20. Dezember 2024
Bildung

Blosse Qualifizierung reicht nicht

Bildung sei wichtig. Das betonen alle. Was aber bedeutet sie? Schlüsselqualifikationen oder Basiskompetenzen, operationalisierbare Fähigkeiten oder eine möglichst hohe Maturitätsquote, wie dies die OECD fordert? Gedanken zu einem inflationär gebrauchten Wort von Condorcet-Autor Carl Bossard.

 

Liegt die Zukunft der Bildung in ihrer Vergangenheit? Wer heute über Bildung spricht, der blickt zurück – auf den Literaturkanon, auf alte Philosophen, auf den humanistischen Bildungsbegriff. 1999 noch erzielte Dietrich Schwanitz mit seinem verwegenen Vademecum “Bildung – alles, was man wissen muss” einen Verkaufsschlager. Doch er publizierte auf der Schnittlinie eines Umbruchs.

Was nützt mir Bildung? 

Der Wissens- und Informationsgesellschaft droht die Bildung abhandenzukommen. Bildung hat es heute schwer. Gefragt sind Kompetenzen, beruflich kalkulierbar, ökonomisch einsetzbar, finanziell verwertbar. Das Kalkül der Nützlichkeit dominiert und diktiert. Die Idee der betriebswirtschaftlichen oder technischen Effizienz hat die Idee der Bildung verdrängt. Relevant ist sie als ökonomischer Faktor und “bilanzierbare Kennzahl des Humankapitals” [1] – unter den Parametern des maximierten Gewinns.

Condorcet-Autor Carl Bossard

So scheint es. Ganz gemäss der griechischen Anekdote: Der Schüler Stobaios hatte eben angefangen, beim Mathematiker Euklid Geometrie zu studieren. Als er den ersten Lehrsatz gelernt hatte, fragte er seinen Lehrer: “Welchen Gewinn habe ich nun davon, wenn ich all das lerne und all das weiss?” Da rief Euklid seinen Diener und sagte: “Gib ihm drei Drachmen! Er muss Gewinn schlagen aus dem, was er lernt.”

Bereits die Antike wusste: Wissen meint ein Erkennen, Verstehen, Begreifen. Ob Wissen nützen kann, ist nie eine Frage des Wissens selbst, sondern der Situation, in die man gerät. 2‘500 Jahre sind seither vergangen. Stobaios lebt weiter, und seine Devise, von Euklid kritisiert, ist aktueller denn je: Wissen wird pragmatisch am möglichen Geldwert bemessen, verbunden mit der kühl kalkulierenden Frage: Was nützt mir Bildung?

Bildung ist mehr als ein wohlklingendes Zertifikat

Ja, was bringt mir Bildung? Anscheinend viel, sehr viel sogar: Bildung ist gefragtes Gut und in aller Munde. Ein Dauergerede. Wo über Unterricht, Schule und Hochschule diskutiert wird, fällt das Wort. Man tut, als rege sich auf allen Wegen ein unersättlicher Bildungshunger, als spüre man das menschliche Urbedürfnis, etwas zu lernen. Das Leben nötige uns zu lebenslanger Bildung, wird gesagt, die Bildung müsse im Kindergarten beginnen und im Altersheim enden, dazwischen sei permanente Weiterbildung der ultimative Imperativ. Da ist von Bildungsreserven die Rede, von Bildungsmanagement und Bildungsoffensive, von der Bildungsexplosion mit stetig steigender Zertifiziertenquote; dazu Fortbildung und Weiterbildung, akademische Bildung und Seniorenbildung. Gar von digitaler Bildung ist die Rede! Die Bildungsflut hat uns mitgerissen.

Wilhelm von Humboldt – vor der Humboldt-Universität in Berlin: Seine Bildungsideale hatten Vorbildwirkung. (Bild: picture-alliance/dpa)

Aber, verdient dies alles den Namen Bildung? Oder handelt es sich hier bloss um Etikettenschwindel? Müsste all das nicht anders bezeichnet sein? Als Unterricht und Lernen, als Trainings- und Qualifizierungsprozesse, als Ausbildung und Instruktion? Und ist Bildung nicht allzu oft Synonym für den Wunsch, ein schönes Papier zu besitzen? Der Ausweis von Bildung durch den Nachweis eines Dokuments mit Punkten und Titeln: Doch wo man von Bildung spricht, meint man da nicht nur das Zertifikat, sondern auch die soziale Reputation und gesellschaftliche Distinktion? Man erkennt im Abschluss den Anspruch auf höhere Stellung und kräftigeres Salär. Aufstieg durch Bildung, Aufstieg als Zweck, Bildung als Mittel.

Bilden kann sich jeder nur selbst

Bildung ist zwar eine schöne Sache, doch der Weg dorthin eine rechte Plackerei und alles andere als eine asphaltierte Schnellstrasse. Die Schule ist eben kein Take-away für Bildung, wo sich alle anmelden und alle den ersehnten Abschluss wie eine Billigpizza erhalten. Es ist das simple Geheimnis aller Bildung, dass sie Arbeit ist und Engagement erfordert. Bildung ist nicht Zustand, sondern persönlicher Prozess und individuelle Entwicklung.

Der Begriff als solcher ist diffus geworden. Die Definition fällt schwer, selbst in der geisteswissenschaftlichen Denktradition – und heute sowieso. In einer sogenannten Wissens- und Informationsgesellschaft überrascht das. Sogar der deutsche Bildungsreformer Hartmut von Hentig verzichtet in seinem Buch über “Bildung” auf eine Definition. [2] Da lohnt es sich, an das zu erinnern, was Bildung eigentlich sein könnte. Der Philosoph Peter Bieri, unter dem Pseudonym Pascal Mercier auch als Romancier bekannt, versucht eine zeitgemässe und zukunftsfähige Bestimmung des Bildungsbegriffs:

“Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein blosses Wortspiel. […] Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.” [3]

Bildung als humane Kultivierung seiner selbst

Der Mensch ist nicht einfach, er hat “auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein”, betont Bieri. Voraussetzung dafür ist Bildung. Eben: Wenn wir uns bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden. Eine wunderbare Definition. Bildung als humane Kultivierung seiner selbst, meinte Wilhelm von Humboldt, preussischer Gelehrter und Mitbegründer der Universität Berlin, sinngemäss. Daraus entsteht verantwortete Handlungsfähigkeit im Kontext der Mit- und Umwelt.

Wilhelm von Humboldt (1767–1835) in einem zeitgenössischen Porträt. Er reformierte das preussische Bildungssystem und gründete die später nach ihm benannte Berliner Universität. (Bild: Keystone/Photopress-Archiv/Str)

Darum sei der Gebildete derjenige, der versuche, “so viel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden”. [4] So gedacht, lässt sich Bildung nicht standardisieren und nicht über Kompetenzen definieren, denn sie kann konsequent nur vom Subjekt her gedacht sein. Der Welt und sich selber begegnen, die Wechselwirkung von Ich und Welt erfahren – auch im kleinen, persönlichen Mikrokosmos – und sie gestalten. Tätiges Begreifen der Welt, darum geht es Humboldt. Das ist die Sinnperspektive der Bildung und vielleicht das humanistische Bildungsideal mit seiner lebensgestaltenden Energie.

Ethisch-kulturelle Orientierung

Noch nie war eine Bildung, die über den Tagesbedarf und das berufliche Kerngeschäft hinausgeht, so unentbehrlich wie heute. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich nicht nur als offene (Karl Popper), sondern auch als beschleunigte versteht. Zu ihrem Credo gehören permanente Innovation, grenzenlose Mobilität und hektische Flexibilität. Der Zwang zum “Change” als Dogma. Ohne Bildungselemente aber geht eine offene Gesellschaft an ihrer eigenen Wandelbarkeit zugrunde, mahnt der deutsche Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstrass. [5]

Es ist paradox: Je reicher unsere Gesellschaft an Information und Wissen wird, desto ärmer scheint sie an Orientierungsvermögen zu werden. Für diese Fähigkeit aber steht der Begriff der Bildung – und für die ethisch-moralische Dimension der Begriff der Humanität. Sie umfasst damit Werte wie Demut, Bescheidenheit und Empathie und bewahrt vielleicht vor Hybris, Hochmut und Habgier. Daher schliesst der Begriff der Bildung auch den Begriff der Orientierung ein – im klassischen wie im modernen Sinne. So ist Bildung nichts Theoretisches, kein blosses Sich-Auskennen in Bildungs- oder Wissensbeständen, sondern eine Lebensform, “[…] eine bestimmte Art und Weise, in der Welt zu sein”.

 

[1] Konrad Paul Liessmann (2006), Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien: Paul Zsolnay Verlag, S. 10.

[2] Hartmut von Hentig (2004), Bildung. Ein Essay. Weinheim: Beltz-Verlag; vgl. Heinz-Elmar Tenorth (2020), Die Rede von Bildung. Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz. Berlin: J.B. Metzler

[3] Peter Bieri, Wie wäre es, gebildet zu sein? In: Hans-Ulrich Lessing, Volker Steenblock (Hg.), «Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht…». Klassische Texte einer Philosophie der Bildung. Freiburg im Breisgau: Verlag Karl Alber 2010, 205f.

[4] Wilhelm von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen. Gesammelte Schriften I-XVII. Berlin 1903-1936, I, S. 255.

[5] Jürgen Mittelstrass (1997), Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

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2 Kommentare

  1. Unsere Volksschule soll nützliche Kompetenzen vermitteln, das gehört zu ihrem Grundauftrag. Doch wie Carl Bossard schreibt, geht Bildung weit darüber hinaus, indem sie zum vertieften Nachdenken über Ausschnitte aus unserer Welt und zur Arbeit an sich selbst anregen soll.

    Aktuell scheint sich die Balance bei den Lernzielen von aufbauender Kulturvermittlung zu anwendbaren Kompetenzen hin verschoben zu haben. Der Erwerb von Fremdsprachen gilt als Schlüsselkompetenz in einer global vernetzten Welt und hat eine sagenhafte Betriebsamkeit in der Didaktik ausgelöst. Eine ähnliche Entwicklung bahnt sich in den Naturwissenschaften an, in welchen unsere Gesellschaft wohl nicht zu Unrecht eine wichtige Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg sieht. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn nicht die speziell kulturbildenden Fächer Geschichte und Geografie so sträflich vernachlässigt würden. Das Basiswissen unserer Schulabgänger in diesen Fächern ist teils bedenklich tief, weil deren Inhalte als wenig nutzbringend eingestuft werden. Was für eine Verarmung, wenn unsere Volksschüler kaum noch etwas über unsere eigene Vergangenheit wissen und in der Geografie das Nebulöse vorherrscht.

    Die Volksschule ist eine Kulturträgerin ersten Ranges. Sie prägt Vorstellungen über unser Zusammenleben. Kompetente Lehrpersonen können erklären, wie etwas zustandekommen ist und welche Werte von Bedeutung sind. Lehrpersonen sollen und dürfen Kulturbotschafter sein, auch wenn der direkte Nutzen mancher Bildungsinhalte nicht ausgewiesen ist. Jugendliche, welche eine kulturelle Horizonterweiterung erlebt haben und grosse geschichtliche Zusammenhänge verstehen, sind später eher bereit, am Aufbau unserer Gesellschaft mitzuarbeiten. Doch damit dieser Auftrag der Volksschule wieder besser gelingt, muss in der Lehrerbildung mehr in die Realienfächer investiert und die fatale politische Gleichgültigkeit gegenüber diesen Fächern überwunden werden.

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