13. Juni 2025
Die Mehrsprachendidaktik ist unter Druck

Das sinkende Schiff der Mehrsprachigkeitsdidaktik

Die Redaktion des Condorcet-Blogs muss sich bei unseren Leserinnen und Lesern entschuldigen, bei denen wohlmöglich der Eindruck entstanden ist, dass unser Bildungsblog langsam aber sicher monothematisch zu werden beginnt. Schon wieder ein Text zum Frühfranzösisch und den ÜGK-Ergebnissen! Keine Sorge, es folgen bald wieder Beiträge, die sich mit anderen überaus brisanten Bildungsthemen beschäftigen. Immerhin dürfen wir als Erklärung unserer momentanen Priorisierung darauf hinweisen, dass diese Reform wie ein Lehrstück für die gesamthaft verquarkte Reformpolitik der letzten Jahre steht. Im Zentrum des Beitrags von Felix Schmutz steht das Scheitern der Mehrsprachendidaktik, die sich als offensichtlich wissenchaftlicher Unfug herausstellte.

Die Ergebnisse der ÜGK

Die Resultate der ÜGK-Vergleichstests (Überprüfung der Grundkompetenzen) in Deutsch, Französisch und Englisch dürften insbesondere die Französischdidaktiker nicht freuen. Die Werte für Französisch sind mehr als betrüblich. Schweizweit verstehen nur 58% der Jugendlichen, was sie hören, und nur 51%, was sie lesen, wenn sie die obligatorische Schule verlassen. Und gemeint sind damit Grundkompetenzen, also keine anspruchsvollen Polit-Diskussionen oder literarisch hochstehende Texte. Umgekehrt bedeutet das, dass 42% nicht verstehen, was man ihnen auf Französisch sagt, und 49% nichts anfangen können mit dem, was geschrieben steht. In Basel-Stadt sind es sogar 45%, die nichts Gehörtes verstehen, und 54%, die beim Gelesenen passen müssen.

Felix Schmutz, Baselland: Da kann man nur den Kopf schütteln.

Die Folgen einer neuen Didaktik

 Es ist nun 13 Jahre her, seit die Autoren B. Grossenbacher, E. Sauer und D. Wolff in ihrer Einführung zum neuen Französischlehrmittel Mille feuilles unter dem Titel Neue fremdsprachendidaktische Konzepte (Schulverlag plus AG, 2012) eine ganz neue, erfolgversprechende Lehrmethode angepriesen haben:

«Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Didaktik der Mehrsprachigkeit dazu beiträgt, dass beim Sprachenlernen verstärkt Synergien genutzt werden können, welche … den Lernprozess effizienter machen.» (S.7)

Die Ausdifferenzierung der ÜGK-Ergebnisse nach Leistungsstufen zeigt, wem diese neue Didaktik genützt und wem sie offensichtlich nichts gebracht hat: Im Niveau P (progymnasiale Sekundarstufe) erreichen in BS 83% die Grundkompetenzen im Hören und 80% im Lesen. Für Grundkompetenzen auch nicht erhebend, aber immerhin etwas. Im Niveau A hingegen erreichen gerade 15% die Grundkompetenzen im Hören, aber nur ganze 8% diejenigen im Lesen. Beim mittleren Niveau E sind es 44%, die verstehen, was sie hören, und 27%, welche die Texte in Grundzügen verstehen. Damit dürfte erwiesen sein, dass die Mehrsprachigkeitsdidaktik eine äusserst elitäre Lehrmethode ist, die den Begabten und den vermutlich zu Hause Unterstützten nicht schadet, das mittlere und untere Leistungsniveau hingegen klar benachteiligt. Und noch einmal: Es geht um alltägliche Konversation und um einfach gestrickte Alltagstexte.

Wer das Buch von Grossenbacher et al. heute liest, kann nur den Kopf schütteln, mit welchem Optimismus das Autorenteam damals seine Theorien vertreten und fest daran geglaubt hat, obwohl es keinerlei wissenschaftlich fundierte Bestätigung gab, dass seine Überzeugungen in der Realität der Volksschule in einen gelingenden Unterricht überführt werden können.

Wer das Buch von Grossenbacher et al. heute liest, kann nur den Kopf schütteln, mit welchem Optimismus das Autorenteam damals seine Theorien vertreten und fest daran geglaubt hat, obwohl es keinerlei wissenschaftlich fundierte Bestätigung gab, dass seine Überzeugungen in der Realität der Volksschule in einen gelingenden Unterricht überführt werden können. In unzähligen Fortbildungsstunden wurden Lehrkräfte mit dem neuen Konzept indoktriniert. Kritik daran wurde als Majestätsbeleidigung, Arbeitsverweigerung und elende Rückständigkeit gedeutet. Sanktionen wurden verhängt. Von der Politik und den Erziehungsbehörden wurden die Konzepte als «wissenschaftliche Wahrheit» eins zu eins geglaubt und unterstützt.

Bereits eine frühere Überprüfung der Ergebnisse der Französischkenntnisse mit den neuen Lehrmitteln durch die Universität Fribourg war enttäuschend ausgefallen. Die Prinzipien der Mehrsprachigkeitsdidaktik, die den Lehrmitteln zu Grunde gelegt wurden, lassen deshalb aus heutiger Sicht eher eine Art Antididaktik erkennen, die Lernfortschritte eher verhindert als befördert. Hier ein paar Beispiele für Fehlannahmen der Autoren:

  1. Die Mehrsprachigkeit

Die Fremdsprachen sollen kombiniert und vernetzt unterrichtet werden, denn sprachliche Tätigkeit spielt sich im Gehirn an den gleichen Stellen ab, was die bildgebenden Verfahren zeigen.

Die Begrüssung in Französisch auch mit Italienisch, Englisch, Romanisch, Russisch, Serbisch ja sogar Suaheli vergleichen…

Das führte dazu, dass Primarschulkinder die Begrüssung in Französisch auch mit Italienisch, Englisch, Romanisch, Russisch, Serbisch ja sogar Suaheli vergleichen sollten, um sie sich einzuprägen. Der bisher möglichst einsprachig zu führende Unterricht wurde als rückständig und nicht hirnkonform gegeisselt. Ständige Sprachvergleiche sollten Synergien schaffen.

Tatsächlich ist der Ort der Sprachtätigkeit im Gehirn noch keinerlei Beweis dafür, dass Menschen die Sprachen beim Sprechen dauernd vernetzen, dass sich für den täglichen Diskurs Erleichterungen zum Lernen einer Sprache ergeben. Sprachvergleiche ergeben vielmehr, dass sich Wörter und Strukturen mit gleichem Ursprung in den Sprachen systemimmanent unterschiedlich entwickelt haben, dass solche Vergleiche und Vernetzungen deshalb sehr anspruchsvoll sein können und für Gespräche im Hier und Jetzt wenig Bedeutung haben.

  1. Authentische Texte

Authentische Materialien ersetzen die bisher üblichen didaktisch konstruierten Texte. D.h. Die Texte werden nach Themen ausgesucht, die für die Altersstufe geeignet scheinen, unabhängig davon, welche Strukturen und welcher Wortschatz darin auftauchen. Wörter und Strukturen werden dann erklärt, wenn sie (zufällig) in den Texten auftauchen. Dahinter steckt eine Idee, die Steven Krashen zu Beginn der 80-er Jahre aufgebracht hat: Der Aufbau der Strukturen einer Sprache kann nicht durch schulischen Unterricht erfolgen, das Individuum konstruiert sich diesen Aufbau nach eigener Reihenfolge selbst in der Begegnung mit Sprache.

Dieser Ansatz (auch konstruktivistisch genannt) ist sehr optimistisch, denn er läuft allen didaktischen Grundsätzen zuwider, welche schulischen Unterricht in allen Fächern prägen: nämlich, dass Kenntnisse schrittweise aufgebaut werden müssen, dass zuerst Gelerntes mit Neuem vernetzt werden muss. Die Forderung, dass die Inhalte ansprechend sein sollten, ist durchaus richtig. Nicht einzusehen ist jedoch die kategorische Auflage, dass die Texte nicht sprachlich dem Lernniveau angepasst sein dürfen. Dies führt bei den Kindern dazu, dass Texte gar nie wirklich begriffen werden, sondern vieles oder gar das meiste sprachlich nicht durchschaut wird. Bedeutung ergibt sich jedoch erst, wenn Wörter im Satzzusammenhang durchschaut werden.

Wer keine Automatisierungsübungen zulässt, muss sich nicht wundern, wenn die Sprache im besten Fall theoretisch verfügbar, aber nicht praktisch einsetzbar ist.

  1. Handlungsorientierung
Prof. Dr. Lutz Jäncke, Neuropsychologe, Universität Zürich: So ein Unterricht rauscht einfach vorbei.

Handlungsorientierung muss das Französischlernen bestimmen. Deshalb soll das Gelernte in echten Kommunikationssituationen angewendet werden: Präsentationen, Präferenzen ausdiskutieren, etc. Spielerische Simulationen, Rollenspiele gelten als unauthentisch und sind unerwünscht. Was in dieser Doktrin zu kurz kommt, ist das menschliche Gedächtnis: Sprache ist ein weitgehend prozedurales Phänomen, das nur durch Übung, häufige Wiederholung erreicht werden kann. (Lutz Jäncke, Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften, Bern 2024) Wer keine Automatisierungsübungen zulässt, muss sich nicht wundern, wenn die Sprache im besten Fall theoretisch verfügbar, aber nicht praktisch einsetzbar ist.

Der kurze Überblick zeigt es: Das heute geltende Fremdsprachenkonzept wird durch theoretisch-abstrakte Prinzipien bestimmt. Vieles muss im deklarativen Gedächtnis verankert und verarbeitet werden, um fruchtbar zu werden. Das begünstigt Schülerinnen und Schüler mit überdurchschnittlich guten kognitiven Fähigkeiten. An den Schwächeren rauscht dieser Unterricht ohne Nachhaltigkeit vorbei. Ein Sprachunterricht, der auf praktische Verwendung, auf Kompetenzen zielt, müsste aber vornehmlich das prozedurale Gedächtnis ins Visier nehmen, d.h. das Einüben und Automatisieren von Sprache, damit Lernende befähigt werden, spontan in der Fremdsprache zu reagieren. Das Verstehen müsste schrittweise aufgebaut werden durch konstanten Gebrauch der Sprache und ständige Rückversicherung, ob auch wirklich verstanden wird.

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2 Kommentare

  1. Das liegt daran, dass nicht auch noch Früh-Suaheli eingeführt wurde. Ebenso Früh-Türkisch, Früh-Arabisch mit allen Dialekten – von Früh-Russisch und Früh-Chinesisch ganz zu schweigen.

  2. Beim letzten Satz im Leadtext musste ich schmunzeln.
    Gemeint war wohl “…als offensichtlichER wissenschaftlicher Unfug herausstellte”.
    Denn “offensichtlich wissenschaftlich” ist dieser Unfug ganz und gar nicht

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