Mitte November steht Ursula Renold auf der Bühne der Berufsmesse Zürich und erzählt von ihrem Werdegang: “Mit 15 hatte ich genug von der Schule. Ich wollte so schnell wie möglich unabhängig werden.” Statt aufs Gymnasium zu gehen, macht sie eine kaufmännische Lehre in einer Bank.
Bald merkt sie: “Ich wurde immer wissensdurstiger und wollte verstehen, wie die Gesellschaft funktioniert.” Die damals 19-jährige Renold nimmt berufsbegleitend Fernunterricht, macht die eidgenössische Matura und beginnt danach ein Studium an der Uni Zürich. Später leitet sie von 2005 bis 2012 das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie. Die berufliche Bildung, mit der ihre Karriere begann, wird zum Kern ihres Schaffens.

Heute ist Renold Professorin an der ETH Zürich und vergleicht weltweit Bildungssysteme. Sie beobachtet einen auffälligen Trend: Der Druck, das Gymnasium zu besuchen und zu studieren, wächst. Gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit unter Hochschulabsolventen. Viele Jobsuchende müssen sich gegen Hunderte Mitbewerbende durchsetzen.
“Im Zweifel die Berufsbildung wählen”
Renold betont daher den Wert der Berufslehre: “Ich rate Eltern und Jugendlichen: Im Zweifel sollten sie die Berufsbildung wählen.” Ihr eigenes Beispiel zeigt, dass der Aufstieg in höhere Bildungswege auch später möglich ist.
Doch für viele bleibt der direkte Weg an die Universität der Königsweg – besonders in Städten der Schweiz, wo die Akademisierung stark zugenommen hat. Gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) ist in den letzten Jahren die Zahl der Lernenden landesweit gesunken.
Dieser Trend ruft Kritiker wie Rudolf Strahm auf den Plan. Sie fordern, mehr junge Menschen sollten sich wieder für eine Berufslehre entscheiden – und somit “etwas Handfestes” lernen. Doch wie steht es hier eigentlich um die Jobchancen?
Eine Lehre abgeschlossen – und gefragt wie nie
Die Berufsbildung hat zwei Bereiche: Die berufliche Grundbildung umfasst die klassische Lehre, entweder als zweijährige Ausbildung mit eidgenössischem Berufsattest oder als drei- bis vierjährige Lehre mit Fähigkeitszeugnis (EFZ). Die höhere Berufsbildung baut auf dem EFZ oder einem gleichwertigen Abschluss auf. Sie ermöglicht Fachvertiefung, oft nach einigen Jahren Berufserfahrung. Absolventen erwerben von Berufsverbänden organisierte, praxisnahe Abschlüsse, zum Beispiel an einer Höheren Fachschule.
Aktuelle Daten zeigen: Absolventen der Berufsbildung haben stabilere Jobperspektiven als Akademiker – und der Vorsprung wächst.
Die Berufsbildung bietet viele Aufstiegsmöglichkeiten

Grafik: can/Quelle: edu-suisse
Eine Analyse des Arbeitgeberverbands zeigt, dass die Zahl arbeitsloser Uni-Masterabsolventen seit 2010 um 70 Prozent gestiegen ist. Das lässt sich nur teilweise durch die wachsende Zahl von Hochschulabgängern erklären, die vor allem durch Fachhochschulen getrieben wird. Lehrabgänger erleben das Gegenteil: Ihre Arbeitslosenzahlen sanken im selben Zeitraum um 40 Prozent, obwohl die Zahl der Lernenden laut BFS nur um 6 Prozent zurückging.

“Diese Entwicklung sollte uns alarmieren”, sagt Patrick Chuard-Keller, Chefökonom der Arbeitgeber. “Das Angebot an Hochschulabsolventen wächst offenbar schneller als die Nachfrage.”
Ursula Renold kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Ihre Analyse der Erwerbslosenquoten zeigt: Die Arbeitslosigkeit unter Akademikerinnen und Akademikern liegt inzwischen fast auf dem Schweizer Durchschnitt von 4,3 Prozent. 2024 betrug sie laut Daten der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung des BFS 4,1 Prozent.

Anders sieht es bei Lehrabsolventen aus: Ihre Erwerbslosenquote liegt deutlich unter dem Schnitt. Am besten schneiden Personen mit höherer Berufsbildung ab. “Dieser Abschluss dient den KMU und der Industrie am meisten und schützt am besten vor Arbeitslosigkeit”, sagt Renold.
Warum die Berufsbildung auf dem Arbeitsmarkt punktet
Experten nennen mehrere Gründe für die Stärke der Berufsbildung. “Die vermittelten Qualifikationen passen besser zu den offenen Stellen”, erklärt Chuard-Keller. Unternehmen bilden Lernende selbst aus und gestalten Inhalte und Prüfungen der höheren Berufsbildung mit.
Zudem verbindet die Berufsbildung Theorie und Praxis. Arbeitgeber suchen zunehmend nach “Soft Skills” wie Teamfähigkeit und Resilienz sowie nach Arbeitserfahrung. “Beides erwirbt man durch praktische Mitarbeit in Unternehmen”, sagt ETH-Professorin Renold.
Die Berufsbildung reagiert auch schneller auf Marktveränderungen. “Die digitale Transformation rollt wie ein Tsunami über die Wirtschaft”, warnt sie. Wer in einem Unternehmen lernt, erlebt technologische Neuerungen direkt. “Ohne Zusammenarbeit mit der Wirtschaft verliert man den Anschluss.”

Genau hierin liegt eine Herausforderung für Universitäten. Sie konzentrieren sich auf wissenschaftliche Kompetenzen, doch nur wenige Absolventen arbeiten später in der Forschung. Viele Studiengänge sind kaum auf die Anforderungen des Arbeitsmarkts ausgerichtet – und lehnen höheren Praxisbezug mit dem Verweis auf die Relevanz des kritischen Denkens und der Freiheit von Forschung und Lehre ab. Allen voran interdisziplinäre, geisteswissenschaftliche und künstlerische Studiengänge verzeichnen mutmasslich auch deshalb relativ hohe Erwerbslosenquoten.
Hinzu kommt: Künstliche Intelligenz übernimmt zunehmend einfache Wissensarbeiten, die oft von akademischen Berufseinsteigern erledigt werden. Eine ETH-Studie aus diesem Herbst legt nahe, dass in der Schweiz aufgrund der Einführung von Chat-GPT, Gemini und Co. seit Anfang 2023 rund zehntausend Stellen weggefallen sind.
“Lernt ein Handwerk. Wenn das Klo verstopft ist, ruft man keine KI, sondern einen Installateur.”
Harald Lesch, Physiker und Moderator
Patrick Chuard-Keller kritisiert daher eine aus seiner Sicht “wachsende Schere zwischen Bildungsoutput und Arbeitsmarkt”. Noch direkter drückt sich der deutsche Physiker und Moderator Harald Lesch in einem Video auf Instagram aus: “Lernt ein Handwerk. Wenn das Klo verstopft ist, ruft man keine KI, sondern einen Installateur.”
Höhere Berufsbildung: Jobsicherheit und attraktive Löhne
Sollten mehr Jugendliche eine Berufslehre statt eines akademischen Wegs über Gymnasium und Uni wählen?
Renold befürwortet das – vor allem für Unentschlossene. “Man tut ihnen keinen Gefallen, sie aufs Gymnasium zu drängen. Jugendliche brauchen Erfolgserlebnisse und Selbstvertrauen.” Das befähige sie später zu weiteren Bildungsschritten. Das Schweizer System sei durchlässig: “Wenige bleiben ein Leben lang in ihrem ursprünglichen Lehrberuf. Heute steigt man früher auf und bildet sich mehrfach weiter.”
Ein Argument für die Universität bleibt der Lohn: Laut einer Studie von Avenir Suisse verdienen Hochschulabsolventen im Schnitt 53 Prozent mehr als Lehrabsolventen. Doch Chuard-Keller warnt: “Diese Zahlen spiegeln die Vergangenheit.” Der demografische Wandel und der Arbeitskräftemangel könnten das Lohngefüge verändern.
“Das Schweizer Modell der Berufsbildung ist der globale Goldstandard.”
Ursula Renold, Professorin für Bildungssysteme an der ETH Zürich
Die höhere Berufsbildung bietet bereits heute attraktive Lohnperspektiven. Lehrabsolventen können sich nach einigen Jahren Berufserfahrung für spezialisierte Positionen oder solche mit Führungsverantwortung weiterbilden. Renold nennt ein Beispiel aus ihrer Forschung: Nach einem Abschluss als eidgenössisch diplomierter Bauführer kann der Lohn um bis zu 27 Prozent steigen.
Auch eine aktuelle Studie der Volkswirtschaftsberatung BSS zeigt: Die Bildungsrendite – der finanzielle Gewinn eines Abschlusses abzüglich der Kosten – liegt bei Höheren Fachschulen (HF) mit 23 Prozent über der von Fachhochschulen mit 18 Prozent. Hauptgrund dafür ist laut den Autoren, dass HF-Studierende während des Studiums mehr arbeiten und durch die kürzere Studiendauer schneller in den Arbeitsmarkt einsteigen. Besonders in den Bereichen Technik und Wirtschaft erzielen Berufsleute mit HF-Abschluss hohe Gehälter.

Im September beschloss der Ständerat ein Massnahmenpaket zur Stärkung der höheren Berufsbildung. Abschlüsse sollen künftig die Titel “Professional Bachelor” und “Professional Master” tragen, um mehr Anerkennung zu erhalten.
Ursula Renold sieht das kritisch: Diese Titel würden signalisieren, dass die Berufsbildung akademisiert werden müsse, um sie aufzuwerten. “Dabei verfügt sie über ihre ganz eigene Stärke: die praxisnahe Ausbildung, welche auf vielen Jahren Berufserfahrung aufbaut.” Nach 30 Jahren Forschung ist sie überzeugt: “Das Schweizer Modell der Berufsbildung ist der globale Goldstandard.”
Legende Beitragsbild: Handwerker sind weniger stark von KI betroffen als akademische Berufseinsteiger: Ein Lehrling im Schreiner-Ausbildungszentrum Zürich. (Foto: Urs Jaudas)
Felix Rüdiger promoviert an der Universität St. Gallen und ist Praktikant in der Wirtschaftsredaktion. Zuvor war er Leiter Inhalte & Forschung des St. Gallen Symposiums. Mehr Infos

