Am Freitag endet die zehnwöchige Begutachtung der neuen Lehrpläne für die Volksschule, Mittelschule und AHS-Unterstufe. Das selbstständige Lernen und kritische Urteilsvermögen der Schülerinnen und Schüler stehen im Vordergrund der neuen pädagogischen Konzepte. Sie orientieren sich nicht nur an der Wissensvermittlung, es geht auch um die Kompetenz, das Erlernte umsetzen zu können. Ab dem Schuljahr 2023/24 sollen die neuen Lehrpläne in Kraft treten.
Der Architekt Georg Poduschka erklärt im Gespräch mit ORF.at: „Wenn wir freies Lernen und Projektunterricht betreiben wollen, dann tun wir uns in den bestehenden neun mal sieben Meter großen Klassenzimmern schwer.“ Diese Größe beruht noch immer auf einer 1774 von Kaiserin Maria Theresia ausgehenden Richtlinie. Bis ins Jahr 2010 wurden fast alle Klassenräume mit den damals eingeführten Maßen gebaut. Ein Quadratmeter für jeden Schüler und jede Schülerin, eineinhalb Quadratmeter für den Lehrer und eineinhalb Quadratmeter für den Ofen.
Verglaste Wände als neuer Standard
Schon seit der Bildungsreform 2017 hat sich an Österreichs Schulen viel verändert. Die Lehrkräfte können ihren Unterricht viel eher als davor nach den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gestalten. Das Eingehen auf die Talente jeder Schülerin und jedes Schülers soll seither im Vordergrund stehen. Doch die Abkehr vom reinen Frontalunterricht erfordert nicht nur motivierte Lehrkräfte, die es verstehen, sich als Team zu organisieren.
Das Modell der Cluster-Schule, bei dem Unterrichts- und Aufenthaltsraume zu einer Einheit zusammengefasst werden, um flexibler mit neuen pädagogischen Formen umgehen zu können, löst das System von Gang und Klassenraum ab. Die Architektur der Schulgebäude spielt eine wesentliche Rolle in diesem Paradigmenwechsel. Auch die Architektur der Schulgebäude spielt dabei eine wesentliche Rolle. Ein Beispiel für die neuen Anforderungen: Durch verglaste Wände können die Pädagoginnen ihrer Aufsichtspflicht nachkommen, auch wenn sie wegen der Unterteilung in Kleingruppen nicht mit allen ihren Schützlingen beisammen sind.
Die Gangschule ist Geschichte
Von den 6.000 Schulen in Österreich entsprechen nur wenige diesen neuen Anforderungen. In vielen Einrichtungen wird daher improvisiert. Der Projektunterricht findet häufig auf Fleckerlteppichen im Gang vor den Klassenzimmern statt. Wohnliche Räume fehlen noch vielerorts. Es wird also noch viel in hochwertige Umbauten und Neubauten investiert werden müssen, sind sich Architektinnen und Architekten einig.
2020 startete das Bildungsministerium unter ÖVP-Minister Heinz Faßmann das Schulentwicklungsprogramm (SCHEP 2020). 2,4 Milliarden Euro fließen in den nächsten Jahren in den Neu- und Umbau sowie Sanierungen der Bundesschulen. Schulerhalter für die Pflichtschulen sind Länder und Gemeinden. Die Bürgermeister als oberste Bauinstanz sind da gefordert, qualitätssichernde Prozesse wie etwa Architekturwettbewerbe zu garantieren.
Schon jetzt gibt es positive Beispiele. In der Volksschule „Dorf“ in Lauterach in Vorarlberg etwa herrscht eine gemütliche Atmosphäre. Ein paar Kinder kommen aus ihrem Klassenzimmer in den großen, offenen Gemeinschaftsraum. Alles ist hier aus Holz und natürlichen Materialien gebaut. Die Schülerinnen und Schüler schnappen sich jeweils einen kleinen Teppich und breiten darauf ihre Lernsachen aus. „Wir bekommen einen Wochenplan und dürfen uns aussuchen, mit welchen Aufgaben wir anfangen. Wenn du Bock hast auf Mathe, dann kannst du Mathe machen“, erklärt Ida aus der dritten Klasse.
Die Natur auf Augenhöhe
Eine offene Schule mit gemütlichen Ecken zum Lesen und Spielen hat sich die heute pensionierte, ehemalige Direktorin Karin Flatz gewünscht. Das 80 Jahre alte Schulgebäude war für einen zeitgemäßen Betrieb nicht mehr geeignet. Die Gemeinde entschied sich, den Altbau zu erhalten und die Schule mit einem Neubau zu erweitern. Die Architektinnen Susanne Fritzer und Wolfgang Feyferlik entschieden sich für ein einstöckiges Gebäude.
„Die Schwellenlosigkeit von innen nach außen ist in der Elementarpädagogik von großer Bedeutung“, betont Feyferlik. Überall im Schulgebäude können die Kinder auf Augenhöhe in die Umgebung sehen. Als klimatischer Puffer gibt es vor jedem Klassenzimmer eine verglaste Fläche, den Wintergarten.
Ein Anrecht auf den Außenraum
Die Natur ins Klassenzimmer bringen, das geht auch in einer dicht besiedelten Gegend im zwölften Bezirk in Wien. Für die Ganztagesvolksschule Längenfeldgasse, die in den oberen Stockwerken auf der Berufsschule Platz bietet, entschloss sich das Architekturbüro PPAG, in die Höhe zu bauen. Dadurch konnte nicht nur Bauplatz gespart und der Obstgarten erhalten bleiben. Die Fensterfronten der Klassenzimmer sind bis zum Boden verglast, sodass die Kinder die Bäume im Blick haben.
Einrichtung einer Schule
„Das sind positive Reize, die sehr wichtig sind für die Entwicklung eines kindlichen Gehirns.“ Hemma Fasch hat mit ihrem Kollegen Jakob Fuchs knapp 20 Schulgebäude in Österreich errichtet. Darunter den Campus Neustift in Tirol, der wie ein Lernteppich in die Landschaft eingebettet ist und wo die nächsten ProfiskifahrerInnen ausgebildet werden. „Wenn ich den Außenraum sehe, dann möchte ich ihn auch unmittelbar betreten können“, so Fasch.
Freies Lernen in flexiblen Räumen
Gut durch die Pandemie ist man im Bildungscampus Sonnwendviertel gekommen. In der Volksschule und Mittelschule in Wien Favoriten hat jede Klasse einen Zugang ins Freie, ob auf eine Terrasse oder in den Garten. Dort erledigen die SchülerInnen ihre Arbeiten und verbringen auch ihre Freizeit. Der Bau des Architekturbüros PPAG aus dem Jahr 2014 war der erste Schulbau in Wien, der neue Maßstäbe im Bildungsbau gesetzt hat.
„Früher sind wir als Kinder von der Schule in den Hort gewandert“, erinnert sich Anna Popelka. „Heute haben wir einen ganztägig verschränkten Unterricht, wo sich Lernen und Freizeit abwechseln. Dazu brauchen wir wandelbare Räume, die eine gewisse Wohnlichkeit haben.“
Christian Kühn ist Experte für Bildungsbau und Leiter der Architekturtage, die sich heuer dem Bildungsbau verschrieben haben: „Diese Flexibilität ermöglicht, den SchülerInnen, sich ihre Lernwelt herzurichten und damit auch Entscheidungen zu treffen. Sie bemerken, dass sie wirksam sein können.“
Anarchistische Schulmöbel
Bewegung und Lernen sind in der modernen Pädagogik eng verknüpft. In den neu errichteten Schulgebäuden ist die Pausenglocke Geschichte. Nach der „Input-Phase“, in der die Lehrpersonen den Lernstoff vortragen, suchen sich die Schülerinnen ihren Ort, um das Erlernte zu vertiefen. Dazu gibt es Projekträume und Bereiche vor den Klassenzimmern, mit Sitzsäcken und mobilen Möbeln.
Apropos Möbel: Für den Campus Sonnwendviertel haben PPAG polygonale Tische entworfen, die an einen Rochen erinnern und an denen mehr als zwei Kinder sitzen können. „Manta-Tische“ nennen sie die Architekten. Wie man sie auch dreht und wendet, sie lassen sich nicht in eine Linie bringen. Der klassische Frontalunterricht, bei dem alle Augenpaare nach vorne gerichtet sind, ist so unmöglich.
Chancengleichheit bauen
Im Campus Schendlingen, einem Bezirk von Bregenz, haben 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht Deutsch als Erstsprache. Viele Kinder und Jugendliche erfahren zu Hause kaum schulische Unterstützung. „Wir versuchen, ihnen also tatsächlich eine Art Tagesfamilie zu sein, die Halt und Anker bietet. Die Beziehungsarbeit zwischen den Lehrpersonen und den Jugendlichen ist überhaupt der zentrale Faktor hier an dieser Schule”, sagt Tobias Albrecht, Schulleiter der Mittelschule Schendlingen.
Die Zusammengehörigkeit fördert die Aula, wo die Schüler und Schülerinnen an langen Holztischen gemeinsam essen und zu anderen Zeiten miteinander lernen. Überall laden Sofas zum Entspannen ein. Das Schulgebäude, entworfen von einer Arbeitsgemeinschaft dreier Vorarlberger Architekturbüros, setzt in den Materialien auf eine Wohlfühlatmosphäre. Unbehandeltes Holz und Schafwolle, wohin das Auge blickt.
So viel Glas, lenkt das nicht ab?
Anfangs waren die Lehrerinnen und Lehrer noch skeptisch, ob die Schüler und Schülerinnen durch die Aus- und Einblicke vom Unterricht abgelenkt werden. Heute ist für sie der Unterricht ohne die transparenten Räume undenkbar. „In der ersten Woche waren die Kinder vom Bagger vor dem Fenster noch abgelenkt, aber dann war es kein Thema mehr“, erinnert sich Andreas Gruber, der Direktor der Mittelschule Sonnwendviertel.
„Es gibt keine Aufregung mehr, wenn draußen was passiert. Es ist ganz normal, dass man von einem Bildungsraum in den anderen schauen kann. Und es gibt nicht nur Luft und Licht, sondern auch dieses Freiheitsgefühl. Ich bin nicht eingesperrt, auch wenn einmal alle Türen zu sind.“
Anreize für die Umgebung
Geht man durch Bildungsbauten wie jene in Lauterach und im Sonnwendviertel hat man das Gefühl, in einem Dorf zu sein. Mit Wegen und Plätzen, wo sich die Schüler treffen und aufhalten können. Es ist für das Selbstbewusstsein wichtig, dass es nicht nur einen Weg vom Haupteingang zum Klassenzimmer gibt“, beschreibt Popelka ihr Konzept. Die Jugendlichen können zwischen mehreren Wegen wählen. Für den 13-jährigen Filip bietet das auch die Möglichkeit, wie er mit einem Augenzwinkern zugibt, dem Direktor aus dem Weg zu gehen, wenn man mal zu spät in die Schule gekommen ist.
Für Kühn haben Schulen eine wichtige Bedeutung für die Umgebung. „Das sollte für jede kleine Gemeinde und jede Stadt ein Anliegen sein, dass die Schule eines der schönsten Häuser ist. Er plädiert dafür, dass sich Schulen viel weiter öffnen und etwa öffentliche Bibliotheken integrieren. Viele Vereine nützen schulische Sporthallen schon heute. In Schendlingen geht man noch weiter. Der Sportplatz vor der Schule ist nicht eingezäunt. Alle Menschen des Viertels können ihn gratis nützen. Konsumfreie Zonen im öffentlichen Raum sind ein wertvolles Gut, das es zu schützen gilt.
Der entscheidende Satz in diesem Architekturlehrgang über Schulbauten ist folgender:
«Nach der „Input-Phase“, in der die Lehrpersonen den Lernstoff vortragen, suchen sich die Schülerinnen ihren Ort, um das Erlernte zu vertiefen.»
Offenbar ist das die Vorstellung, wie Lernen funktioniert: Eine frontale Belehrung durch den Dozenten, dann ab in den Wohlfühlbereich zum Vertiefen. Die Lehrperson, geschützt durch eine trennende Glaswand, überblickt das Geschehen aus sicherer Distanz, wenn nicht ein lauschiges Plätzchen ausser Sichtweite gewählt wird.
Wenn sich der Artikel über Maria Theresias Klassenzimmergrössen aus dem 18. Jahrhundert mokiert, dann darf man sich getrost darüber mokieren, wie sich Autor und Architekten Unterricht denken, denn der Anfang des Modells Instruktion – selbstständiges Vertiefen beim üppigen Gastmahl lässt sich in der Antike (vor rund zweieinhalb Tausend Jahren) verorten. Nur dass es damals die Elite der reichen junger Männer war, die diese Art von Bildung geniessen konnte. Da war nix mit Chancengleichheit.
Jedenfalls können sich Architekten und Baufirmen mit dem neuen Konzept in den kommenden Jahren eine goldene Nase verdienen. Die Ernüchterung kommt dann mit PISA.