9. Dezember 2024

Anmerkungen zur Schulreform im Zeitalter der Digitalisierung – Teil 2

Im 2. Teil seiner Ausführungen “Anmerkungen zur Schulreform im Zeitalter der Digitalisierung” beschäftigt sich Professor Jürgen Oelkers mit dem “selbstregulierten Unterricht” und relativiert dessen Wirksamkeit. Ausführlich geht er auf die Meta-Studie von John Hattie ein.

Jürgen Oelkers, emer. Professor der Universität Zürich: Schulen haben das Monopol der Wissensvermittlung verloren, sind aber für Bildungsprozesse nicht überflüssig.

3. Selbstorganisiertes Lernen

In der neueren Literatur zur Schulentwicklung und Didaktik werden Lehrerinnen und Lehrer oft als „Coach“ bezeichnet, um damit einen entscheidenden Unterschied und eine Zukunftsoption auszudrücken. Der Duden sieht inzwischen auch die «Coachin» vor, wenn es sich um eine weibliche Person handelt. (7)

  • Ein Coach/eine Coachin begleitet den individuellen Lernprozess einer Person oder einer Gruppe vom Beginn bis zum Ziel.
  • •Lehrerinnen und Lehrer unterrichten eine Klasse in einem Fach oder einem Lernbereich gemäss Zielen, die weder der Lehrer/die Lehrerin noch die Klasse sich selbst setzen kann.

Mindestens gilt das für den Unterricht in staatlichen Schulen, die Lehrpläne voraussetzen, die Lernzeit regulieren und den Ort des Lernens vorgeben. Aber warum sollen dann Lehrerinnen und Lehrer plötzlich zu «Coaches» werden? Ein zentraler Grund ist, dass sie ein Lernen begleiten sollen, das sich selbst gestaltet.

Die neuen Medien aber brauchen keinen Coach, sondern nur Selbstinstruktion.

Ein „Coach“ ist eine Art Mentor, der nicht über Jahre unterrichtet und versucht, nach Plan Lernen anzuregen, sondern der individuelle Projekte begleitet, die befristet sind und den Mentor nur zu bestimmten Zwecken brauchen. Gelernt wird dann nicht mehr in einer begrenzten schulischen Lernumgebung, sondern frei, an jedem Ort und zu jeder Zeit. «Deschooling society» nannte das Ivan Illich vor nunmehr fünfzig Jahren.

Die neuen Medien aber brauchen keinen Coach, sondern nur Selbstinstruktion. Ihnen ist gemeinsam, dass sie sofort und ganz individuell genutzt werden können, ihre Lernwege sind leicht und weitgehend voraussetzungsfrei, verlangen also praktisch keine Qualifikation. Auch verfolgen sie keine eigenen Ziele, ausgenommen die Beeinflussung und Bindung des Nutzungsverhaltens. Was sie inhaltlich bieten, ist beliebig erneuerbar und kennt weder Wissenshierarchien noch Barrieren wie die soziale Herkunft oder mangelhaftes Vorwissen. Smartphones sind sozusagen kinderleicht.

Zudem gibt es – anders als in der traditionellen Schule – keine bestimmte Autorität mehr, die das Niveau der Auseinandersetzung vorgeben und kontrollieren könnte. Die historisch beispiellose Beschleunigung des Lernens und der Wahrnehmung (8) bei schnell wechselnden Themen und scheinbar gefahrlosem Löschen verhindert auch eine Verantwortungskontinuität. Eine Diskussion im Netz hat keinen definitiven Ertrag, weil es kein Ende mehr gibt; es kann immer nur weitergehen. Mit einem Bonmot könnte man sagen: „To be is to be updated”. (9)

Andere Entwicklungen brauchen Schulen, aber werden sie vollständig auf den Kopf stellen. Ein kommender Technologiesprung wird mit dem System der „Blockchains“ gegeben sein, also einem System dezentraler Datenbanken, die für verschiedene Zwecke eingesetzt werden. Die Möglichkeiten reichen von alternativen Währungen und Zahlungssystemen über intelligente Verträge, Buchführung, persönliche Dokumentation bis hin zum E-Voting und der Prognose der Finanzen.

Das ist mehr als nur Theorie: Am 22. September 2017 hat die Regierung von Malta in Gestalt des Bildungsministeriums einen Vertrag mit der Firma Learning Machine Technologies geschlossen, mit dem das erste nationalstaatliche Pilotprojekt von „blockchain credentials“ auf den Weg gebracht wird. Wer dem Projekt beitritt, also potentiell jeder, der in Malta lernt und arbeitet, kann alle Dokumente des lebenslangen Lernens an einem Ort aufbewahren und verwalten, zudem kann jeder nachweisen, dass die Dokumente ihm gehören und sie zugleich mit jedem in der Welt teilen. (10)

Was man lernt, wird auf einem Konto festgehalten und in „edublocks“ dokumentiert, wobei „Lernen“ formell wie informell erfolgen kann. Mit dem Konto ist man überall kreditwürdig, wo Lernen angeboten wird, man kann selbst wählen und Schulen wären dann ein Anbieter unter vielen. Das Schlagwort lautet: „Learning is earning“.

Edublocks: überall kreditwürdig

Blockchains, die mit der Alternativwährung Bitcoins entwickelt wurden, (11) werden inzwischen vom World Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen zur Erleichterung des Zahlungsverkehrs eingesetzt und sind auch im Bildungsbereich zunehmend spürbar. Was man lernt, wird auf einem Konto festgehalten und in „edublocks“ dokumentiert, (12) wobei „Lernen“ formell wie informell erfolgen kann. Mit dem Konto ist man überall kreditwürdig, wo Lernen angeboten wird, man kann selbst wählen und Schulen wären dann ein Anbieter unter vielen. Das Schlagwort lautet: „Learning is earning“.

Das ist für pädagogische Ohren ziemlich schockierend und das bestimmende Schlagwort in der heutigen Schulreformdiskussion sind denn auch nicht – oder noch nicht – „edublocks“, sondern „selbstreguliertes“ oder „selbstgesteuertes“ Lernen, das mit dem Konstruktivismus aufgekommen ist.

Das Auswendiglernen etwa, das oft verpönt wird, spielt in der Festigung der Kognitionen eine wichtige Rolle, ebenso das Üben, was man erst merkt, wenn es niemand mehr macht.

Was ist der Preis?

Das „selbstorganisierte Lernen“ spielt in der heutigen Unterrichtsentwicklung auch in der Schweiz eine zentrale Rolle. Aber stimmt die Annahme, dass sich dadurch der Unterricht auf breiter Basis verbessern würde? Die Antwort lautet: nicht einfach als Schlagwort und auch als Konzept nicht ohne einen Preis.

Das Auswendiglernen etwa, das oft verpönt wird, spielt in der Festigung der Kognitionen eine wichtige Rolle, ebenso das Üben, was man erst merkt, wenn es niemand mehr macht. Das gilt als «konservativ», aber wäre in Musik oder Sport ziemlich desaströs und hätte auch bei einer Theaterprobe Grenzen. Es kommt also immer darauf an, auf welche Praxis man eine Methode bezieht und was dabei zur Bewältigung der Aufgaben erforderlich ist.

Selbstorganisieres Lernen ist kein einfaches Konstrukt.

Das gilt auch für das «selbstorganisierte Lernen» (Miller/Oelkers 2021). Die Bandbreite ist gross, sie reicht von erweiterter Hausaufgabenbetreuung bis zum Lernen nach eigenem Tempo und freier Suche bei gegebenen Zielen. Aber in keinem Fall entscheiden die Schülerinnen und Schüler selbst darüber, was sie lernen. Eher geht das Bemühen dahin, sie stärker und nachhaltiger am Lernprozess zu beteiligen. Und heute sind «SOL»-Phasen zumeist eingebunden in eine Tagesstruktur, die auch «Inputs» der Lehrpersonen kennt. Purismus führt nicht weiter, man muss den richtigen Mix finden.

Die empirischen Arbeiten und das Theoriekonzept stammen aus der Psychologie. Oft wird dabei folgende Bestimmung zugrunde gelegt:

„Selbstreguliertes Lernen ist ein aktiver, konstruktiver Prozess, bei dem der Lernende sich Ziele für sein Lernen selbst setzt und zudem seine Kognitionen, seine Motivation und sein Verhalten in Abhängigkeit von diesen Zielen und den gegebenen äusseren Umständen beobachtet, reguliert und kontrolliert“ (Otto/Perels&Schmitz 2011, S. 34). (13)

Im Rahmen dieser allgemeinen Definition, die nicht auf die staatliche Schule zugeschnitten ist, wird deutlich, dass «selbstreguliertes Lernen» kein einfaches Konstrukt ist, sondern aus einer Vielzahl von Variablen besteht, die zusammenspielen müssen, wenn das Lernen effektiv sein soll.

Aber selbst wenn das der Fall ist, muss der Kontext der Schule berücksichtigt werden, also nicht einfach nur die Psychologie:

  • Die Ziele sind vorgegeben und werden nicht frei gewählt, wie dies in der allgemeinen Definition des selbstregulierten Lernens angenommen wird.
  • •Die jeweilige Lernsituation ist nicht je neu und einmalig, sondern geprägt von Vorerfahrungen und gekennzeichnet von Routinen, die Anpassungsleistungen an die Institution Schule darstellen.
  • Die Lernenden befinden sich in der Rolle von Schülerinnen und Schülern, sie sind abhängig und müssen lernen, was der staatliche Lehrplan vorgibt.
Die Schülerinnen und Schüler können auch nur so tun, als ob sie „selbstreguliert” arbeiten.

Dabei gibt es natürlich grosse Spielräume für das, was dann tatsächlich im Unterricht realisiert wird. Andererseits wird der institutionelle Rahmen oft vernachlässigt, wenn in der didaktischen Literatur von „selbstreguliertem“ Lernen die Rede ist. Und der Begriff deckt noch eine andere ganz andere Seite ab, die in der Didaktik ebenfalls nicht vorgesehen ist.

  • Im Rahmen der Institution lernen die Schülerinnen und Schüler auch subversiv, nämlich wie die Anforderungen des Unterrichts umgangen werden können,
  • oder strategisch, nämlich wie sich mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Ertrag erreichen lässt.
  • Das Lernen ist „selbstreguliert“, aber nicht im Sinne der Schule.

Weiter bilden die Schülerinnen und Schüler über „Schule“ und „Unterricht“ informelle Meinungen heraus, die das tatsächliche Lernen oft mehr beeinflussen als das offizielle Lernsetting der Schule. Es handelt sich dabei um hoch elaborierte Kognitionen, die vor allem in der Peer-Kommunikation gebildet und stabilisiert werden, also nicht greifbar sind für die Lehrenden (Chiapparini 2012).

Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach mit dem Interesse, wie oft angenommen wird, sondern reagiert auch auf Notlagen.

Die Schülerinnen und Schüler können auch nur so tun, als ob sie „selbstreguliert arbeiten“. Andererseits werden sie im Blick auf die Ziele den notwendigen Ressourceneinsatz kalkulieren und keineswegs immer „intrinsisch motiviert“ vorgehen, schon weil kaum eine Schülerin und kaum ein Schüler sich für das gesamte Angebot der Schule gleich interessiert. Sie machen immer einen Unterschied, was sie gerne lernen und was nicht.

Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach mit dem Interesse, wie oft angenommen wird, sondern reagiert auch auf Notlagen, etwa auf die Folgen der Nichterreichung von Lernzielen oder die drohenden Selektionen an den Schnittstellen. Motivation durch Noten könnte man das nennen, und sie sichert nicht selten den Schulerfolg oder die Berechtigung.

Probleme wie diese werden in der didaktischen Literatur gemieden oder normativ bestritten, obwohl sie nicht verschwinden werden und das Lernen mehr oder weniger stark beeinflussen. Auch im Falle der Lernstrategien überwiegen Modellannahmen, die unabhängig vom tatsächlichen Erfahrungsraum „Schule“ gedacht werden. Strategisch sind auch Subversionen, die die Ziele der Schule unterlaufen oder den Anliegen ihrer Leitbilder widersprechen.

4. Zur Frage der Wirksamkeit

Hattie-Studie: ziemlich unkritisch rezipiert, gleichwohl bedeutend

Auf der anderen Seite sind der Lehrer und die Lehrerin der zentrale Garant für die Wirksamkeit des Unterrichts, den wir alle kennen. Das weiss man eigentlich seit längerem und diese Gewissheit ist bekanntlich durch die Hattie-Studie auch empirisch bestätigt worden. Diese Studie, die vor fünfzehn Jahren erschienen ist, erregte grosses Aufsehen und wurde stürmisch, aber auch ziemlich unkritisch rezipiert.

Inzwischen gibt es fünf hauptsächliche Kritikpunkte: (14)

  • Grundlage der Metastudie sind viele einzelne Studien, die wesentlich auf die angelsächsischen Bildungssysteme ausgerichtet waren.
  • Ausgewertet wurde nur die englischsprachige Literatur.
  • Der Fokus lag allein auf quantitativen Leistungsdaten in wenigen Fächern.
  • •Die Unterschiede in den nationalen Bildungskulturen spielten keine Rolle.
  • •Digitale Klassenzimmer gab es in den Studien noch nicht.

Gleichwohl sind die Ergebnisse beachtenswert, auch wenn sie vielfach auf eine Botschaft verengt worden sind, die in der Professionsliteratur immer schon eine grosse Rolle gespielt hat, nämlich dass es «auf den Lehrer ankommt». Die Formel stammt aus dem 19. Jahrhundert, daher besteht kein Genderproblem.

Der Unterricht macht den Unterschied, aber unterrichtet wird verschieden und nicht alle Lehrpersonen sind gleich erfolgreich in der Beförderung des Lernens.

Doch wenn heute – auch unabhängig von Hattie – in der angelsächsischen Diskussion gesagt wird, „teachers make the difference“ (15), dann ist das zunächst nur ein Mantra. Der Unterricht macht den Unterschied, aber unterrichtet wird verschieden und nicht alle Lehrpersonen sind gleich erfolgreich in der Beförderung des Lernens.

Nicht alle Lehrpersonen sind gleich erfolgreich in der Beförderung des Lernens.

Bestimmte Lehrkräfte erfüllen die Aufgaben besser als andere und die kritische Frage ist, bis zu welchem Grad das der Fall ist. Hattie sagt das auch deutlich: Nicht alle Lehrerinnen und Lehrer unterrichten „effektiv“, nicht alle sind „Experten für Lernen“ und nicht alle haben grossen Einfluss auf die Lernenden. Die wichtige Frage ist, in welchem Ausmass sie Einfluss auf die Leistungen haben und was den grössten Unterschied macht. (16) Es geht also um die Qualität der Lehrpersonen und nicht um das Mantra.

Dieses Feld der Qualität umfasst bei Hattie acht Punkte. Die ersten drei werden wie folgt bestimmt:

Worauf es ankommt, ist:

  • die Qualität des Unterrichts, so wie die Schülerinnen und Schüler sie wahrnehmen,
  • die Erwartungen der Lehrpersonen an sich selbst und die Lernenden,
  • •die Konzeptionen der Lehrpersonen über Unterricht, Leistungsbeurteilung sowie über die Schülerinnen und Schüler.

Der letzte Punkt bezieht sich auf die Sichtweisen (views) der Lehrerinnen und Lehrer, etwa ob sie glauben, dass alle Schülerinnen und Schüler Fortschritte machen können und ob die Leistungen sich ändern können oder stabil bleiben. Ein Problem ist auch, wie der Lernfortschritt von den Lehrpersonen verstanden und artikuliert wird, also wem oder was sie den Fortschritt zuschreiben und wie die Lernenden davon in Kenntnis gesetzt werden. Wenn der entscheidende Faktor etwa in der sozialen Herkunft gesehen wird, dann ziehen Lehrkräfte andere Schlüsse, als wenn sie primär die Begabung in den Vordergrund stellen.

Die fünf weiteren Punkte für den Einfluss der Lehrkräfte auf die Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler sehen so aus:

  • die Offenheit der Lehrkräfte oder wie sie darauf eingestellt sind, sich überraschen zu lassen,
  • •das sozio-emotionale Klima im Klassenzimmer, wo Fehler und Irrtümer nicht nur toleriert werden, sondern willkommen sind,
  • die Klarheit, mit der die Lehrpersonen Erfolgskriterien und Leistungsanforderungen artikulieren,
  • die Unterstützung der Lernanstrengung,
  • das Engagement aller Schülerinnen und Schüler.

(Hattie 2009, S. 34).

Das sind Idealisierungen und der «ideale Lehrer» bestimmt in verschiedenen – meistens männlichen – Ausrichtungen die Professionsliteratur seit dem 17. Jahrhundert. Die Frage könnte dann auch lauten, warum immer das Ideal betont wird und keine Diskussion ohne ein Ideal auskommt. Das gilt auch für die Ideale des Unterrichts, einschliesslich denen der Förderung.

Deutsche Studien zeigen, dass offene Lerngelegenheiten im Blick auf individuelle Förderung, wenn überhaupt, dann eher im affektiven Lernbereich wirksam sind und kognitive Kompetenzen dadurch kaum beeinflusst werden (Klieme/Warwas 2011). Fördern kann man auf verschiedene Weisen, die aber nie einfach als Konzept überlegen sind; auch Formen des Trainings oder adaptiver Unterricht sind im Blick auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler nur dann wirksam, wenn sie didaktisch durchdacht und gut strukturiert sind.

Wenn es «auf den Lehrer» ankommt und historisch rasant zunehmend auch «auf die Lehrerin», dann hat das auch mit der «vertieften inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand» zu tun und nicht nur mit Merkmalen wie eine effiziente Klassenführung.

Zu diesem Schluss kommt auch eine deutsche Metastudie zum Einfluss der Lehrpersonen auf den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler (Lipowsky 2006): Ein Unterricht, der durch stärker schülerorientierte Arbeitsformen gekennzeichnet ist, kann dann in seiner Effektivität gesteigert werden, wenn die Schülerinnen und Schüler «über Techniken, Strategien und Kompetenzen verfügen, ihre Arbeitsprozesse zu strukturieren und zu steuern» (ebd., S. 64/65). Das Konzept der «Selbststeuerung» für sich genommen ist nur rhetorisch von Bedeutung.

Wenn es «auf den Lehrer» ankommt und historisch rasant zunehmend auch «auf die Lehrerin», dann hat das auch mit der «vertieften inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand» zu tun (17) und nicht nur mit Merkmalen wie eine effiziente Klassenführung. Zu der inhaltlichen Auseinandersetzung im Unterricht gehören etwa «eine interessante, klare, verständliche und vernetzte Präsentation neuer Inhalte und Konzepte, die Aktivierung des vorhandenen Vorwissens der Schüler, das Evozieren kognitiv anspruchsvoller Tätigkeiten, die Kultivierung eines diskursiven Unterrichtsstils, der Einsatz geeigneter Repräsentationsformen, die Förderung der Bewusstheit für das eigene Lernen sowie die Vermittlung von Strategie zur Strukturierung und Elaboration des Unterrichtsgegenstands» (ebd., S. 64).

Das sind auch Idealnormen, die vor dem Hintergrund einer Praxis verstanden werden sollten, die die Ideale oft verfehlt, was auch an den Idealen liegen kann. Der Projektunterricht etwa entspricht in der Realität, also in der Wahrnehmung der Lehrenden und Lernenden, gar nicht dem, was in der einschlägigen Literatur angenommen wird, nämlich „selbstgesteuertem Lernen“ (Traub 2011).

Vielfach wird gar nicht gemacht, was das Konzept versprochen hatte, nur die Bezeichnung wird verwendet. In der Theorie wird oft nicht antizipiert, dass sich die Lernleistungen auch im Projektunterricht unterschiedlich verteilen und entsprechend die Profite für die Lernenden keineswegs identisch sind.

Wenn Unterricht Erfolg haben soll, dann dürfen sie (die Schüler und Schülerinnen) nicht davon ausgehen, dass sie erst lernen, wenn sie ausreichend motiviert worden sind, was auch heissen würde, dass sie die Dosis des „Motiviertwordenseins“ bestimmen.

Hattie plädiert für die Normalform eines von der Lehrperson vorbereiteten, strukturierten und realisierten Unterrichts. Der Lehrer und die Lehrerin wird nicht in die Rolle eines konstruktivistischen Beobachters versetzt, für den bekanntlich schon Maria Montessori ziemlich erfolglos plädiert hatte; die Lehrperson darf und soll agieren, wobei für ihn oder für sie als Qualitätsannahme gilt, dass er oder sie „with the eyes of the students“ wahrnehmen kann (Hattie 2009, S. 238) und mit seinem Unterricht ihrem Lernen dienlich ist. Das ist nicht einfach dann der Fall, wenn man „selbstorganisiert“ lernt.

Auf der anderen Seite müssen sich die Schülerinnen und Schüler sich als die „Lehrer ihrer selbst“ verstehen und können die Verantwortung für den Lernerfolg nicht auf die Schule abwälzen. Wenn Unterricht Erfolg haben soll, dann dürfen sie nicht davon ausgehen, dass sie erst lernen, wenn sie ausreichend motiviert worden sind, was auch heissen würde, dass sie die Dosis des „Motiviertwordenseins“ bestimmen.

Auch die Basis vieler heutiger Konzepte der Didaktik stellt Hattie in Frage. Die Psychologie des Konstruktivismus ist für ihn eine Form des Wissens und nicht des Unterrichtens (ebd., S. 243). In der Lehrerbildung und der Fachdidaktik dagegen wird die „konstruktivistische Wende“ (18), weiterhin als Grundlage angenommen.

Die damit begründeten Konzepte lassen sich mit der „child centered education“ der Zwischenkriegszeit in Verbindung bringen. Wieder entdeckt wird heute der Dalton-Plan von Helen Parkhurst (1922), der bereits das Lernen nach eigenem Tempo betont hat, Freiheit im Blick auf das Erreichen der Ziele setzte und dem der Begriff „Lernjobs“ zu verdanken ist. Das war vor genau hundert Jahren und die Frage ist, warum sich das bisher nicht durchgesetzt hat.

Man könnte auf die Praxis verweisen: Was mit solchen Konzepten noch nie erfasst wurde, sind die Alltagserfahrungen der Lehrpersonen, also Handeln unter Zeitdruck, steigende Belastungen, Kampf gegen Lernunwilligkeit, Entscheidungen mit juristischem Risiko oder Stress durch Reformen, die sich nicht lohnen.

Die digitale Transformation der Schulen ist absehbar und sie wird sich in den nächsten Jahren auch massiv beschleunigen. Die Frage ist, wie weit der Wandel geht und welche Probleme sich damit besser lösen lassen.

Schluss des 2. Teils

 

 

(7) Duden | Coachin | Rechtschreibung, Bedeutung, Definition, Herkunft: https://www.duden.de/rechtschreibung/coachin

(8) Vgl. die Studie von Wajcman (2015).

(9) New York Review of Books Vol. LXIII, No. 11 (June 23 – July 13, 2016), S. 36. Siehe die Darstellung von Hui Kyong Cin (2016).

(10) „Employers and others can instantly verify that a credential is authentic using independent blockchain verification, saving significant time and money. This allows institutions to prevent fraud and protect their brands while giving learners and workers full control of their official records”. https://www.newswire.com/news/governmentofmaltalauncheslearningmachinesblockchainrecords 19978449

(11) Narayanan et al. (2016)

(12) http://hackeducation.com/2016/04/07/blockchaineducationguide

(13) Siehe Boekhaerts (1999).

(14) Etwa: Meraner 2013/2014, 2014, 2014a.

(15) Etwa: http://www.buckleyparkco.vic.edu.au/page/176/TeachersMakeTheDifference

(16) „Not all teachers are effective, not all teachers are experts, and not all teachers have powerful effects on students. The important consideration is the extent to which they do have an influence on students achievements, and what it is that makes the most difference” (Hattie 2009, S. 34).

(17) Die Studie bezieht sich auf Untersuchungen in Mathematik und den Naturwissenschaften. Ausgewertet werden deutsche und englische Forschungen.

(18) Vgl.  Diesbergen (2000).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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