in den Kernauftrag der Schule, was aber in der akademischen Welt der PHs nicht mehr vermittelt werde: die Kinder in die Welt führen und ihnen die Denkweisen eröffnen, so Bossard.

Kein Entweder-oder an den Schulen

«Man kann nie beides gleichzeitig haben – heterogene Klassen führen und eine effiziente Schule sein. Oder Freiheit ausleben und Ordnung zugleich einfordern», erklärt der Pädagoge weiter. Den Schulen werde heute nicht mehr vorgegeben, was sie inhaltlich zu unterrichten haben. Heute werde detailliert dekretiert und genau geregelt, was die Schülerinnen und Schüler am Ende können müssen – und teilweise auch verordnet, wie das zu erreichen sei.

Das Lernen sei ein dialektischer Prozess, zwei Zugrichtungen, die ausgewogen vorhanden sein müssten. Allerdings – und das war der Grund, weshalb Bossard der PH in Zug den Rücken gekehrt hat – hätten sich die Pädagogischen Hochschulen in den letzten Jahren «völlig einseitig» entwickelt. Sie hätten die Heterogenität maximiert und die Effizienz minimiert, eine flippige Vielfalt propagiert, statt üben und automatisieren mehr Technik und digitale Hilfsmittel eingesetzt, auf Kosten des eigenständigen Denkens eine Dominanz von neuen Lernformen eingeführt – «wo man doch weiss, dass sie die Bildungsgerechtigkeit nicht fördern, weil schwache Schüler überfordert sind» – sowie eine Regelungsdichte und eine Flut von bürokratischen Vorschriften erlassen, was auf Kosten der Freiheit geht.

«Die Lehrer reduzieren ihre Pensen, sie fliehen aus den Schulzimmern oder sie flüchten in die Teilzeitarbeit.»

Carl Bossard

Carl Bossard, berät Schulen und leitet Weiterbildungskurse.

Die Akademisierung des Lehrerberufs ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass kaum ein Lehrer mehr das volle Pensum mehr wahrnehmen kann. Es braucht ein Zertifikat fürs Schwimmen, eines fürs Singen, eine Zusatzausbildung für Französisch, eine fürs Englisch. Keine Schulabgängerinnen, keine Schulabgänger sind indessen an einer Primarschule voll als Klassenlehrer einsatzfähig. «Das vertreibt die Lehrer aus dem Verantwortungsposten ‹Klassenlehrer›. Die Lehrer reduzieren ihre Pensen, sie fliehen aus den Schulzimmern oder sie flüchten in die Teilzeitarbeit», sagt Carl Bossard.

Es ist ein Fakt mit Folgen. Von den Zürcher Lehrern arbeiten 80 Prozent in einem Teilzeitpensum; im Durchschnitt beträgt ihr Arbeitsumfang 69 Prozent eines regulären Pensums.

Mit einigen Müsterchen aus dem Alltag belegte die Zürcher Bildungspolitikerin und frischgebackene Schulleiterin Yasmine Bourgeois (FDP) Bossards Aussagen. Beispielsweise habe sich eine Lehrerin entschuldigt, zu lange Frontalunterricht gemacht und die Kinder zu spät in die Gruppenarbeit geschickt zu haben. Sie habe nicht unterrichtet, wie sie es mustergültig an der PH gelernt habe. In der Gruppenarbeit, so ihre Angst, drohte ihr die unruhige Klasse zu entgleiten. Für Bourgeois ist das ein Beleg dafür, wie stark den neuen Lehrern ein schlechtes Gewissen eingeredet wird, wenn sie sich an die traditionelle Lernform «Frontalunterricht» halten würden.

«Heute sind fünf bis sieben Personen für eine Klasse verantwortlich, aber niemand trägt mehr die Verantwortung.»

Yasmine Bourgeois

Kein Verantwortung mehr

Auch beim Thema Lehrermangel steuert Bourgeois ein Müsterchen fehlgeleiteter Anreize bei: «Bei einem ihrer letzten Einstellungsgespräche sagte mir die Stellenbewerberin: ‹Was? Einen ganzen Tag zusammen mit der Klasse verbringen? Da brauche ich eine Assisenz!› Dabei hatte die Abgängerin der Pädagogischen Hochschule ihre neue Klasse noch nie gesehen», berichtet Bourgeois und fährt weiter, heute werde es als selbstverständlich angesehen, wenn mindestens zwei Personen im Klassenzimmer stehen. Dabei würden jedoch die Kinder eine eindeutige Bezugsperson verlieren. Heute seien fünf bis sieben Personen für eine Klasse verantwortlich, aber niemand trage mehr die Verantwortung.

Yasmine Bourgeois, Schulleiterin und Bildungspolitikerin FDP ZH

Die Lösungsansätze, die am Diskussionsabend in Zürich zur Sprache kamen, zielen in eine Richtung: Vereinfachung und zurück zu den Wurzeln.

  • Rückkehr zu Kleinklassen/Förderklassen
  • Ausbildung an den PHs zum Generalisten und nicht Fachspezialisten
  • Anreize für höhere Pensen
  • Den Lehrplan 21 weiter abspecken
  • Die frühe Einschulung überdenken
  • Fremdsprachige Kinder sollen lange genug Aufnahmeklassen für Deutsch besuchen
  • Reduzieren von Sitzungen
  • Weniger Bürokratie
image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Wo holistische Modelle scheitern: Ein Unterrichtsprotokoll

Ein junger Lehrer unterrichtet an einer 7. Reaklasse zwei Lektion NMM-Natur. Er will es gut machen, ganz wie er es in seiner Ausbildung gelernt hat: Gruppenarbeiten, selbstentdeckendes Lernen, Diskussionen. In der Absicht, dass die Schüler etwas lernen. Er stösst auf Hindernisse und reagiert. Lesen Sie das anonymisierte Unterrichtsprotokoll von B. auf unserem Condorcet-Blog.

Auf das Arbeitsleben vorbereiten? Hier versagen Deutschlands Schulen

Die Abbruchquoten bei Studenten und Auszubildenden sind hoch, Gymnasiasten haben kaum Vorstellungen vom Arbeitsleben. Ein Gutachten kritisiert, dass Schulen bei der Berufsvorbereitung zukunftsfähige Zweige ausser Acht lassen. Besonders ein Mittel wird vernachlässigt. Wir bringen hier einen Beitrag der Chefökonomin der Zeitung WELT, Dorothea Siems.

2 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert