Deutschland steht vor Schicksalsfragen. Die Wohlstandsquellen der vergangenen 150 Jahre, deutsche Wissenschaft, Forschung und Industrie, sprudeln nicht mehr. Jedenfalls nicht in dem Maß, um den teuersten Sozialstaat in Europa nachhaltig zu finanzieren. Wenn in einem Jahr 50’000 Arbeitsplätze in der lebenswichtigen Kfz-Industrie verloren gehen, wenn ein Viertel der 15-Jährigen die Mindeststandards im Lesen nicht erreicht, fault es nicht nur im Gebälk. Dann droht der Einsturz.
Um 1900 kam rund ein Drittel der weltweiten Patente aus Deutschland. Heute ist Deutschland nur noch in Europa führend – und ganz Europa mit gut sieben Prozent der weltweiten Patente auf dem gleichen Niveau wie Japan oder Südkorea.

Das Erstaunliche: Die herkulische Leistung damals – ein Drittel der Weltpatente – wurde mit einer Abiturquote von etwa 0,8 Prozent erreicht. Im Jahr 1880, als die Forschergeneration der Jahrhundertwende die Schule verließ, gab es in Deutschland rund 6400 Abiturienten. Diesem winzigen Bildungspool, der sich elitär aus Söhnen des Adels, einiger Pfarrhäuser und des Bürgertums rekrutierte, entstammten die Erfinder, die das kaiserzeitliche Wirtschaftswunder mit ihrem Genie befeuerten.
Jedes Jahr 8000 Abgänger mit 1,0-Abitur
Und heute? Fast 54 Prozent eines Jahrgangs erreichen die Hochschulreife, davon über zwei Prozent mit der Traumnote 1,0. Allein diese Gruppe umfasst mehr als 8000 Schulabgänger. Stehen uns in 20 Jahren erneut goldene Zeiten ins Haus?
Zu befürchten ist das Gegenteil. Statt die Besten zu Bestleistungen zu befähigen, arbeitet sich unser Bildungssystem seit 50 Jahren an dem Beweis ab, dass eigentlich alle gleich gut sind. Zugegeben, das ist polemisch und übertrieben, birgt aber einen wahren Kern. Schon das Wort hat einen schlechten Ruf: “Elitenförderung”. Elite ist negativ besetzt. Die Nationalsozialisten missbrauchten den Begriff für ihr “Herrenmenschentum”. Elitenförderung steht unter dem Verdacht sozialer Auslese und undemokratischer Distinktion.
Dagegen etablierte sich nach 1945 in beiden deutschen Staaten ein egalitäres Ideal. In der Bundesrepublik wuchsen Leitmotive wie “Bildung für alle” (Ralf Dahrendorf) und “Chancengleichheit” zu gesellschaftlichen Meta-Zielen heran. Vor solchem Hintergrund erscheint die Förderung einer kleinen Gruppe als Widerspruch zur gerechten Förderung aller. Die Angst vor einer Rückkehr der Klassengesellschaft wurzelt tief.
Die Auswahlkriterien sind bewusst breiter als reine Notenexzellenz. Das implizite Versprechen: Wir fördern eine Leistungselite, die der Gesellschaft dient, keine privilegierte, abgeschottete Kaste.
Anders im angloamerikanischen Raum, wo private Elite-Universitäten wie Harvard oder Oxford die ehrgeizigsten Bildungsziele verkörpern. In Deutschland gilt das Primat des öffentlich zugänglichen Bildungssystems. Qualität soll in der Breite gesichert werden, nicht nur an wenigen Leuchttürmen.
Der deutlichste Beleg ist die Sprache selbst. Konsequent vermeiden Politiker, Stiftungen und Universitäten den Begriff “Elite”. Beschönigend und technisch-neutral ist die Rede von Spitzen-, Exzellenz- oder Begabtenförderung. Die Vorsicht zeigt, wie sehr man Widerstände fürchtet. Niemand möchte dem Vorwurf der “Elitenhuberei” ausgesetzt sein. Selbst die Studienstiftung des deutschen Volkes, eines der renommiertesten Förderwerke, legt größten Wert darauf, gesellschaftliches Engagement und “Verantwortungsbewusstsein” zu fördern. Die Auswahlkriterien sind bewusst breiter als reine Notenexzellenz. Das implizite Versprechen: Wir fördern eine Leistungselite, die der Gesellschaft dient, keine privilegierte, abgeschottete Kaste.
Als die Bundesregierung vor 20 Jahren eine “Exzellenzinitiative” ins Leben rief, um international konkurrenzfähige Spitzenuniversitäten zu schaffen, stieß sie auf massive Kritik. Der Hauptvorwurf lautete, mit Milliarden würden “Leuchttürme” gefördert, Spitzenförderung zulasten von Breitenförderung. Die Debatte offenbarte den schwelenden Konflikt zwischen der Notwendigkeit, im globalen Wettbewerb die Nase vorn zu haben, und der gesellschaftlichen Angst, die eigene, egalitäre Wertebasis zu untergraben.
Die alte BRD war vergleichsweise homogen
Dabei war die bildungspolitische Quadratur des Kreises vor einem halben Jahrhundert keine Illusion. Die alte BRD war eine vergleichsweise homogene, in der Breite leistungsbereite Gesellschaft, eine Volkswirtschaft, die mit ersten Energiekrisen zu kämpfen hatte, jedoch weiterhin zuverlässig auf Wachstumskurs lag.
In der Tat war das höhere Schulwesen bis in die 1960er-Jahre bürgerlich und männlich geprägt, der Zugang über die gymnasiale Frühauswahl sozial gefiltert. Die Abiturquote war auch 1960 noch einstellig. Erst um 1970 (Abiturquote 16 Prozent) begann die Bildungsexpansion. Im Zuge der sozialliberalen Reformen wurden die Gymnasien geöffnet, neue Gesamtschulen gegründet und der Zugang zur Hochschulreife erleichtert. Die Abiturquote verdoppelte sich innerhalb eines Jahrzehnts und lag 1990 in Westdeutschland bei rund einem Drittel.

35 Jahre später präsentiert sich ein Vexierbild. Einerseits ein bildungspolitischer Triumph: Der Abiturientenanteil steigt und steigt, die Durchschnittsnoten werden stetig besser. Die Zahl der Abgänger mit der Traumnote 1,0 hat sich in 20 Jahren mehr als verdreifacht.
Auf der anderen Seite – wie kann das sein? – steht ein beispielloser Absturz bei den fundamentalen Kompetenzen. Das begann 2001 mit dem PISA-Schock. Deutsche 15-Jährige konnten nur unterdurchschnittlich lesen, rechnen und naturwissenschaftliche Probleme lösen. Darauf folgte eine Welle bildungspolitischer Reformen. Bereits um 2012 zählte Deutschland in Mathematik und Naturwissenschaften wieder zur internationalen Spitzengruppe.
Nullerjahre: die letzte Reformepoche
Es war die letzte Reformepoche; die Erfolge erwiesen sich als Strohfeuer. Zehn Jahre später, in der jüngsten Pisa-Studie von 2022, fielen die Leistungen in Mathematik und Lesekompetenz auf das schlechteste Niveau, das für Deutschland jemals gemessen wurde. Ein Viertel der 15-Jährigen ist heute funktional kaum in der Lage, komplexe Texte zu verstehen. Die Pandemie hat den Trend beschleunigt, doch die Erosion der Basiskompetenzen begann Jahre zuvor.
Gleichzeitig stieg der Anteil der Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund. 2022 kamen an jeder neunten Grundschule, insgesamt rund 1700, so der Mikrozensus, mehr als 90 Prozent der Schüler aus Haushalten, in denen eine andere Sprache als Deutsch gesprochen wurde. In den westdeutschen Ballungsgebieten und Berlin lag der Anteil deutlich höher und ist sei 2022 noch gewachsen.
Seit 2015 sind 1,1 bis 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter nach Deutschland zugewandert – das entspricht rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung in dieser Alterskohorte. Studien belegen, wie sehr das Bildungssystem dadurch überfordert ist. Nicht nur die Deutschkenntnisse, auch das Vorwissen, die Bildungserfahrungen und kulturellen Prägungen klaffen auseinander. Vor allem aber: Dadurch, dass ein Großteil des Unterrichts eigentlich Sprachunterricht ist, nimmt der eigentliche Fachunterricht immer weniger Raum ein.
Formal qualifizierte, aber praktisch den Herausforderungen nicht gewachsene Studienanfänger treffen dann auf die Realität des Hochschulalltags. Fast jeder Dritte bricht sein Studium ab.
Daran wird sich auch nichts ändern. Die Deutschen entsagen der Fortpflanzung, und in weiten Teilen des globalen Südens wächst der Bevölkerungsdruck. Zuwanderung wird zum Dauerphänomen. Derweil dominieren weiterhin die Politikvorgaben von vor 50 Jahren: Demokratisierung der akademischen Bildung und Akademisierung der Bevölkerung. Das System erledigt es auf seine Weise; es produziert Abiturienten am Fließband.
Formal qualifizierte, aber praktisch den Herausforderungen nicht gewachsene Studienanfänger treffen dann auf die Realität des Hochschulalltags. Fast jeder Dritte bricht sein Studium ab. In den so wichtigen MINT-Fächern (Mathematik, Ingenieurwesen, Naturwissenschaften, Technik) sind es bis zu 50 Prozent.
Professoren berichten von einer dramatisch sinkenden Studierfähigkeit. In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften fehlt es vielen Studienanfängern an Grundkenntnissen der Bruchrechnung oder des Lösens einfacher Gleichungen. In der Germanistik mangelt es an der Fähigkeit, eigene Gedanken strukturiert und obendrein orthografisch korrekt zu Papier zu bringen.
Ein Symptom ist die explosionsartige Zunahme von Brückenkursen, in der Vergangenheit eine seltene Hilfestellung. Vor Semesterbeginn bieten die Hochschulen wochenlange Kurse an, um den Schulstoff nachzuholen. Die Universität wird zum Reparaturbetrieb für systemisches Versagen – und das Bachelor-Examen, in den Augen mancher Spötter, wird zu dem, “was früher Abitur hieß”.
Schule wird zur Integrationsanstalt
Breitenförderung wird zur Integrationsförderung; in den urbanen Zentren gilt das allemal. In einer ethnisch und kulturell zunehmend segregierten Gesellschaft wird die Schule zur Integrationsanstalt. Dort konkurriert die deutsche Sprache mit dem Islam um die Rolle als einigendes Band verschiedenster Herkünfte.
Was die Schule unter diesen Bedingungen immer weniger leisten kann, ist Spitzenförderung. Für Hochbegabte hat sie schlicht keine Zeit. Nun kommen zwei weitere Veränderungen ins Spiel, die in den 1970er-Jahren nicht absehbar waren: das Comeback Chinas und die digitale Revolution. Künstliche Intelligenz verändert nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die Akkumulation von Wohlstand. Der Mehrwert traditioneller Industrieproduktion ist rapide gesunken; es gibt dort keine Wissensvorsprünge mehr. Die existieren nur noch in den Nischen der Hochtechnologie. Und da stehen wir erst am Anfang: Robotik, autonome Mobilität, die Eroberung des Weltraums, die digitale Ontologie sämtlicher Lebensbereiche.

Die Älteren wenden sich schaudernd ab; für die Jungen ist es die Zukunft. Sie mitzugestalten, vor allem an ihr mitzuverdienen, also Wohlstand zu schaffen, wird einer Volkswirtschaft nur gelingen, wenn sie ihre Hochbegabten zu Hochleistern fördert. Wenn sie ihnen den Raum, die Möglichkeit und den notwendigen Druck gibt, die angelegten Talente auch zu entfalten.
Der Fokus auf die Breite, die Masse, hilft da nicht. Ein Vergleich aus dem Sport: Selbst wenn 90 Prozent eines Jahrgangs übergewichtig sind, finden sich unter den übrigen zehn Prozent künftige Weltmeister und Olympiasieger – vorausgesetzt, sie werden früh entdeckt und langfristig entwickelt.
Talentsichtung durch sämtliche Sektoren der Bevölkerung
Das beginnt mit der Talentsichtung quer durch sämtliche Sektoren der Bevölkerung. Laut dem Mikrozensus 2022 lag der Anteil der unter 18-Jährigen mit Migrationshintergrund in Deutschland bei gut 38 Prozent. Die Zahl wächst, und darunter sind viele Hochbegabte – auch frisch Zugezogene, die noch kaum Deutsch sprechen, auch solche aus bildungsfernen Familien, die erst später ihr Potenzial entfalten. Von den Selektionsmechanismen des Gymnasiums werden beide Gruppen nicht erfasst; sein Fokus liegt auf dem schrumpfenden Soziotop des biodeutschen Bildungsbürgertums.
Die Gesellschaft, Staat und Politik, müssen die Bedingungen schaffen, um begabte Kinder, Mädchen und Jungen, auch solche aus patriarchalen und bildungsaversen Familien, konsequent und notfalls gegen den Willen des sozialen Umfelds zu fördern. Die kleine Handvoll Internate mit Begabtenförderung oder die Gymnasien mit Hochbegabtenzug sind ein Schritt, können das aber allein nicht leisten. Ebenso wenig die Begabtenförderungswerke wie die Studienstiftung des deutschen Volkes.
47 Prozent der weltweit angemeldeten Patente kommen heute aus China, 17 Prozent aus den USA. Damit Deutschland nicht völlig den Anschluss verliert, muss das Wort Elitenförderung auf den Tisch.
Während Deutschland ein vorbildliches System zur Förderung minderbegabter junger Menschen entwickelt hat, kommt den Hochbegabten nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit zuteil. Bildungsgerechtigkeit und Breitenförderung sind hehre Ziele, im internationalen Wettbewerb um Wissensvorsprünge jedoch irrelevant. Dort ist egal, wie wenige Analphabeten es noch gibt, dort zählt die Zahl der Veröffentlichungen und Patente, die Qualität und finanzielle Ausstattung der Institute, der Ruf und das Ranking der Universitäten, die Umsetzung wissenschaftlichen Fortschritts in Bruttoinlandsprodukt.
47 Prozent der weltweit angemeldeten Patente kommen heute aus China, 17 Prozent aus den USA. Damit Deutschland nicht völlig den Anschluss verliert, muss das Wort Elitenförderung auf den Tisch. Für romantisch-egalitäre Träume ist es zu spät. Schon hat die Deindustrialisierung den Mittelstand erreicht. Wenn die deutsche Volkswirtschaft, von Bürokratie, Energie- und Sozialkosten stranguliert, auch noch an der wissenschaftlichen Fortschrittsfront verliert, macht der Letzte das Licht aus.
Legende Beitragsbild: Zucht und Ordnung: Schulklasse beim Geometrie-Unterricht um 1900 (ullstein bild – Archiv Gerstenberg)
Thomas Fasbender, Jg. 1957. Industriekaufmann, Philosophiestudium, Promotion. 1992 bis 2015 in Moskau als Manager, Unternehmer, später Journalist tätig. Verheiratet, fünf Kinder, lebt in Berlin. Autor u.a. von „Wladimir Putin. Eine politische Biographie“ und „Das unheimliche Jahrhundert“, beide 2022. Thomas Fasbender ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung.

