Als ich vor meinem Stellenantritt in Pieterlen meine zukünftige 3. Klasse besuchte, um mir ein Bild von der Schulsituation zu machen, tat ich das in «inoffizieller» Mission. Das heisst, dass ich den Kindern als zukünftiger Lehrer vorgestellt wurde, aber noch nicht im Amt war. Aus Unachtsamkeit entfernte ich damals den kleinen Israel-Clip nicht von meinem Jackett, wie ich es sonst immer tue, wenn ich eine Schule betrete. Noch vor dem Klassenzimmer trat ein aufmerksames 8-jähriges Mädchen auf mich zu, wies auf den Badge und fragte mich: «Bist du für die Palästinenser oder die Israelis?» Ich stutzte zuerst, um dann zu antworten: «Ich habe Freunde auf beiden Seiten!» Eine Aussage, die übrigens nicht gelogen ist. Ich entfernte den Clip und betrat das Klassenzimmer. Nach dem Besuch wies ich die Kinder an, gross ihren Namen auf ein Papier zu schreiben und fotografierte sie in Zweiergruppen, um mir über die verbleibenden Tage die Namen zu merken. Als das besagte Mädchen vor mich trat und ihren Namen hochhielt, las ich den Slogan: «Free Palestine». Ich fotografierte sie kommentarlos. Kurz danach fragte mich die Schülerin, wie ich das fände, was sie über ihren Namen schrieb. Ich schmunzelte: «Du hast einen sehr schönen Namen.»
Etwas deftiger ging es in einer Oberstufe in einem bernischen Aussenquartier zu. Es traf den 12-jährigen 7. Klässer Nathan*. Sein erster «Fehler» war, dass er jüdischer Herkunft ist. Sein zweiter Fehler bestand in dem Irrtum, dass er ungestraft als Thema seines Geographievortrags über das kleine Israel referieren könne. Es ging eigentlich um die üblichen geographische Themen: Topographie, Städte, Wirtschaft und Geschichte. Nathan kam nur einige Sätze weit. Die muslimischen Schüler seiner Klasse begannen zu buhen und warfen sogar Gegenstände in Richtung des jungen Referenten. Die Klassenlehrerin brach den Vortrag ab und meldete die Unterrichtsstörung dem Schulleiter. In einer Notsitzung beschloss man: Keine Vorträge mehr über Israel und Palästina! Man mahnte zu Toleranz und ging zum täglichen Unterrichtsgeschehen über.
An einer der unzähligen Pro-Palästina-Demonstrationen, die am letzten Wochenende in Genf stattfand, wurden zwei jungen Mädchen – ich schätzte sie auf 8 Jahre alt – je ein grosses Mikrofon in die Hand gedrückt. Wie bei einem Fussballmatch schrien die beiden – hübsch in palästinensischen Farben und Insignien eingekleidet – die üblichen antiisraelischen Hassparolen in die Mikrofone: Free, free Palestine, Stopp Genocide, From the river tot he sea… usw.
Schon etwas älter – nämlich 15 Jahre alt – war der eingebürgerte junge Tunesier, der im Mai dieses Jahres in Zürich den 50-jährigen Orthodoxen Meir Zvi Jung niederstach. Seine Worte: «Ich bin Schweizer. Ich bin Muslim. Ich bin hier, um Juden zu töten.»
Wie bei vielen gesellschaftlichen Problemen, darf es nun die Schule richten. Vor einigen Wochen trat die Kantonspolizei unterstützt durch die Politik auf den Plan. Mit neuen Massnahmen und einer klaren Botschaft soll in den Schulen gegen Antisemitismus und Islamophobie (Islamophobie gehört bekanntlich immer dazu, wenn wir über Antisemitismus reden) vorgegangen werden. Mit über 30 Religionsgemeinschaften, unabhängigen Organisationen, Behörden, Bildungsinstitutionen und weiteren Partnerinnen und Partnern wurde die Initiative „Gemeinsam gegen Hass“ gestartet. Die nobelpreiswürdige Erkenntnis des Polizeisprechers: «Hinter Hassdelikten stecken oftmals Vorurteile!» Aha! Und wer verbreitet sie denn, diese Vorurteile?
Da man Erwachsene nicht erziehen kann, versucht man es bei den Kindern. Mit ihnen versucht man, eine neue Welt zu bauen, mit Legosteinen der Toleranz und des Respekts.
Da man Erwachsene nicht erziehen kann, versucht man es bei den Kindern. Mit ihnen versucht man, eine neue Welt zu bauen, mit Legosteinen der Toleranz und des Respekts. Danach aber entlässt man sie in die alte Welt, in der ungehemmt und zum Teil von den gleichen Akteuren eine masslose Israelhetze betrieben wird, und – das wollen wir nicht vergessen – auf der anderen Seite das Leid der Palästinenser völlig ausgeblendet wird. Schon Hanna Arendt stellt in ihrem Essay “Krise der Erziehung” fest: “Technisch folgt hieraus vor allem, daß man eine klare Grenze zieht zwischen den Jungen und den Erwachsenen, daß man nicht versucht, Erwachsene zu erziehen, und nicht versucht, Kinder zu
behandeln, als ob sie Erwachsene wären.”
In Europa rieb man sich ob des Sieges von Donald Trump verwundert die Augen, sagten doch unsere Medien einen anderen Ausgang voraus. Den berühmte Erklärungssatz: «It’ the economy, stupid» möchte ich in diesem Zusammenhang folgendermassen umwandeln: «Es sind die Erwachsenen, Dummkopf!»