8. Dezember 2025
Kritik an Baselbieter Schulen

“Schneewittchen-Pädagogik” – Erstklässler sollen nur noch positiv bewertet werden

Erstklässler bekommen keine Zeugnisse mehr, sondern Lernberichte ohne Noten. Die Starke Schule beider Basel kritisiert: “Was als schonender Ansatz verkauft wird, entwertet in Wahrheit die Leistungsmessung.” Wir bringen einen Beitrag, der zuerst in der “Basler Zeitung” erschienen ist.

 

Seit dem vergangenen Schuljahr verzichten Primarschulen im Baselbiet auf ein Zeugnis am Ende des ersten Schuljahres und händigen den Kindern stattdessen lediglich einen Lernbericht aus. Die Kinder müssen sich entsprechend keine Sorgen machen, den Übertritt in die zweite Klasse wegen ungenügender Leistungen zu verpassen, er erfolgt automatisch.

Grund dafür ist der geltende Lehrplan. Gemäss diesem müssen die grundlegenden Lernziele und Kompetenzen bei den Kindern erst nach Ende des zweiten Schuljahres sitzen. Eine entsprechende Anpassung der Laufbahnverordnung hatte die Baselbieter Regierung vor anderthalb Jahren vorgenommen. Das Baselbieter Amt für Volksschulen teilte den Eltern in einem Schreiben mit, die neue Praxis nehme den Druck und schaffe Raum “für eine differenzierte und kindgerechte Entwicklung”.

BaZ-Journalist Sebastian Schanzer

Erstklässler nicht mehr vergleichbar

An diesem Lernbericht stört sich nun die Starke Schule beider Basel, ein Verein rund um den ehemaligen Bildungspolitiker und Lehrer Jürg Wiedeman. In einer Mitteilung greift er die neue Praxis an den Baselbieter Primarschulen frontal an. Das Amt für Volksschule begebe sich auf den Weg zur “Wohlfühlschule mit Schneewittchen-Pädagogik”, heisst es in seinem Schreiben.

Wiedemann verschaffte sich in der Vergangenheit insbesondere durch seine Kritik am Lehrplan 21 viel Gehör. Der Mathematiklehrer stösst sich vor allem daran, dass der Lernbericht explizit nicht auf Schwächen und Defizite, sondern auf Stärken und das Potenzial der Kinder eingehen soll. “Was als schonender Ansatz verkauft wird, entwertet in Wahrheit die Leistungsmessung”, schreibt er. Der tatsächliche Lernstand der Schülerinnen und Schüler würde verschleiert, Vergleiche zwischen den Kindern würden so praktisch unmöglich.

Anstatt “… kann noch nicht bis 20 zählen” soll die Lehrperson etwa schreiben: “… kann bis 7 zählen” oder “… kann mit den Fingern und Unterstützung der Lehrperson bis 20 zählen”.

 

Bis vor einem Jahr erhielten die Kinder nach dem ersten Schuljahr noch ein Zeugnis mit Prädikaten, welche die Leistungen des Kindes bewerteten. Entscheidend für die Beförderung in die zweite Primarklasse war das Erreichen der Grundanforderungen in den Fächern Deutsch und Mathematik.

Wie sich das AVS die neue sogenannte “ressourcenorientierte Beurteilung” vorstellt, beschreibt das Amt in einer Anleitung für die Lehrpersonen mit Beispielen: Anstatt “… kann noch nicht bis 20 zählen” soll die Lehrperson etwa schreiben: “… kann bis 7 zählen” oder “… kann mit den Fingern und Unterstützung der Lehrperson bis 20 zählen”. Ein weiteres Beispiel aus dem Fachbereich Deutsch: Anstatt “… kennt noch nicht alle Buchstaben” soll die Lehrperson schreiben: “… kennt die Buchstaben in seinem Namen” oder “… kennt 10 Buchstaben”.

“Intransparentes” Vorgehen bei Einführung des Lernberichts

Es gehe eben darum, eine Rückmeldung zu den individuellen Fähigkeiten zu geben, anstatt die Leistung zu bewerten. Sollte allerdings das Erreichen der Anforderungen in Deutsch und Mathematik bis Ende 2. Klasse gefährdet sein, werde dies in einem zusätzlichen Standortgespräch mit den Eltern besprochen, schreibt das AVS an die Erziehungsberechtigten. Im Vordergrund stünden nach dem ersten Schuljahr aber ohnehin die überfachlichen Kompetenzen wie Selbstständigkeit oder Konfliktfähigkeit.

Die Starke Schule sieht in der neuen Praxis auch eine Diskriminierung von Migrantinnen und Migranten. Viele von ihnen beherrschten die deutsche Sprache weniger gut, schreibt Wiedemann. Deshalb seien eindeutige Prädikate im Zeugnis besser geeignet als lange Textbausteine im Lernbericht. Eltern mit ausländischem Hintergrund würden die Diskrepanz zwischen den (positiven) Leistungsberichten und allfälligen negativen Rückmeldungen im Gespräch nicht wahrnehmen.

Zuletzt moniert die Starke Schule auch, das Lehrpersonal sei über die neuen Direktiven erst vor kurzem informiert und somit überrascht worden. Dieses Vorgehen sei “intransparent” und “fragwürdig”. Die Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion (BKSD) weist diesen Vorwurf zurück. Vertretungen aller relevanten Anspruchsgruppen seien in die Erarbeitung der Anpassungen sowie des Lernberichts selbst einbezogen worden, und die rasche Umstellung auf den Lernbericht sei von diesen gar mehrfach ausdrücklich gewünscht worden.

 

Legende Titelbild: Das Amt für Volksschulen im Baselbiet will mit dem Lernbericht etwas Druck vom ersten Schuljahr nehmen. (Foto: Michael Trost / Symbolbild)

 

Sebastian Schanzer ist Redaktor im Lokalressort Basel der “Basler Zeitung” (BaZ).

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