16. Oktober 2024
Porträt des Condorcet-Autoren Bernhard Krötz

In der Schule sind Ideologen am Werk

Der Paderborner Mathematikprofessor Bernhard Krötz vergleicht in seinem Youtube-Kanal den Schulunterricht in Indien mit dem in Nordrhein-Westfalen. Das Ergebnis seines Vergleichs fällt verheerend aus. Stefan Laurin porträtiert in der Welt unseren Condorcet-Autoren, dessen entsprechendes Video wir bereits am 11. März 2023 aufgeschaltet haben (https://condorcet.ch/2023/03/nrw-mathematikprofessor-zerlegt-den-kernlehrplan/).

Bernhard Krötz schaut in die Kamera, hebt beide Arme hoch und begrüßt seine Zuschauer: „Herzlich willkommen zu einem neuen Beitrag!“ Im Hintergrund ist ein Bücherregal zu sehen. Krötz ist Mathematikprofessor an der Universität Paderborn. Seit fast drei Jahren veröffentlicht er auf seinem Youtube-Kanal Videos. Anfangs waren es mathematische Übungen.

Stefan Laurin, Blogger und Journalist: Mathematik ist die Basis, um gute Ingenieure, Physiker oder Chemiker ausbilden zu können.

2020, im Lockdown, waren die Hochschulen geschlossen. Die Studenten blieben zu Hause und wie viele andere seiner Kollegen wich auch Krötz bei der Lehre auf das Internet aus. Seit einem Jahr nutzt der Mathematiker seinen Kanal, um Beiträge über Mathematik und Bildungspolitik zu veröffentlichen. Ende Februar geht der gebürtige Bayer mit dem Video „Schulmathematik: Vergleich Indien-NRW“ online. Der Vergleich fällt verheerend aus.

Der Professor beginnt in seinem Video damit, dass er den Joint Entrance Examination (JEE) vorstellt, einen Test, den junge Inder absolvieren müssen, um an einer der Ingenieurhochschulen des Landes aufgenommen zu werden. Der Test besteht aus einer Hauptprüfung, an der im vergangenen Jahr 1,5 Millionen Jugendliche in Indien teilgenommen haben. Die besten 400.000 von ihnen wurden dann zum zweiten Teil zugelassen. Taschenrechner sind während der Prüfung verboten.

Es geht in diesem Test vor allem um Mathematik – auch bei den Physik- und Chemiefragen. Nur 10.000 Teilnehmer lösen über 50 Prozent der Aufgaben korrekt, ihnen ist danach ein Platz an den Elitehochschulen des Landes sicher. Aber kein Teilnehmer löst weniger als 15 Prozent Aufgaben. Krötz geht den Test durch. Der Mathematiker kann sich für viele der Fragen begeistern, findet sie gut und klug gestellt. Sein Fazit: In Deutschland würde so gut wie niemand den Test bestehen, sagt er.

„Es ist nahezu ausgeschlossen, dass ein neu ausgebildeter Realschullehrer diese Prüfungen von 1971 heute bestehen würde.“

Mathematikprüfungen in Indien. In Deutschland würde so gut wie niemand den Test bestehen.

Das liege vor allem daran, was und wie in Deutschland Kinder und Jugendliche in Mathematik in der Schule lernen. Er zeigt in dem Video den neuen, noch nicht veröffentlichten Kernlehrplan Mathematik für die Sekundarstufe II in NRW. Nach dem Willen der Politik wird dieser Lehrplan bald vorgeben, was in der Schule unterrichtet wird. Die mathematischen Ziele sind nach Meinung von Krötz nicht anspruchsvoll genug. Außerdem gehe es in diesem Lehrplan nicht nur darum, den Kindern Mathematik beizubringen. Auch sogenannte geschlechtersensible und interkulturelle Bildung seien nun Themen im Matheunterricht.

Am Ende des Videos zeigt Krötz die Matheaufgaben einer Realschulabschlussprüfung, die 1971 in Baden-Württemberg gestellt wurden. Nachdem der Professor diese verglichen hat mit den Prüfungen für heutige Realschullehrer, ist er sich sicher: „Es ist nahezu ausgeschlossen, dass ein neu ausgebildeter Realschullehrer diese Prüfungen von 1971 heute bestehen würde.“

Krötz‘ Videos haben normalerweise zwischen 300 und 700 Zuschauer. Jetzt ist es anders: „Das Video wurde innerhalb von gut zehn Tagen über 30.000-mal abgerufen. Die Zahl der Abonnenten meines Youtube-Kanals hat sich verzehnfacht. Ich habe Zuschriften aus dem ganzen Land bekommen, auch von anderen Hochschullehrern.“ Das Video hat einen Nerv getroffen.

„Mathematik ist die Basis, um gute Ingenieure, Physiker oder Chemiker ausbilden zu können. Mathematisches Wissen ist die Grundlage unseres Wohlstandes und das wissen die Menschen“, sagt der Professor. Um diese Grundlage kümmere man sich immer weniger. Dass Lehrer ihren Schülern etwas erklären, sei heute verpönt, Kinder sollen sich Wissen selbst erarbeiten. „Lehrer werden in eine Moderatorenrolle gedrängt“, sagt Krötz.

Auch Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund würden benachteiligt: „Mathematische Symbole sind international. Ein Plus- oder Minuszeichen bedeutet in der Türkei oder Syrien dasselbe wie in Deutschland. Mathematik war einmal das Fach, in dem viele Migrantenkinder brillierten.

Vieles sollen Kinder zu Hause durch das Betrachten von Videos lernen: „Das theoretische Wissen sollen sie sich selbst erarbeiten, aber das funktioniert nicht. In der Schule sind Ideologen am Werk.“ Schon das „Schreiben nach Gehör“, eine Methode, mit der Kinder angeblich leichter hätten Schreiben lernen sollen, habe sich als Katastrophe erwiesen. „Im Mathematikunterricht werden nun andere, aber vergleichbar gleich große Fehler gemacht.“ Das gehe vor allem auf Kosten der Kinder aus bildungsfernen Schichten: „Wer nicht auf Hilfe der Eltern setzen kann, hat es schwer.“

 

Das Abitur, sagt der Mathematiker, habe nichts mehr mit einer Hochschulreife zu tun.

Auch Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund würden benachteiligt: „Mathematische Symbole sind international. Ein Plus- oder Minuszeichen bedeutet in der Türkei oder Syrien dasselbe wie in Deutschland. Mathematik war einmal das Fach, in dem viele Migrantenkinder brillierten.“ Heute seien Textaufgaben modern. Ein Nachteil für alle, die Deutsch nicht perfekt beherrschen.

Krötz will, dass der Mathematikunterricht wieder besser wird. Dafür brauche es Schülergruppen, die auf einem ähnlich hohen Niveau sind. Und Lehrer, die eine solide mathematische Ausbildung haben. Das Abitur, sagt der Mathematiker, habe nichts mehr mit einer Hochschulreife zu tun. „Bildung für alle klingt gut, aber das Versprechen wird nicht eingehalten.“ Der Professor ist dafür, dass Universitäten Aufnahmeprüfungen durchführen.

Indien ist allerdings nicht sein bildungspolitisches Vorbild: „Wir haben eine andere Bildungstradition, sie setzt stark auf Beweise und Begründungen und weniger auf Auswendiglernen. In Indien steht die harte Arbeit auch bei Schülern hoch im Kurs, aber wir alle brauchen auch Muße, um Gelerntes zu begreifen und darüber nachzudenken.“

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2 Kommentare

  1. Jamshedji Tata (1839-1904), der Vater der indischen Industrialisierung:

    “Was eine Nation oder eine Gesellschaft voranbringt ist nicht so sehr das Aufpäppeln seiner schwächsten und hilflosesten Mitglieder, sondern das Hochheben der besten und talentiertesten.”

    Deswegen kann Indien jetzt Mond und wir nicht.

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