6. November 2024
Philipp Loser über totalitäre Bildung

Wie ideologisch sind unsere Schulen?

Der Tamedia-Journalist Philipp Loser hält die Befürchtungen, wonach der neue Rahmenlehrplan in eine ideologische Richtung führt, für übertrieben – und blickt nach Russland, wo kritisches Denken wirklich gefährlich ist. Dieser Artikel ist im Tagimagi und in den Tamedia-Zeitungen veröffentlicht worden.

Hat unsere Armee die Schweiz im Zweiten Weltkrieg heldenhaft beschützt? Verzichtete Adolf Hitler auf einen Einmarsch bei uns, weil er Angst vor dem «stacheligen Igel» hatte? War das Réduit eine strategisch brillante Idee? Wer irgendwann in der Nachkriegszeit eine Schweizer Volksschule besucht hat, der weiss auf alle drei Fragen die richtige Antwort: Jawoll!

Bis weit in die 1980er-Jahre (an manchen Orten auch darüber hinaus) wurde im Geschichtsunterricht ein geschöntes Selbstbild vermittelt. Eine Erzählung der bürgerlich-konservativen Mehrheit über ein kleines und wehrhaftes Land, das sich tapfer der Welt entgegenstellte. Nazigold? Kollaborateure? Abgewiesene Juden an der Grenze? Nicht der Rede wert.

Die berechtigte Kritik an den vermittelten Inhalten in der Schule (am verblendeten Geschichtsbild der Eidgenossenschaft überhaupt) kam damals von links. Heute haben sich die Vorzeichen umgekehrt: Es sind konservative Politiker, die sich am von ihnen beobachteten «Linksdrall» in der Staatsschule stören. Sie stören sich an angeblich links-grünen Lehrpersonen (!), die die Schüler auf Linie bringen. Sie stören sich am Lehrplan 21, der wolkige Kompetenzen statt echtes Wissen vermittle. «Lernziel Gutmensch», nannte es die «NZZ am Sonntag».

Aktuell wird der aktualisierte Lehrplan für die Gymnasien heftig kritisiert, weil dort neu «Bildung für Nachhaltige Entwicklung» unterrichtet werden soll. Dieses Fach beinhaltet laut Lehrplan 21 «die Zielvorstellung, dass für die Befriedigung der materiellen und immateriellen Grundbedürfnisse aller Menschen heute und in Zukunft eine solidarische Gesellschaft und wirtschaftliches Wohlergehen notwendig sind».

Es ist die Umsetzung des im zweiten Artikel der Bundesverfassung festgehaltenen Zwecks der Eidgenossenschaft, die gemeinsame Wohlfahrt und die nachhaltige Entwicklung zu fördern.

Und das soll links sein?

Vielleicht nicht links. Aber gefährlich. Im neuen Lehrplan würden Haltungen als Kompetenzen definiert, sagte der Berner GLP-Grossrat Alain Pichard, einer der prominentesten Kritiker des Lehrplan 21, gegenüber der «Sonntagszeitung». «Damit entwickelt sich unser Bildungssystem in eine gefährliche Richtung, die in eine totalitäre Umerziehung münden kann.»

Das ist natürlich völlig überzogen. Wie «totalitäre Umerziehung» in der Realität funktioniert, sieht man gerade in Russland, wo Wladimir Putin alles dafür tut, seine Bevölkerung gleichzuschalten – von Anfang an. Es brauche eine staatliche Version der Geschichte für alle, die heute Schüler und morgen Staatsbürger seien, sagte Putin im Dezember lobend über ein neues Schulbuch für die elfte Klasse. Darin steht unter anderem, dass der Prager Frühling von den Amerikanern inszeniert, dass Stalin vom Volk aufrichtig geliebt und die DDR von Westdeutschland annektiert worden seien.

Totalitäre Propaganda. Die «Zeit», die über das Buch berichtete, traf in Moskau eine Lehrerin, die mit ihren Schülern eine Technik trainiert, um in Russland «als denkender Mensch» zu überleben. Bei Prüfungen solle man schreiben, was die Obrigkeit sich wünsche. Daheim dann solle man noch einmal für sich aufschreiben, was tatsächlich wahr sei. Doppeldenk.

Und anders als in Schweizer Schulen in den 1980er-Jahren, in denen sich aufgebrachte Schülerinnen und Schüler mit ihren Geschichtslehrern über das Verhalten der Eidgenossenschaft im Krieg stritten, oder in Schweizer Schulen der 2030er-Jahre, wo sich Schülerinnen und Schüler über – dereinst vielleicht total falsche – Nachhaltigkeitsansätze aufregen (wer weiss), ist es in Russland tatsächlich gefährlich zu widersprechen.

Da ist es fast schon rührend, wie fest sich manche über den Zeitgeist aufregen können, der heute durch unsere Schulen weht.Solange die Schülerinnen und Schüler zu eigenständigem Denken und kritischem Fragen erzogen werden: alles easy.

https://www.derbund.ch/ideologie-an-schulen-wie-links-ist-unser-bildungssystem-660998667555

 

 

 

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Das Menschenbild entscheidet – Antworten auf offene Fragen

Sind psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen heute häufiger geworden? Die dazu veröffentlichten Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Es ist heute üblich geworden, auffälliges Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit psychiatrischen Diagnosen belegen – ein einschneidender Eingriff deren Leben. Es geht um Verhaltensprobleme (ADS/ADHS), Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), Angststörungen, Depressionen, Suizidalität usw. Diagnosen, wie sie im DSM 5, dem amerikanischen Handbuch Psychiatrischer Kriterien, aufgelistet sind. Als Erklärung hört man oft, man sei sensibilisierter als früher und psychische Probleme würden vermehrt angesprochen. Dass diese Entwicklung auch mit Paradigmenwechsels bei der Jahrtausendwende zusammenhängt, wird kaum thematisiert, obwohl dadurch die Deutungs- und Behandlungshoheit von der Pädagogik zur Medizin verschoben wurde. Dr. Eliane Perret sucht eine Einordnung.

5 Kommentare

  1. «Bildung für Nachhaltige Entwicklung»: Dieses Fach beinhaltet laut Lehrplan 21 «die Zielvorstellung, dass für die Befriedigung der materiellen und immateriellen Grundbedürfnisse aller Menschen heute und in Zukunft eine solidarische Gesellschaft und wirtschaftliches Wohlergehen notwendig sind». Aha!
    Solche wolkigen moralingetränkten Floskeln sind genau das, was fragen lässt, was denn da genau unterrichtet wird. Welche Inhalte? Wird das Thema Nachhaltigkeit kontrovers diskutiert oder werden normativ die üblichen oberflächlichen Phrasen gedroschen (weniger Fleisch essen, erneuerbare Energie fördern…) . Ich behaupte, dass der Mehrheit der Lehrer das Rüstzeug fehlt, um das Thema Nachhaltigkeit auf dem erwünschten Niveau zu vermitteln. Dazu bräuchte es nämlich auch eine ökonomische Bildung. Moralisieren reicht nicht.

  2. Ja, so ist das mit den Verlierer-Ideologien. Je tiefer die Leistungen sinken, desto mehr wird der Unterricht mit Ideologie zugekleistert. Sogar Pisa hat dies verdeutlicht. Versager kennen nur diese Richtung.

  3. Realsatire oder ein Bewerbungsschreiben als zweite Giraffe neben Alena Buyx im deutschen Ethikrat? Ein großer Kenner der Schweizer Geschichte und den aktuellen Verhältnissen in Russland belehrt. Er zitiert Die Zeit, die immerwährende belanglose Geschwätzigkeit für Hirngesiebte. Wirklich zum Schiessen!

  4. Philipp Loser verkennt den zentralen Ansatz der aktuellen Kritik am Geschichtsunterricht in der Volksschule, wenn er den Hauptakzent auf Streitigkeiten zwischen linken und rechten Ideologen legt. Dem von ihm erwähnten geschönten Selbstbild unserer eigenen Geschichte, das in der Nachkriegszeit unkritisch vermittelt wurde, trauert niemand mehr nach. Was jedoch grosse Sorgen macht ist die Tatsache, dass unsere Schulabgänger kaum noch über elementares Grundwissen der modernen Schweizer Geschichte verfügen. Es mangelt mit nur noch anderthalb Wochenlektionen Geschichte an Unterrichtszeit und an einem überzeugenden Bildungsauftrag.

    Der Lehrplan mit seiner Überfülle an Bildungszielen – eingepackt in wohlklingende Kompetenzbegriffe – ist keine nützliche Orientierungshilfe und wird von den Lehrkräften kaum konsultiert. Die meisten Lehrpersonen sind tief verunsichert und vermitteln Geschichte nur noch in Bruchstücken ohne einen systematischen Aufbau. Man will nicht anecken und ist sich nicht im Klaren, was im Sammelfach RZG (Geschichte und Geografie) wirklich zentral ist. Eindeutig fragwürdig wird es, wenn im Unterricht aus Mutlosigkeit anstelle einer mit kritischen Augen betrachteten Schweizer Erfolgsgeschichte primär eine Auswahl an Vorkommnissen des politischen Versagens tritt. Jugendliche haben ein Recht zu erfahren, welche grossen politischen Errungenschaften im Verlauf unserer Geschichte erkämpft wurden und welche Bedeutung diese für unsere Gegenwart haben.

    Der Geschichtsunterricht in der Volksschule ist – von erfreulichen Ausnahmen abgesehen – in einem alarmierend schlechten Zustand. Die Rahmenbedingungen sind ungenügend und es herrscht inhaltliche Beliebigkeit. Das Fach braucht eine gründliche Aufwertung und ein erkennbares Profil, das sich auf verbindliche Bildungsinhalte stützt. Um diese Diskussion kommt unsere Bildungspolitik nicht herum, wenn sie den schulischen Auftrag der politischen Grundbildung ernst nehmen will.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert