Ohne Zahl sind die Einschätzungen, Erfahrungsberichte, Mahnungen, Weckrufe, die allein seit der Veröffentlichung der jüngsten PISA-Studie zur deutschen, oft auch zur europäischen Bildungsmisere veröffentlicht worden sind. Die Diskussion über die Machart der Studie füllen mittlerweile ganze Regalwände, fast stündlich klagt im Radio, im Fernsehen, in der Zeitung, vor allem natürlich im Internet ein Lehrer darüber, seine Schüler könnten sich kaum noch konzentrieren. Den wenigsten Zehntklässlern sei bekannt, wie man Brüche addiere, daran, im Unterricht ein deutsches Drama zu lesen, sei überhaupt nicht mehr zu denken.
Auch den Schulabgängern, den Ausbildungs- und Studienanfängern schenkt der öffentliche Diskurs viel Aufmerksamkeit. Hier klagt der Vertreter einer Handwerksinnung, man finde kaum noch geeigneten Nachwuchs, den ohnehin nicht zahlreichen Bewerbern fehle oft das Nötigste. Dort zeigen sich Universitäten besorgt, weil sie selbst mit Vorbereitungskursen keine akzeptablen Ausgangsvoraussetzungen mehr herstellen können.
Selten aber richtet sich der Blick auf diejenigen, die einen halben Schritt weiter sind, als sei unter den Studenten höherer Semester und Berufsanfängern alles beim Alten. Die Berichterstattung setzt dann wieder ein, wenn es um Work-Life-Balance geht, das aber hat dann mit Bildung eigentlich nichts mehr zu tun.
Alles folgt der Zweckmäßigkeit
Es ist unter den Studenten, über deren Situation zu urteilen ich mir herausnehme, natürlich nichts beim Alten. Und vielleicht rührt der blinde Fleck, hinter dem dieser Tatbestand versteckt liegt, daher, dass sein Anblick noch schwerer zu ertragen ist als der von an ihren Smartphones hängenden Grundschülern. Bei Letzteren bleibt dem Betrachter immerhin die Hoffnung, es werde schon nicht so schlimm kommen wie befürchtet, zumindest einige dieser Kinder würden eines Tages mit Freude und Begeisterung ein Buch in Händen halten, würden sich wie so viele vor ihnen auf ihren persönlichen, von der Schulpflicht bloß unterfütterten Bildungsweg machen. Bei den fortgeschrittenen Studenten aber ist unverkennbar, dass kaum einer von ihnen mehr als ein paar Schritte auf diesem Weg gegangen ist.
Einer ganzen studentischen Jugend sind die Fixpunkte abhandengekommen, an denen sich das Denken reibt, misst und ausrichtet.
Es geht dabei nicht um Äußerlichkeiten. Gerne wird von jungen Menschen zur Kritikabwehr auf ein einzelnes Bildungsgut verwiesen, zum Beispiel auf die napoleonischen Kriege. Behauptet wird nun, deren Kenntnis sei wertlos, wörtlich heißt es meist, sie bringe gar nichts. Ganz ohne Frage gibt es für den Studenten der Medizin, wie ich einer bin, wichtigere Tatbestände als den Frieden von Basel oder Tilsit. Und doch entlarvt sich, wer so spricht, als Opfer der Entwicklung, als deren nüchterner Beschreiber er oder sie sich fühlt. Ihm gilt Bildung nicht mehr als lebendiger Schatz, den wir in uns tragen, den wir formen und der uns formt, der Praktisches genauso umfasst wie weniger Zweckmäßiges, das dennoch von Bedeutung ist, weil es schön, hässlich, kurios oder außergewöhnlich ist.
Oh ja, ein paar Dinge müsse man schon wissen, um im Leben bestehen zu können – gemeint sind das Berufsleben, Steuererklärungen, Vermögensaufbau, Bundestagswahlen. Aber jeder Wissensbestand ist zuerst Gegenstand einer Nützlichkeitsabwägung, und im Zweifel gilt: besser zu wenig als zu viel. Wem dies der Maßstab ist, dem fehlt es nicht einfach nur an ein paar Äußerlichkeiten. Der ist geistig leer, wird es bleiben – und ist damit nicht allein. Denn einer ganzen studentischen Jugend sind die Fixpunkte abhandengekommen, an denen sich das Denken reibt, misst und ausrichtet.
Fetisch Work-Life-Balance
Die Rede ist nicht bloß von den ganz Großen, mit deren in luftigen Höhen ersonnenen Ideen und Konzepten von jeher nur die wenigsten näher vertraut waren: Über meinem Schreibtisch hängt seit Jahren ein Poster, das Helmut Schmidt auf dem Bundesparteitag der SPD 1966 zeigt. Als Abiturient imponierten mir sein Bekenntnis zum Stoizismus, seine Überzeugung, ein tagtäglich gewaltiges Arbeitspensum sei ihm angemessen, seine charmante Arroganz, sein Spagat zwischen Bodenständigkeit und Intellektualität.
Doch selbst diesen medienwirksamen Mann erkennen die wenigsten Kommilitonen beim Besuch meiner Wohnung, manchen sagt nicht einmal sein Name etwas. Und keiner ist begierig, mehr über ihn zu erfahren. Er ist ihnen gleichgültig. Denn vor allem geht dieser Generation der Antrieb ab, nach den größeren und kleineren Fixpunkten Ausschau zu halten. Das alte Idealbild eines gebildeten, das heißt belesenen, vielseitig interessierten, wortgewandten, kultivierten Menschen, der weiß, auf wessen Schultern er steht, hat unter uns Studenten nicht viele Anhänger.
Diesen Befund zu erheben, um in der Sprache der Mediziner zu sprechen, heißt, das Ende eines Zeitalters festzustellen. Zeitalter, das ist ein großes Wort. Zu groß aber nicht, schließlich hat Golo Mann den “Respekt vor dem Geist” als charakteristisch für das bürgerliche Zeitalter beschrieben, das daher nun, seines zentralen Wesensmerkmales verlustig gegangen, für beendet zu erklären ist.
Golden erscheint im Rückblick diese Zeit, da von Persönlichkeitsbildung die Rede war, man daran glaubte, dass aus Bildung unabhängige und streitbare Persönlichkeiten erwüchsen und dadurch das Lebenselixier liberaler Gesellschaften garantiert sei: die Achtung vor dem Individuellen. Grau ist die Gegenwart. Studenten unterscheiden sich kaum noch voneinander, alles verschwimmt im Durcheinander der Bildchen und Videos in den sozialen Medien, die heute Dreh- und Angelpunkt des Studentenlebens sind. Zwar präsentieren die Plattformen ihren Usern eine auf ihre Gewohnheiten und Interessen abgestimmte Auswahl des oft belanglosen, oft belehrenden, meist oberflächlichen, fast immer gefühligen Treibens.
Als seien wir Fabrikarbeiter
Doch es genügt, einen kleinen Schritt zurückzutreten, schon sehen die „For You Pages“ alle gleich aus. Kürzlich sagte mir ein Studienfreund, nur halb im Scherz, die Gespräche in der Mensa ließen sich genauso gut durch KI generieren, ohne dass sie an Gehalt verlören. Da wir altmodisch sind, hatten wir beide nicht die fortgeschrittenen Modelle im Sinn, die mittlerweile zur Verfügung stehen, sondern einfache Programme, welche die immer gleichen Phrasen von sich geben.
Eine dieser Phrasen, die ein Studentenrobotor beherrschen müsste, würde den Begriff „Work-Life-Balance“ enthalten. Ganz ungeniert wird er im Munde geführt, so schlug vor einiger Zeit eine Freundin vor, man sollte alle Verantwortlichen für die Lehrveranstaltungen unseres Semesters befragen, wie viel Zeit nach ihrer Maßgabe dem jeweiligen Fach oder Kurs zu widmen sei. Wenn man insgesamt auf mehr als 40 Stunden pro Woche käme, sei erwiesen, dass viel zu viel von uns verlangt werde, „Work-Life-Balance und so“. Als seien wir Fabrikarbeiter.
Ehedem wäre es wohl kaum einem Studenten oder Studierten eingefallen, die Arbeit, zumal das Studium, dem Leben gegenüberzustellen. Zur geistigen Tätigkeit waren sie fest entschlossen, der widmeten sie ihr Leben, auch ihre Freizeit.
Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass dem Universitätsbesuch heute nicht mehr jene spezifische Prägung vorausgeht, die höhere Bildung einmal ausmachte. Ehedem wäre es wohl kaum einem Studenten oder Studierten eingefallen, die Arbeit, zumal das Studium, dem Leben gegenüberzustellen. Zur geistigen Tätigkeit waren sie fest entschlossen, der widmeten sie ihr Leben, auch ihre Freizeit. In einem in der F.A.Z. erschienenen Interview erzählte der 1929 geborene Althistoriker Christian Meier, als Doktoranden hätten er und seine Freunde nach einem langen Bibliothekstag um zwölf Uhr nachts angefangen, sich über die Zeitungslektüre zu unterhalten.
Der Weg zur höheren Berufsschule
Aber Unterschiede zwischen den Menschen darf es heute nicht mehr geben. Das wissen auch die Universitäten, die ohnehin jede Achtung vor sich selbst oder einem besonderen Geist, der an ihnen herrschen solle, verloren haben. Jedenfalls steht es so um die Medizinische Fakultät, an der ich studiere. Eigentlich müsste es heißen: So steht es um die höhere Berufsschule, an der ich zum Arzt ausgebildet werde. In bestem Einvernehmen mit den Studenten – noch hält man an den alten Bezeichnungen fest, alles braucht seine Zeit – werden letzte Spuren eines vermeintlich überkommenen Bildungsverständnisses beseitigt. Die Königsdisziplin der klinischen Medizin, die Pathophysiologie, Lehre von den grundlegenden Krankheitsmechanismen, früher in dicken Lehrbüchern dargestellt und in anspruchsvollen Seminaren besprochen und diskutiert, muss „skills trainings“ und Fallseminaren weichen, deren Gegenstand das praktische Vorgehen in konkreten Situationen ist. Man kommt sich sehr zeitgemäß vor.
Noch im Bild, das unsere Großeltern von der Gesellschaft hatten, bildeten Ärzte mit Anwälten, Gymnasiallehrern und Professoren eine herausgehobene Schicht – das Bildungsbürgertum. Es zu verherrlichen liegt mir fern. Meist entschied die Herkunft darüber, ob man ihm angehörte oder nicht, ihre Vertreter waren oft elitär im schlechtesten Sinne des Wortes, Frauen konnten ihm nur in der Rolle der sorgenden Gattin angehören. Und schließlich liefen die Absolventen bester humanistischer Gymnasien den Nationalsozialisten in Scharen zu, wurden auch sie schuldig, viele zu Verbrechern.
Das Aussterben dieser Schicht zu beklagen mag daher befremden, und man werfe mir vor, ich sei ungerecht und ließe mich zu Übertreibungen hinreißen. Da mag etwas dran sein. Aber das Unbehagen an der rasenden Geschwindigkeit, mit der wir alles hinter uns lassen, was einmal heilig war, und die Befürchtung, dass wir mit guten Absichten dem schlimmsten, dem gleichmäßig verteilten Stumpfsinn entgegeneilen, sind größer als die Furcht davor, mich lächerlich zu machen.