Nach der Diskussion über die Abschaffung der Noten steht nun wieder einmal die «Schule ohne Selektionsdruck» im Raum. Wenn es nach der Idee von Schulleiterverbands-Präsident Thomas Minder und weiterer Schulleiterinnen ginge, würde erst nach dem Ende der Oberstufe, also bei den Sechzehnjährigen selektioniert werden. Dabei gehe es um die «Chancengerechtigkeit»: Jugendliche, die in die Sek B oder C eingeteilt werden, würden «für den Rest des Lebens stigmatisiert». Ähnliche Argumente kennen wir bereits in Bezug auf die Einführung von Förderklassen, aber sie laufen an den eigentlichen, den grundsätzlichen Problemen unserer Volksschule vorbei.
Was soll daran gerecht sein, wenn wir Kinder bis zum Schulabschluss in den Regelklassen sitzen lassen, ohne dass sie den Stand ihrer leistungsstärkeren Mitschüler erreichen können?
Mehr Gerechtigkeit ohne Selektion?
Was soll daran gerecht sein, wenn wir Kinder bis zum Schulabschluss in den Regelklassen sitzen lassen, ohne dass sie den Stand ihrer leistungsstärkeren Mitschüler erreichen können? Ist es nicht gerechter, wenn wir jedem die Chance geben, in einer Klassengemeinschaft mit etwa Gleichstarken und in intensiver Lernbeziehung mit der Klassenlehrerin voranzukommen? Wie Daniel Kachel, Vertreter der Sekundarstufe im Lehrerverband, richtig feststellt, wird «mit einer Verschiebung der Selektion das System nicht gerechter». Denn nicht der Buchstabe auf dem Sek-Zeugnis mache es aus, ob jemand eine Lehrstelle findet. Wichtiger sei es, dass die Sekundarschule «die Jugendlichen bestmöglich auf den Beruf oder das Gymnasium vorbereitet».
Das bringt uns zum Kern der Sache. Denn die Diskussionen über Noten, Selektion oder die erwünschte Maturaquote lenken vom Wesentlichen ab, nämlich: Welche Aufgabe hat die Volksschule? Was sollen die Schüler lernen und wie lernen sie am besten? Die damit eng verbundene Frage, welche Ausbildung Lehrerinnen und Heilpädagogen benötigen, damit sie den ihnen anvertrauten Kindern die bestmögliche Bildung mitgeben können, würde den Rahmen des heutigen Newsletters sprengen, wird aber sicher ein andermal Thema sein. Als mahnenden Einstieg dazu empfehlen wir die Geschichte von Alain Pichard («Es trifft immer die Schwächsten»).
Die leistungsstärkeren und zu Hause geförderten Schüler «überstehen» eine solche Schule zum Teil, viele andere aber nicht.
In neun Schuljahren wäre es möglich, lesen und schreiben zu lernen
Die meisten Schulreformen der letzten Jahrzehnte haben nichts zu einer guten Bildung unserer Jugend beigetragen, im Gegenteil. Wie Kritiker schon lange vor der Einführung des Lehrplan 21 eindringlich gewarnt haben, tragen dessen zerstückelte Lerninhalte und oft ideologisch einseitigen Lernziele zu einer Verschlechterung der Schulbildung bei. Mit der weitgehenden Abschaffung eines gut strukturierten Klassenunterrichts werden die Kinder dem selbstorganisierten Lernen SOL, mit einem Lehrer oder einer Hilfskraft als Coach, und damit der Vereinzelung überlassen. Die leistungsstärkeren und zu Hause geförderten Schüler «überstehen» eine solche Schule zum Teil, viele andere aber nicht.
20 bis 25 Prozent unserer Jugendlichen verlassen die Volksschule ohne die nötigen schulischen Grundlagen für ihr Leben – eine nicht zu verantwortende Katastrophe für ganze Generationen. Insbesondere haben viele in 9 Schuljahren nicht gelernt, einen einfachen Text zu verstehen, einen zusammenhängenden und sinnvoll strukturierten Text zu schreiben und Zusammenhänge in Sachtexten oder literarischen Texten zu erkennen. Damit sind sie für eine Berufslehre oder für das Gymnasium nicht oder nur mit viel Nachhilfe geeignet. Das grösste Hemmnis für das Vorankommen vieler Kinder ist nicht die Note, die unter dem Blatt oder der Datei steht, sondern das Fehlen sinnvoller Korrekturen der Lehrerin und ihrer unverzichtbaren steten und ermutigenden Anleitung zum Lernen.
Ein Beispiel: Mein früheres Nachbarskind aus einer fremdsprachigen Familie, eine Schülerin der 2. Sek B in Zürich, der ich beim Lernen behilflich war, zeigte mir ihren zweiseitigen Aufschrieb, in dem sie von ihren Ferien erzählte: Inhaltlich ohne logische Zusammenhänge und Aufbau, sprachlich äusserst mangelhaft (kaum ein richtig formulierter Satz, karge und oft fehlerhafte Wortwahl, von Grammatik und Rechtschreibung ganz zu schweigen). Einziges «Feedback» der Lehrerin war ein «Sehr gut» am Ende des Textes. Auf meine Bemerkung, die Fehler habe die Lehrerin aber nicht angestrichen, fragte mich die Jugendliche erstaunt: «Hat es denn Fehler?» Wie sollte sie, in deren Familie nicht Deutsch gesprochen wurde, auf diese Weise ihre Sprachkenntnisse verbessern?
Das ist ein Mangel an Chancengleichheit, ein Mangel, der viel schwerer wiegt als eine ungenügende Note oder die Einteilung in die Sek B. Individualisierte Rückmeldungen statt Noten, wie sie Eveline Geiser in ihrem Kommentar («Leistung mit Worten zu beurteilen, ist heikel») thematisiert, lösen das Problem nicht. Was meinem Nachbarskind zu mehr Freude am Lernen und zu besserem Schulerfolg verhalf, waren die regelmässigen Lese- und Schreibstunden, die wir miteinander verbrachten. Mir machte es auch Freude, aber eigentlich wäre das die Aufgabe der Volksschule.
Mehr Hand-Werk, weniger Smartphones
In unserer Textsammlung werden verschiedene zwar altbekannte, aber bisher weitgehend ignorierte Verbesserungsvorschläge für eine förderliche Schulbildung genannt. Schrauben statt über den Bildschirm wischen empfiehlt das Symposium «Perspektive Handwerk», das Carl Bossard zu seinen Überlegungen über den «engen Zusammenhang zwischen Denken und Tun» inspiriert hat. Der Zugang zu den realen Welten darf durch die digitalen Geräte nicht verhindert werden, so Bossard im Einklang mit Lernpsychologen und Handwerkern, denn «an diese realen Welten knüpft das Handwerk an». Wie wahr! Mancher Berufsausbildner muss schon seit Jahren seinen neuen Lehrlingen zuerst zeigen, wie man einen Hammer und einen Nagel hält. Die Grundlagen für das «Greifen und Begreifen» müssen im Kindergarten gelegt und in der Volksschule erweitert werden. Mit vielfältigem manuellem Tun, mit dem Einblick in die musischen Fächer und mit Naturbeobachtungen kann auch die Freude am Kreativen und an den vielen interessanten Dingen dieser Welt entstehen. Da ist kaum Platz für die digitale Scheinwelt. Elektronische Geräte sollten in erster Linie als sinnvolle Hilfsmittel eingesetzt werden, aber nicht in der Primarschule und schon gar nicht im Kindergarten.
Klare Forderungen stellt der Sozialpsychologe Jonathan Haidt in seinem NZZ-Interview, mit ergänzender Buchrezension im Tages-Anzeiger, beides sehr lesenswert. Er ruft zur Handy-Abstinenz als Mittel gegen die massiven psychischen und physischen Schäden sowie die soziale Vereinzelung der Kinder und Jugendlichen auf. Haidt plädiert für Handy-freie Schulen und empfiehlt auch zuhause möglichst wenig Handykonsum. Damit wäre tatsächlich schon viel getan. Dem Sozialpsychologen ist klar: «Das Problem kann nicht individuell gelöst werden, sondern erfordert einen gemeinschaftlichen Konsens und eine gemeinschaftliche Anstrengung.»
Nun wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre.
Marianne Wüthrich
Nach “Schulleiterverbands-Präsident Thomas Minder und weiterer Schulleiterinnen” habe ich mit Lesen aufgehört. Thomas Minder ist keine Schulleiterin. Das missionarische Anliegen einer gewissen Elite, der Gesellschaft ein generisches Femininum aufzuzwingen und damit die Sprache unklar oder unverständlich zu machen, stellt mir ab. Und so geht es vielen normalen Leuten.
Lieber Hans Rentsch, die falsche sprachliche Verknüpfung von Thomas Minder mit den Schulleiterinnen muss ich auf meine Kappe nehmen. Als mitverantwortlicher Redaktor habe ich beim Gegenlesen den Fehler nicht bemerkt. Meine Redaktionskollegin Marianne Wüthrich ist ganz sicher keine abgehobene Journalistin, die mit Genderakrobatik die Sprache unleserlich macht. Ihr geht es stets um bildungspolitische Inhalte und nicht um irgend eine Ideologie. Sie können das Vorwort deshalb mit Genuss und kritischem Geist zu Ende lesen.
Hanspeter Amstutz