12. Juni 2025
Nicht im Fokus der Feministinnen

Yasemin wollte ein «unanständiges» Leben führen

Immer wieder begegnet Condorcet-Autor Alain Pichard ehemaligen Schülerinnen oder Schülern mit einer besonderen Biographie. Daraus entstehen wunderbare Beiträge über die Wirkung unseres Schulsystems.

Yasemin (Name geändert) besuchte in den frühen 80er-Jahren die 8. Klasse eine Realabteilung in Biel. Die junge Türkin riss uns den letzten Nerv aus. Sie machte ihre Aufgaben nicht, kam oft zu spät in den Unterricht, hatte enorm viele Absenzen und war geschminkt! Sie lernte sehr schnell Deutsch, weil sie intelligent war und lieber mit jungen Schweizern herummachte, anstatt zu Hause den Abwasch zu besorgen und auf ihren auserwählten Bräutigam zu warten. Ihr Vater verprügelte Yasemin deshalb zwischendurch. Sie überschminkte die blauen Flecken und begann zu rauchen. Dafür erhielt sie auch von ihrem Klassenlehrer eine Ohrfeige. Und Yasemin verteilte ihrerseits Ohrfeigen an ihre Klassenkameraden, wenn diese sich über ihr gewagtes Outfit lustig machten.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Eine immer noch stolze und attraktive Frau.

Als ich eines Abends nach Hause kam, sass sie in der Küche meiner Junggesellenwohnung (die ich nie abschloss) direkt gegenüber dem Schulhaus. Sie hatte ein blaues Auge und fragte mich, ob sie sich hier verstecken könne. Sie wolle nicht mehr nach Hause gehen und ihr Vater fände das gar nicht lustig. Sie übernachtete bei mir und blieb auch am folgenden Tag in meiner Wohnung, wohlwissend, dass ihr Vater sie suchen würde. Niemand in der Schule wusste, wo sich Yasemin aufhielt. Ich telefonierte mit dem Jugendamt und vereinbarte einen Soforttermin. Man stelle sich vor, diese Geschichte hätte sich heute so zugetragen! Genau für diese Situationen wurde auch das Frauenhaus eingerichtet.

Am späten Nachmittag tauchte der Vater tatsächlich in der Schule auf. Ich fing ihn ab und verabredete mich mit ihm in einem Restaurant, weit weg von meiner Wohnung.  Was er arbeitete, weiss ich nicht mehr. Er schuftete jedenfalls zu einem miesen Lohn, ernährte seine Familie, schickte noch Geld nach Hause, sprach gebrochen Deutsch und verstand seine Tochter nicht.  Als ich ihn fragte, was er denn vorhabe, tippte er auf sein Jackett und deutete etwas Unheilvolles an. Ich informierte die Polizei, die ihm einen Besuch abstattete und eine Pistole beschlagnahmte. Die Sozialbehörde fragte mich, ob ich die Vormundschaft für Yasemin übernehmen wolle. Ich lehnte ab. Ich war zu jung und dieser junge Vulkan war eine Nummer zu gross für mich, und ausserdem war ich einer ihrer Lehrer.

Yasemin wurde platziert und machte eine Ausbildung im Service. Danach verlor ich sie aus den Augen. Vor kurzem traf ich sie nach mehr als 40 Jahren in einem Grossverteiler wieder. Sie tätigte dort ihre Einkäufe für ein Restaurant, in dem sie arbeitete. In 15 Minuten erzählte sie mir ein Leben, das ein Buch füllen könnte. Ich traf eine vom Leben gezeichnete, aber immer noch stolze und attraktive Frau und Mutter, die ihren Lebensunterhalt selbst verdient. Als ich sie fragte, was ich hätte besser tun können, meinte sie lachend: «Weniger reden, mehr handeln!»

Sie ging ihren selbstbestimmten Weg, fiel dabei auf die Nase und rappelte sich wieder auf! Der Staat, seine Institutionen und die Sozialhilfe halfen ihr dabei. Es sind unsere Gesetze, welche jungen muslimischen Frauen neue Freiheiten bringen.

Yasemin taugt nicht als Vorbild. Sie wird auch nie – als Feministin gefeiert – auf dem Cover des Spiegels erscheinen und schon gar nicht passt sie in die heutige MeToo-Bewegung. Dafür ist sie zu frech, lebte zu unanständig, ist zu wenig intellektuell und entspringt nicht der Mittel- und Oberschicht. Sie ging ihren selbstbestimmten Weg, fiel dabei auf die Nase und rappelte sich wieder auf! Der Staat, seine Institutionen und die Sozialhilfe halfen ihr dabei. Es sind unsere Gesetze, welche jungen muslimischen Frauen neue Freiheiten bringen.  Die Inanspruchnahme ihrer Verfassungsrechte beschert diesen Frauen ein besseres Leben und nicht das Fabulieren über die ach so bunte und weltoffene Schweiz. Und es erstaunt, dass heute einige Feministinnen mehr für das Tragen des Kopftuchs kämpfen, als für das Recht, es ablegen zu dürfen.

 

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