Condorcet-Autor Roland Stark beschreibt in seinem Artikel, wie die Bildung aus dem Fokus der SP verschwand und plädiert für eine pragmatische Bildungspolitik, namentlich bei der Integration.
Politikerinnen und Politiker rangieren in der medialen Nahrungskette in der Regel auf den hintersten Plätzen. Nahe bei den Callcentern. Und wer sich dann auch noch mit so unbedeutenden Themen wie Schule und Bildung abgibt, fährt sowieso im Besenwagen.
Als im Mai 2018 das freisinnige «Alphatier» Filippo Leutenegger im Zürcher Stadtrat vom einflussreichen Tiefbau- und Entsorgungsdepartement ins Schul- und Sportdepartement «abgeschoben» (Zitat) wurde, schrieb der «Tages-Anzeiger» von «Demütigung» und «Abstellgleis».
Und als nach den Wahlen im Kanton Basel-Stadt der liberale Regierungsrat Conradin Cramer sein Departement behalten musste (oder wollte), konnte man in der BaZ lesen, er sei «im Erziehungsdepartement sitzen geblieben» und habe «kein wichtiges Departement bekommen».
Kurz und bündig lässt sich zusammenfassen: Einflussreiche Zeitungen in den Metropolen Zürich und Basel halten die Beschäftigung mit Erziehungsfragen, vom Kindergarten bis zur Universität, für nebensächlich und überflüssig.
Lieber Kistenvelos als Bildung
Folgerichtig schaffen es Bildungsthemen nur selten ins Blatt, jedenfalls nicht so häufig, gründlich und umfangreich wie der FCB, Roger Federers Knie, die Fasnacht, Parkplätze oder Kistenvelos.
Kaum ein Begriff trifft den Nerv der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im
Erziehungsdepartement (ED) so schmerzhaft wie das Wort «Bildungsbürokraten». Für den Vorwurf der Praxisferne und des Realitätsverlustes finden sich in den Stellungsnahmen des Erziehungsdepartements zu tagesaktuellen Fragen des Schulbetriebs allerdings regelmässig harte Belege.
Man darf sich schon wundern, wie ein derart wirklichkeitsfremder, schnoddriger und sämtliche unbestreitbaren Probleme ausblendender Text aus der Schreibstube eine Regierungssitzung ohne Faktencheck und Qualitätskontrolle unverändert passieren kann
Ein gutes Beispiel liefert die Antwort des Regierungsrates auf einen Vorstoss des grünen Grossrats Oliver Bolliger, der Massnahmen zur Senkung des Leistungs- und Leidensdrucks bei den Jugendlichen fordert. Offenbar ist die Anzahl der Menschen, die unter schweren Symptomen leiden, gemäss einer Studie der Universität Basel bei Jugendlichen im Alter zwischen 14 bis 24 Jahren stark angestiegen.
Die Schuld für diese Entwicklung sieht das Erziehungsdepartement nicht bei Corona und schon gar nicht bei den Schulen. Verantwortlich seien die Eltern, die ihre Zöglinge zur Wahl von «unrealistischen Bildungszielen» drängten. Anpassungen am Schulsystem seien unnötig, die bestehenden schulischen und ausserschulischen Angebote ausreichend.
Man darf sich schon wundern, wie ein derart wirklichkeitsfremder, schnoddriger und sämtliche unbestreitbaren Probleme ausblendender Text aus der Schreibstube eine Regierungssitzung ohne Faktencheck und Qualitätskontrolle unverändert passieren kann. Immerhin sitzen in der Regierung auch Leute mit eigenen Kindern im schulpflichtigem Alter, die eigentlich eine Ahnung vom Schulalltag haben müssten.
«Katastrophales Zeugnis»
Dabei sind die Kennziffern des Basler Schulsystems alarmierend. Nach der Publikation der ersten schweizerischen Erhebung der Grundkompetenzen in der Grundschule wählte die NZZ für ihren Bericht eine drastische Überschrift: «Katastrophales Zeugnis für die Basler Schulen.»
In Mathematik und in den Sprachen schwenken die Schülerinnen und Schüler beider Basel und aus Solothurn die rote Laterne. Bei den Schülern aus Basel-Stadt leuchtet die Lampe sogar dunkelrot. In Mathematik genügt nicht einmal die Hälfte der Schüler den Anforderungen, aber auch bezüglich der Sprachkompetenzen wird weniger erreicht als in fast allen anderen Kantonen.
85 Prozent aller Baslerinnen und Basler mit 25 Jahren haben einen Lehr- oder Mittelschulabschluss, das ist die tiefste Sek-1-Abschlussquote schweizweit. Schlusslicht ist Basel auch bei den erfolgreich abgeschlossenen Berufsausbildungen (46,5 Prozent). Dafür hat Basel mit 38,5 Prozent die höchste Mittelschulquote in der Deutschschweiz.
Diese miserable Erfolgsbilanz erreicht Basel-Stadt mit dem gesamtschweizerisch höchsten Personalaufwand pro Schüler in der obligatorischen Schule. 2018 betrugen diese Ausgaben in öffentlichen Bildungsinstitutionen knapp 20’000 Franken, doppelt soviel wie die Kantone Wallis und Appenzell-Innerrhoden und etwa 7000 Franken mehr als der schweizerische Durchschnitt.
Angesichts dieser Zahlen mutet die schon fast rituelle Forderung der Lehrerverbände und rot-grüner Parteien nach mehr Investitionen in den Bildungsbereich merkwürdig an.
Dringend nötig: Reformen am System
Angesichts dieser Zahlen mutet die schon fast rituelle Forderung der Lehrerverbände und rot-grüner Parteien nach mehr Investitionen in den Bildungsbereich merkwürdig an. Notwendig sind wohl dringender tiefgreifende Reformen am System.
Dabei kommt der Wiedereinführung der Kleinklassen und die Abschaffung der fundamentalistischen Basler Version der Integrativen Schule eine zentrale Rolle zu. Es ist offensichtlich, dass dieses Modell an den Realitäten scheitert, weil es die vorhandene und unvermeidliche Heterogenität in den Klassen zusätzlich noch vergrössert, mit entsprechendem Effekt auf die Ausbildungsqualität auf allen Leistungsniveaus.
Professor Dr. Gerhard Steiner, 12 Jahre Lehrer im Isaac-Iselin-Schulhaus und 25 Jahre Ordinarius für Psychologie (Entwicklung und Lernen) an der Universität Basel, erklärt die Vorteile in einem nicht-integrativen Lernumfeld, weil dort die Organisation der Lehr-Lern-Situation wesentlich schlanker ist, was weniger Umtriebe und Ablenkung zur Folge hat und auf Seiten der Lernenden eine höhere Konzentration ermöglicht.
Ideologische Verblendung
Dadurch werde die Nutzung der Lernzeit massiv erhöht, was mehr sichtbaren Lernerfolg generiere. Die Autonomie vieler Lehrerinnen und Lehrer würde wieder hergestellt, ihr Kräfteverschleiss geringer und die Arbeitszufriedenheit grösser. Der ausgewiesene Fachmann mit Erfahrungen in Theorie und Praxis empfiehlt deshalb die Rückkehr zu einem effizienten leistungsniveau-orientierten Unterrichten in Standard- und Kleinklassen.
«Schülerinnen und Schüler sollen gemäss ihren geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten und Defiziten geschult werden», schreibt Arnold Fröhlich, zuletzt Dozent an de Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz in Luzern. «In der Integrativen Schule ihren individuellen Bedürfnissen mit noch mehr Lehrpersonal gerecht werden zu wollen, ist illusorisch und ideologisch verblendet. Dieses in der Praxis gescheiterte Modell gehört abgeschafft.»
Die Fülle der Herausforderungen zeigt, dass dem Erziehungsdepartement in Zukunft eine zentrale und noch bedeutendere Rolle zukommt. Gefordert sind im ED auf allen Stufen – bis hinauf zur Spitze – Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die kompetent und engagiert arbeiten und dabei den Bezug zur schulischen Wirklichkeit nicht noch mehr aus den Augen verlieren. Hier ist noch viel Luft nach oben.
Roland Stark ist früherer Präsident der SP Basel-Stadt und Alt-Grossrat. Zudem war er 42 Jahre lang Lehrer in Pratteln und Basel. Dieser Artikel ist zuerst im Nebelspalter erschienen: https://www.nebelspalter.ch/bildung-ist-ein-thema-fuer-hinterbaenkler-das-ist-falsch-was-sich-aendern-muss.
Schulnoten hätten kaum Aussagekraft, sagt Bildungsforscher Hans Brügelmann – diese Überzeugung sei heute auch in der Wirtschaft verbreitet. Dennoch tue das Schulsystem so, als ob Gleichaltrige zur gleichen Zeit dasselbe lernen könnten. Er erklärt, wie eine alternative Bewertung aussehen kann. Wir bringen ein Interview, das in der WELT erschienen ist. Das Gespräch führte Kevin Culina.
Der Mehrsprachigkeitsforscher Berthele plädiert in einem brisanten Artikel für strengere Massstäbe bei der Auswertung von Forschungsergebnissen und bei der Abgabe von Empfehlungen an die Bildungspolitiker im Bereich Fremdsprachenunterricht. Und er tut dies nicht ohne Selbstkritik. Etwas, was den Passepartout- und Frühfranzösisch-Promotoren auch anstehen würde. Condorcet-Autor Felix Schmutz übersetzte den bemerkenswerten Artikel aus dem Englischen und stellt ihn den Condorcet-Leserinnen und Lesern vor.