In den Schulen der DDR hieß der Oberlehrer Wladimir Iljitsch Lenin mit seinem Spruch “Lernen, lernen, nochmals lernen!” Da lernen ohne lesen nicht geht, müsste die Devise heute lauten: “Lesen, lesen und nochmals lesen!” Warum?
Dramatisch ist die Zahl der Nicht- oder Schlechtleser. In Deutschland liest ein Viertel der Viertklässler auf unterstem Niveau. Nun ist aus der Forschung längst bekannt, was gegen die Sprachlosigkeit der Kinder getan werden müsste. Das Zauberwort ist “Frühintervention”. Das Urproblem: Kinder, die kein Deutsch sprechen, werden trotzdem in die erste Klasse eingeschult.
Es folgt die Notlösung: Das Kind muss die erste Klasse wiederholen. Das passiert, wie neulich zu lesen war, in großem Ausmaß an einer Schule in Ludwigshafen – seit Jahren. Zwischen einem Viertel und einem Drittel der ABC-Schützen bleiben sitzen. Das müsste Alarm auslösen, doch Jahr um Jahr herrscht bloß Verblüffung.

Die vernünftige Lösung wäre die Pflicht-Vorschule mit Ganztagsunterricht in Kleingruppen unter Einbeziehung der Eltern. Dafür müsste man Geld in die Hand nehmen, das man aber nicht ausgeben will. Eine Milchmädchenrechnung. Denn die Wiederholung einer Grundschulklasse kostet den Steuerzahler etwa 8400 Euro pro Kind. Die besagte Schule in Ludwigshafen hat gegen das Elend immerhin eine “Klasse 0” gestemmt. In dieser Klasse sollen 14 Kinder zweimal pro Woche für je zwei Stunden Grundkompetenzen erwerben. Bezahlen tut das nicht etwa der Staat, sondern eine Stiftung.
Tropfen auf den heissen Stein
Vier Stunden pro Woche? Wenn Spracherwerb mit so geringem Zeitaufwand möglich wäre, würden wir alle polyglott sein. Schauen wir genauer hin: Die des Deutschen nicht mächtigen Kinder leben in ihren Sprachgettos mit Familien, die auch kein Deutsch sprechen. Zweimal zwei Stunden ist der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein.
Nun, Schule ist Zwang – Schulpflicht ist das Konzept, nicht “Schule vielleicht”.
Wie viele Jahrgänge von Schülern müssen noch im sprachlosen schulischen Elend versauern, ehe ein echtes Programm eingesetzt wird? Was würde dazugehören? Eltern müssen verpflichtet werden, zusammen mit ihren vorschulischen Kindern Sprachkurse zu besuchen. Man könnte leicht die Transferleistungen an Anwesenheitspflicht binden. Der Mensch denkt interessenbezogen. Gäbe es die richtigen Anreize, würden beim Elternabend nicht nur ein paar Eltern einrücken und in Förderklassen nicht Förderkinder durch Abwesenheit glänzen. “Das ist Zwang!”, grollen Gutmenschen. Nun, Schule ist Zwang – Schulpflicht ist das Konzept, nicht “Schule vielleicht”.
Kinder, auch solche, die kein Deutsch können, sind mit sechs Jahren schulpflichtig. Statt sie aber in die erste Klasse einzuschulen, sollte man sie zur Vorschule verpflichten, in der ein ganzes Jahr, am besten ganztags, nur Deutsch gelernt wird. Spielend, singend, hörend, bastelnd, einübend. Mindestens einen Tag in der Woche müsste ein Elternteil dabei sein. Kuchen backen mit den Kleinen kann sehr lehrreich sein. Da lernen die Kinder, was “Mehl” oder “Teig”, “Zucker” oder “Eier” bedeuten – Dinge des täglichen Bedarfs.
Es ginge in diesem Vorschuljahr nicht ums Schreibenlernen, sondern um “soft skills”, nichtakademische Fähigkeiten: zuhören, Regeln lernen, stillsitzen, in der Gruppe funktionieren und Kompetenzen mit Materialien erlernen. Keine Übertreibung: Es gibt unter den scheiternden Kindern unzählige, die weder einen Stift halten noch eine Schere benutzen können.
Erfolge durch Kleingruppen
Ein Blick nach draußen. In England beginnt die Schulpflicht bereits mit vier Jahren, da gehen die Kinder in die “Empfangsklasse”, Reception genannt. Die Kleinen lernen zwar auch schon schreiben, aber vor allem haben sie ein Jahr Zeit, sich an die Härten der Schule in der 1. Klasse zu gewöhnen. Am Ende des Vorjahres sind auch die Langsamsten in Sprache und Verhalten besser vorbereitet für den Unterricht. Spielerisch, aber regelgebunden.
“Catch them young”, fangt sie früh ein. Je früher man die Kleinen aus – wie es so schön heißt – “bildungsfernen Schichten” einfängt, desto erfolgreicher sind jene, die zu Hause keine Bücher, keine Stifte, keinen eigenen Platz haben. Wer intensiv in Kleingruppen gefördert wird, kommt hinterher umso besser durchs Leben. Keiner sollte mit sechs Jahren schon zum Sozialfall verdammt sein.
Nur 17 Prozent der Lehrkräfte sehen “Lesen und Schreiben als die wichtigste Fähigkeit, die die Schulen heute vermitteln”.
Mangelnde Deutschkenntnisse und Lesekompetenz führen natürlich zu mehr Förderbedarf und Mehrarbeit für die Lehrer. Das ist teuer und demotivierend. Ein mögliches Problem liegt freilich auch bei den Erwachsenen. Nur 17 Prozent der Lehrkräfte sehen “Lesen und Schreiben als die wichtigste Fähigkeit, die die Schulen heute vermitteln”. Dieses verstörende Manko hat die “Stiftung Lesen” herausgefunden. Aber ohne Lesen und Schreiben ist alles nichts. Kein Buch, keine Zeitung, nicht einmal Untertitel können ohne Lesen gemeistert werden.
Die wohlgemeinte Attitüde der Lehrkräfte wird in den Kindergärten angerührt, wo Erzieher immer noch vom freien Spiel als schönstem Lernziel schwärmen. Ohne Struktur wird bei den Kleinen viel kostbare Zeit vergeudet.

Eltern spielen beim Leseverhalten der Kinder einen wichtigen Part. Viele Kinder wachsen ohne Lesekultur auf. Ihnen liest keiner vor, sie sehen auch keinen lesen. Dabei macht Vorlesen schon kleinsten Kindern Freude. Erleben sie das über die Jahre, ist für sie Lesen – und später Schreiben – mit Spaß, nicht mit Zwang verbunden.
Kinder, denen nie vorgelesen wurde, erleben das Vergnügen nicht. Eine britische Studie fand 2024 heraus, dass für Gen-Z-Eltern “der Spaß eher vom Digitalen und weniger von Büchern kommt”. Das sind dieselben Eltern, die Lesen als etwas betrachten, was gelernt und getestet werden kann. Die Liebe zum Lesen lernt man so nicht.
Quoten sind keine Lösung
En vogue ist nun der Vorschlag, Klassen mit zu vielen Nichtdeutsch-Sprechenden künstlich mit deutschen Muttersprachlern aufzufüllen. Das lässt sich schwer umsetzen. Das amerikanische “busing” hat zwar für einige funktioniert, die aus schlechten Vierteln in bessere Schulen gekarrt wurden. Umgekehrt haben aber die Eltern aus gehobenen Schulbezirken ihre Kinder lieber in Privatschulen gesteckt, statt sie in schlechtere Schulen umverteilen zu lassen. Quoten, zeigt die US-Erfahrung, sind keine Lösung. Mehr Personal, kleinere Gruppen und Sprachtests indes sehr wohl.
Mit mehr als 90 Prozent nicht Deutsch sprechenden Kindern in einer Klasse ist die Schule in Ludwigshafen nur das krasseste Beispiel verfehlter Schulpolitik. Längst hätten dort Sprachtests vor der Einschulung Pflicht sein und die Klassen verkleinert werden müssen. Dass die Schulbürokratie auf Zeit spielt, ist sträflich. Sitzen bleiben ist die teuerste und schlechteste Antwort für die benachteiligten Kinder in Brennpunktschulen.
Jede Schulbehörde weiß, wo die Problemschulen sind, dort müssen sie Geld ausgeben für mehr Lehrer, mehr Sozialarbeiter, mehr Kitas. “Startchancen” ist nicht nur der Name eines Programms, sondern das, was die kleinen Zuwanderer verdienen.
Christine Brinck ist Bildungswissenschafterin und Publizistin und lebt in München.


Paralleler Titel bzw. Artikel: Die stille Bildungskatastrophe der Schweiz.