5. Dezember 2025
Zur Philippika von Maik Philipp in der SonntagsZeitung vom 14. September 2025

Zuerst gründlich reformieren, dann Alarm schlagen!

Die Pädagogischen Hochschulen mit ihren Reformen haben uns hat uns “sehenden Auges” in den Graben gesteuert – und rufen nun erschrocken: “Achtung, Abgrund!” Mindestens Maik Philipp von der PH Zürich zieht in der SonntagZeitung die Alarmglocke und verkündet, was wir seit Jahren wissen: Die Lernleistungen unserer Schülerinnen und Schüler im verstehenden Lesen nehmen ab. Warum erst jetzt und wie glaubwürdig ist der Mahnruf, fragt Condorcet-Autor Carl Bossard.

 

Die Pädagogischen Hochschulen haben die Reformkaskade der vergangenen Jahre mitgetragen und die Innovationen zum Teil selber initiiert: Aus Lehrerinnen und Lehrern wurden Coachs und Lernbegleiterinnen, aus Bildung messbare Tests, aus Wissen, Können und Haltung Kompetenzen. Aus Unterricht wurde autonomes Lernen im “Flipped Classroom” und das Lernen vom Lehren entkoppelt: Das Alphabet erwarben sich die Schüler nun vielfach selber – in Lernateliers. Schreiben gelernt wurde nach Gehör und das “Lesen durch Schreiben” mit Hilfe von Jürgen Reichens bebilderter Anlauttabelle erarbeitet. Selbstorientiert, wie es heisst. Dabei war Korrigieren durch die Lehrperson nicht selten untersagt. Und aus den Erziehungswissenschaftlern wurden empirische Bildungsforscher wie Maik Philipp.

Condorcet-Autor Carl Bossard

“Nicht besorgniserregend” – so der Befund eines PH-Rektors

Immer wieder haben erfahrene Lehrpersonen vor diesen Innovationen und ihren hehren Versprechen gewarnt. Vergebens. Sie wurde in die ewiggestrige Ecke versetzt. Dabei wissen wir seit Jahren, dass beispielsweise das verstehende Lesen dramatisch abnimmt, ebenso das korrekte und kohärente Schreiben. Die Lernforscherin der ETH Zürich, Elsbeth Stern, hat schon vor langer Zeit darauf hingewiesen. Gar von einem gravierenden Systemversagen sprach der Bildungsökonom Stefan C. Wolter. Hingehört hat kaum jemand. Es kümmerte die Verantwortlichen in den Stäben und an den Pädagogischen Hochschulen wenig. Sie zuckten höchstens die Achseln, und die Karawane zog ungerührt weiter. Eigentlich hätten längst alle Warnlampen leuchten sollen! Doch der Rektor der PH Bern fand diese Tatsche noch vor Kurzem “nicht besorgniserregend”.

Und wieder soll’s ein Masterplan richten

Nun beklagen die Pädagogischen Hochschulen plötzlich, was sie selber mit verursacht haben: die abnehmende Lesefähigkeit unserer Schülerinnen und Schüler. Wer den Kassandraruf des Herrn Maik Philipp hört, traut den eigenen Ohren nicht. [i]

Nur: Wer hat uns denn dorthin geführt? Wer hat den behutsamen und systematischen Aufbau des Lesens – vielleicht sogar Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz – zur lästigen Aufgabe degradiert, die man angeblich im Vorübergehen mit YouTube, Lapbook und Lernapp erwirbt?

 

Im Interview der Sonntag-Zeitung warnt Maik Philipp – welches Erstaunen! – vor der sinkenden Lesekompetenz von Jugendlichen in der Schweiz: Fast die Hälfte der 15-Jährigen erreiche nur rudimentäre oder ungenügende Fähigkeiten. Das habe gravierende Folgen für Bildung, Beruf und gesellschaftliche Teilhabe, wie wenn das nicht schon längst bekannt wäre. Der Bildungsforscher Philipp fordert, dass die Gesellschaft das Problem ernster nehme und mit einem langfristigen Masterplan frühzeitig und systematisch gegensteuere – auch angesichts neuer Herausforderungen wie Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz KI.

Wenn das Üben zum Fremdwort verkommt

Und nun “laufen [wir] sehenden Auges in ein schweres Problem hinein”, verkündet Maik Philipp. Recht hat er, wahrlich! Nur: Wer hat uns denn dorthin geführt? Wer hat den behutsamen und systematischen Aufbau des Lesens – vielleicht sogar Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz – zur lästigen Aufgabe degradiert, die man angeblich im Vorübergehen mit YouTube, Lapbook und Lernapp erwirbt? Und sogar selbstgesteuert. Wer hat das Festigen und Automatisieren der elementaren Kulturtechnik des Lesens wie des Schreibens als schnödes Üben abgetan und stattdessen “ganzheitliche Literacy-Events” im “mehrsprachigen Projektsetting” gefordert?

All die unzähligen Reformen im Leseunterricht hätten doch längst zu besseren Resultaten führen und die Kinder “LESESTARK” machen müssen, wie es ein Buchtitel verkündet. Doch das Gegenteil ist eingetreten! Seit 2012 sinken die Lernleistungen im Lesen dramatisch.

Eine Volksschule, die nicht in der Definitionsmacht der PHs liegt

Wer aber trägt die Verantwortung?, fragt sich der Beobachter. Auch das wissen wir seit Langem: Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel aus den Pädagogischen Hochschulen hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – die Definitionsmacht über die Schulen übernommen. Sie bestimmen, was gelehrt und vor allem wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker. Das bedeutete eine Marginalisierung der Praxisempirie.

Maik Philipp, Bildungsforscher an der PH Zürich

Darum wirkt Maik Philipps Philippika reichlich unbedarft. Kaum ein Wort zur pädagogischen Dramaturgie der vergangenen Jahre, in denen die grundlegenden Mikroprozesse des Lernens, des bildungswirksamen Lernens, klein geschrieben waren. Gross gedacht wurde dafür im organisatorischen Makrobereich.

Der nächste Masterplan ist schon angedacht

Man erinnere sich: Dieselben Pädagogischen Hochschulen, die heute die Krise beklagen, haben uns jahrelang erklärt, dass Lesen-Üben und intensives Schreibtraining nicht mehr zeitgemäss seien. Stattdessen erfand man “integratives Sprachhandeln”, “Lernarrangements” und “digitale Lernpfade”. Ein Lesebuch? Bitte nicht! Viel zu starr, zu linear, zu wenig “21st-century skills”. Lieber eine App mit bunten Tierchen, die beim Antippen miauen – Hauptsache, es sieht nach Innovation aus.

Vielleicht wird der nächste Masterplan dieses Mal als Escape-Room gestaltet, in dem man den Ausgang nur findet, wenn man ein Buch liest. Das wäre immerhin ein Fortschritt.

 

Und jetzt? Jetzt stehen wir da mit halbwüchsigen Digitalnatives, die zwar jedes Emoji interpretieren können, aber vier Kriterien für einen guten Sportschuh im Text nicht finden, weil sie das Geschriebene nicht verstehen. Die Reformen der vergangenen Jahre haben uns “sehenden Auges” in den Graben gesteuert, konstatiert Maik Philipp – und die Verantwortlichen rufen nun erstaunt: “Achtung, Abgrund!”

Doch keine Sorge: Der nächste Masterplan ist schon angedacht. Er kommt bestimmt. Vielleicht wird er dieses Mal als Escape-Room gestaltet, in dem man den Ausgang nur findet, wenn man ein Buch liest. Das wäre immerhin ein Fortschritt. Bis dahin bleibt der Verdacht: Nicht die Schüler haben das Lesen verlernt – die Reformen haben es ihnen systematisch abgewöhnt.

Das aber wäre immerhin einen Mahnruf wert!

 

[i] https://phzh.ch/ueber-die-phzh/aktuell/medien-und-publikationen/news-und-medienmitteilungen/2025/september-2025/wir-laufen-sehenden-auges-in-ein-schweres-problem-hinein/ [abgerufen: 19.09.2025]; zuerst publiziert in: SonntagsZeitung, 14.09.2025, S. 43f.

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3 Kommentare

  1. GROSSARTIGE REPLIK!
    Ich denke, es bräuchte inzwischen einen sichtbaren und entschiedenen Aufstand der Bildungspraktikerinnen und Bildungspraktiker – der eben Ewiggestrigen – unter dem Motto: Back to the future! Es geht nämlich um nichts weniger, als der selbstverliebten Bildungseliten-Bubble die Luft abzulassen mit einem gezielten Stupf in die Hülle. Die mit Ignoranz gepaarte Arroganz der Bildungsplapperelite hat inzwischen eine Flughöhe erreicht, die in der Fliegerei als “Coffin-Corner” bezeichnet wird. In dieser Höhe liegt die Mindestgeschwindigkeit für die Auftriebserzeugung an den Flügeln aufgrund der dünnen Luft über der zugelassenen maximalen Strömungsgeschwindigkeit. Die Folge: Es geht nichts mehr – Absturz!

  2. Der Schaden, der mit einer Reihe von gewagten didaktischen Experimenten angerichtet wurde, ist riesig. Dazu gehören die von Carl Bossard aufgezählten Lese- und Schreibmethoden, die jahrelang vorherrschende Abwertung des Frontalunterrichts (direkte Instruktion), die ungeeigneten Sprachbäder im Fremdsprachenunterricht und das Auslagern des elementaren Übens in Selbstlernprogramme.

    Ich habe es selbst erlebt, wie Studierende zutiefst verunsichert waren, wenn sie eine Klasse führen sollten. Damit meine ich nicht die berechtigten Startängste, sondern eine innere Hemmung, das Vermitteln von Unterrichtsinhalten als zentrale Aufgabe einer Lehrerin oder eines Lehrer zu sehen. Die Berufseinsteiger versuchten primär als Lernbegleiter der Jugendlichen ihren Auftrag zu erfüllen. Die Freude, eine Lektion inhaltlich, sprachlich und didaktisch mit der ganzen Kraft ihrer Persönlichkeit zu gestalten, kam dabei zu kurz. Man startet nicht als Coach oder gar als graue Maus hinter einem PC in eine erfolgreiche Lehrerlaufbahn.

    Natürlich haben die teils deutlichen Reaktionen aus der Schulpraxis gewisse Kursänderungen an den Pädagogischen Hochschulen ausgelöst. Manche Hochschuldidaktiker mit jahrelanger Praxiserfahrung aus der Volksschule haben sich von gewissen Methoden distanziert und den Studierenden wertvolles Rüstzeug mitgegeben. Aber diese Stimmen der pädagogischen Vernunft hatten es oft nicht einfach, Gehör zu finden. Zu gross war der Druck, unter den Erziehungswissenschaftern der Reformergeneration die wissenschaftliche Anerkennung zu verlieren.

    Die Bilanz der Schulentwicklung der letzten zwanzig Jahre ist wirklich kein Ruhmesblatt. Es braucht jetzt eine Kursänderung. Gewisse Signale aus den Hochschulen lassen darauf schliessen, dass die Rückmeldungen aus der Schulpraxis weit ernster genommen werden als noch vor Kurzem. Aber es geht diesmal nicht nur um ein paar Anpassungen, es geht vielmehr um die grosse Frage der Wirksamkeit unserer Lehrerbildung. Da muss ohne Scheuklappen gründlich über die Bücher gegangen werden.

  3. Sehr geehrter Herr Bossard

    Ich bedanke mich herzlich für eine weitere klarsichtige Analyse!
    Grundsätzlich geht es um das Unterrichten und Lernen, dem trotz Theorien und Erklärungsversuchen immer noch etwas Geheimnisvolles anlastet. Früher waren die Methoden mit viel Überzeugung, aber vielleicht doch nicht immer glücklich gewählt oder glücklich machend, und trotzdem funktionierten sie – irgendwie. Heute steckt in der Didaktik mächtig viel Forschung, aber der Misserfolg wird offensichtlich.
    Entscheidend am Lernen dünkt mich das Verarbeiten des Scheiterns der Lehrkraft. Wenn man als Lehrer nicht glänzt, muss man über die Bücher und kommt zu neuen Einsichten. Dies kann allerdings nur geschehen, wenn die Lehrkraft mutig und selbsttätig ans Werk geht, hinter eigenen Zielen steht und im Misserfolg wächst und erfahren wird, ein Gspüüri bekommt.
    Moderne Unterrichtsrezepte erwecken den Eindruck, dass eine Erfolgsgarantie da ist – ganz ohne Selbstverantwortung. Sie erinnern mich an Müeslipackungen, die mit Vitaminen und Spurenelementen unfehlbar zum körperlichen und seelischen Heil zu führen versprechen: 100g Grabesstille im Schulzimmer, 50g siebenstufiger Arbeitsauftrag in Partnerarbeit mit, 137g Selbstevaluation gemäss dem 18stufigen Raster, 25g Reflexion, zwei Minuten vor der Pause in der Lern- oder Lärmgruppe.
    Reformen und moderne pädagogische Heilsversprechen haben die Lehrkräfte entmündigt. Es ist Zeit, das Unterrichten und Lernen wieder als lustvolles Wagnis zu positionieren.

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