Die Elternarbeit ist ein zentraler Bestandteil der Lehrtätigkeit an unseren Schulen. Sie erschöpft sich nicht in den Elterngesprächen, sondern bezieht die Erziehungsberechtigten – wie es im Bürokratenjargon heute heisst – auch in die Schulhauskultur ein. Theateraufführungen, Besuchstage, Feste, Unterrichtsbesuche, Kriseninterventionen und nicht selten auch der Einbezug der Ressourcen für die Mitarbeit (Reisebegleitung, Fachreferate) auf verschiedenen Ebenen gehören dazu.
Als ich Ende der 70er Jahre in den Schuldienst eintrat, waren die Eltern in der Schule ein Nonvaleur. Ihre Meinung galt wenig, allfällige Kritik wurde oft schroff «weggebürstet», ihr Fernbleiben an Schulausstellungen hingegen argwöhnisch registriert.
Elterngespräche galten als zeitraubend und mühsam und waren daher auch freiwillig. Viele Lehrkräfte verzichteten gänzlich auf sie. Wenn es zu einem Elterngespräch kam, war oft ein ungebührliches Benehmen des Schülers der Grund. In den damals noch kinderreichen Familien gab es wenig Proteste. Die Motivation einer Familie mit vier Kindern, im Jahr vier Elterngespräche, vier Theateraufführungen und vier Schulveranstaltungen zu besuchen, war nicht überall gleich entwickelt.
In den 90er Jahren begannen die Behörden, die Elterngespräche als verpflichtend zu erklären. So wurde mindestens ein Elterngespräch eingefordert, wobei hier vor allem die Einteilungsgespräche gemeint waren, will heissen: Kommt mein Kind in die Sekundarschule oder verbleibt es in der Primaroberstufe?
Ab 1996 setzte dann eine Professionalisierungswelle innerhalb der Lehrerschaft ein. Elterngespräche wurden verbindlich, sie mussten protokolliert und dokumentiert werden. Die Beurteilungsberichte enthielten die Bemerkung:
- Das Elterngespräch hat stattgefunden
- Das Elterngespräch hat (noch) nicht stattgefunden
- Das Elterngespräch wurde nicht erwünscht.
Gespräche sind Brücken, die Menschen verbinden, Knoten entwirren und dich emotional, rational und empathisch prägen.
Mit dem Lehrplan 21 kam es dann zu einer Bedeutungsexplosion der Elterngespräche parallel zu der Überfrachtung des Unterrichts. Es wurden komplexe Inhalte gefordert, das Zauberwort «Portfolio» machte die Runde, und eine regelreche Dokumentationseuphorie bahnte sich ihren Weg. Vom Allmachtswahn erfasste Beurteilungsspezialisten forderten, den Schüler oder die Schülerin umfassend zu beurteilen. Der Verlag Orell Füssli bietet derzeit über 20 Buchtitel zum Themenbereich Elterngespräche an, mit dem Versprechen, die nach der Lektüre konstruktiv
und erfolgreich zu führen. Natürlich sammelte sich rund um diese Bücherlawine auch eine Fortbildungsindustrie, die die Lehrkräfte in regelrechte «Elternexperten» zu verwandeln geloben. Praxisleitfaden, systemische Analysen oder einfach nur Tipps für «anspruchsvolle Elterngespräche» prasseln auf den Unterrichtsalltag ein und suchen ihre Kunden. Natürlich dürfen da auch nicht die Korporale der Bildungsverwaltung fehlen. Die Schulleiterinnen und Schulleiter unseres Landes übertreffen sich mit ihren eigenen Leitbildern in Sachen Elternarbeit. Landauf, landab findet man auf den Homepages der Schulen Vorlagen und Vorschriften, wie bei ihnen die Elterngespräche zu führen sind. Die Bildungsdirektionen lassen sich ebenfalls nicht lumpen und schalten eine digitale Version eines Elterngesprächs auf, säuberlich auf geteilt in Zielsetzung, Vorbereitung, Verlauf und Nachbereitung. Dieses vierseitige Formular kann den Beurteilungsberichten beigelegt werden, die sich so zu veritablen Aktenbergen aufstapeln ( http://Standortgespräch – eine Vorlage)
Die Konsequenz ist eine unsägliche Bürokratisierung eines sozialen Aktes. Gespräche sind Brücken, die Menschen verbinden, Knoten entwirren und dich emotional, rational und empathisch prägen. Elterngespräche waren bei mir immer Gespräche unter Gleichberechtigten. Protokolle, eine Übermacht an anwesenden Lehrkräften, Festhalten von Vereinbarungen, die meistens viel zu umfangreich und daher unerfüllbar sind, schaden diesem Anliegen.
Selbstverständlich habe auch ich Gespräche mit Protokollen gemacht. Die muss es geben, wenn schwerwiegende Vorwürfe im Raume stehen, Massnahmen angesagt sind und der Gang zum Richter droht. Meistens ist dann auch die Schulleitung dabei. Aber in weit über 90% der Fälle durfte ich humorvolle, interessante und lebendige Gespräche führen, die Vertrauen schufen.
In einem Folgeartikel zeige ich den Leserinnen und Lesern unseres Blogs auf, wie ich Elterngespräche geführt und warum ich auf Protokolle verzichtet habe.
Lieber Alain
Danke für deinen guten Artikel.
Seit der Einführung des LP21 vor rund 10 Jahren hat in den Volksschulen einen “Reformitis” eingesetzt. Am Beispiel der Gespräche mit den Erziehungsberechtigten wurde ein System installiert, welches für eine Minderheit an Eltern entwickelt und aufgebaut wurde.
Einmal mehr kann man hier Pareto mit seiner 80% zu 20%-Regel zitieren. Für die 20% wird immenser Aufwand betrieben und darunter leiden müssen die 80%, oder eben nahezu alle.
Das ist übrigens ein Verhalten, das bei zahlreichen so genannten “Verbesserungen” im Schulbereich der Fall ist. Die Behörden neigen dazu, alles über den gleichen Leist zu schlagen, um sich auf alle Seiten abzusichern. Ein differenziertes Vorgehen und Verhalten wäre – wie wir grundsätzlich wissen – viel professioneller. Es gibt sie, die schwierigen Gespräche, doch in der Mehrzahl existieren sie nicht. Und sie alle gehören definitiv nicht in den gleichen Topf.
Korporale der Bildungsverwaltung – köstlich.