29. April 2024
Deutschlands Kita-Krise

„Ich sehe Erzieher, die aussteigen und lieber als Reinigungskräfte arbeiten“

Frühpädagogik-Expertin Ilse Wehrmann untersucht die prekäre Lage in Deutschlands Kindertagesstätten. Was in den ersten sechs Jahren nicht an Grundlagen gelegt werde, könnten die Kinder nie mehr aufholen, sagt sie – mit hohen Folgekosten für die ganze Gesellschaft. Wir bringen einen Beitrag der WELT-Journalistin Sabine Menkens.

WELT: Frau Wehrmann, wir haben in Deutschland seit 1996 den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Drei- bis Sechsjährige, seit zehn Jahren auch für Kinder unter drei Jahren. Doch die Plätze reichen bei Weitem nicht aus. Was ist ein Rechtsanspruch wert, wenn er nicht eingelöst werden kann?

Ilse Wehrmann: Wenig. Im Grunde begeht unsere Regierung jeden Tag Verfassungsbruch. Auch unabhängig von der starken Zuwanderung haben wir seit langer Zeit zu wenig Kita-Plätze geplant und realisiert. Die Bewilligungsverfahren im öffentlichen Bereich dauern bis zu fünf Jahren. Ich habe viele Unternehmen beim Aufbau von Betriebs-Kitas unterstützt und weiß: Das geht viel schneller. Die Unternehmen wissen, dass ein gutes Betreuungsangebot ein Wettbewerbsvorteil im Kampf um Mitarbeiter ist. Diesen Druck gibt es im öffentlichen Bereich leider nicht. Wenn ich sehe, wie viele Büroräume, Geschäfte und Autohäuser leer stehen, kann ich nur sagen: Da geht noch was.

Sabine Menkens, Gastautorin und WELT-Journalistin

WELT: Setzt die Politik die Prioritäten falsch?

Wehrmann: Genehmigungsverfahren für Kitas dauern länger als für ein LNG-Terminal an der Ostsee. Wir setzen die Prioritäten falsch, und wir machen keine kinderfreundliche Politik. Das sieht man schon daran, wie schwer es uns fällt, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Die Kita-Krise muss Chefsache werden. Ich glaube, in den Unternehmen geht es nur deshalb so schnell, weil der Kita-Bau immer ein Vorstandsthema ist.

Ich habe jetzt einen Hilfebrief an den Bundeskanzler, die Ministerpräsidenten und zuständigen Minister und den Landkreistag geschrieben. Es muss gehandelt werden – um der Kinder willen. Wir hinterlassen ihnen bereits ein kaputtes Klima und einen Berg von Schulden. Wir machen uns umso schuldiger, wenn wir ihnen auch noch die Bildungschancen vorenthalten.

WELT: Welche Folgen hat die Kita-Krise für die Gesellschaft, für die Familien – und vor allem für die Kinder?

Wehrmann: Wir berauben sie ihrer frühen Fördermöglichkeiten. Das ist bei den vielen Kindern mit Migrationshintergrund gerade mit Blick auf den Spracherwerb fatal. Die ganze Bildungsbiografie wird dadurch beeinträchtigt. Was wir in den ersten sechs Jahren nicht an Grundlagen legen, holen wir nie wieder auf. Die Reparaturkosten unterlassener Bildung sind ein Vielfaches teurer als das, was wir in den Kita-Bereich stecken müssen. Es gibt dazu handfeste volkswirtschaftliche Berechnungen. Für jeden Euro, den wir in die Kitas investieren, sparen wie vier Euro an Folgekosten. Wir schieben den Kita-Kollaps schon viel zu lange vor uns her.

Die Kita-Krise muss Chefsache werden. Ich glaube, in den Unternehmen geht es nur deshalb so schnell, weil der Kita-Bau immer ein Vorstandsthema ist.

 

WELT: Nach einer Umfrage der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sind bereits 57 Prozent der Eltern von zeitweisen Schließungen oder verkürzten Öffnungszeiten der Einrichtungen betroffen. Manche Kitas warnen sogar, sie könnten ihrer Aufsichtspflicht nicht mehr nachkommen. Welche Auswirkungen hat das auf die Familien?

Wehrmann: Die Auswirkungen sind ganz katastrophal. Ich sehe das System tatsächlich vor dem Kollaps. Ich sehe Erzieher, die aus dem Beruf aussteigen und lieber als Reinigungskräfte arbeiten – nur, weil sie sich nicht schuldig machen wollen, wenn etwas passiert. Menschen, die sich eigentlich berufen fühlten für die Arbeit mit Kindern. Wir haben so viele Notsituationen, dass Einrichtungen schon mittags schließen oder nur noch an vier Tagen die Woche öffnen. Es ist eine Katastrophe.

Die Eltern sind verzweifelt und wissen nicht mehr, wie sie den Alltag organisieren sollen. Und in solchen Überforderungssituationen nehmen auch die Kindesmisshandlungen zu. Wir müssen das Ruder jetzt herumreißen, sonst ist es zu spät.

WELT: Nach Erkenntnissen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung sind es vor allem die Kinder aus unterprivilegierten Bevölkerungsschichten, die im Rennen um einen Kita-Platz leer ausgehen. Geben die Kitas die Plätze lieber an Kinder aus Mittelschichtsfamilien, weil die womöglich pflegeleichter sind?

Wehrmann: Das kann ein Grund sein. Es kann aber auch daran liegen, dass gerade die sozial schwachen Eltern sich zu wenig wehren können und im Zweifel davor zurückschrecken, auch mal einen Anwalt einzuschalten. Dabei brauchen wir gerade in unterprivilegierten Stadtteilen mehr Plätze und eine bessere Personalausstattung. Stattdessen verschließen wir die Augen vor den Problemen.

Ilse Wehrmann, Diplom-Sozialpädagogin und Erzieherin (Bild: Frank Thomas Koch)

WELT: Es gibt nicht nur zu wenig Plätze, sondern auch zu wenig Erzieherinnen und Erzieher. Dabei war der Bedarf ja absehbar. Wie konnte es dennoch zu diesem Fachkräftemangel kommen?

Wehrmann: Wir haben die Ausbildungskapazitäten einfach nicht in ausreichendem Ausmaß ausgebaut. Vorübergehend müssen wir jetzt mit multiprofessionellen Teams arbeiten, zudem braucht es eine schnellere Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Wichtig ist mir aber, dass das nicht dauerhaft zulasten der Qualität geht. Ich möchte nicht Tür und Tor öffnen für nicht ausgebildetes Personal. Auf die Idee würde man in der Medizin nicht kommen.

WELT: Es gibt zwar inzwischen die praxisintegrierte Ausbildung mit Azubi-Gehalt, die schulische Erzieherausbildung ist aber noch immer nicht vergütet. Wie will man so junge Menschen für den Beruf begeistern?

Wehrmann: Richtig. Wir brauchen eine vergütete Ausbildung, um attraktiver zu werden. Wir brauchen aber auch eine andere gesellschaftliche Bewertung des Berufes. Erzieherinnen und Erzieher sind Zukunftsgestalter des Landes. In dem Augenblick, wo der Kita-Bereich zur Chefsache wird, fühlen Mitarbeiter sich auch anders gesehen und wertgeschätzt. Hier kann der öffentliche Bereich einiges von den Privaten lernen.

WELT: Kitas sind personell noch immer eine eher akademikerferne Zone. Muss der Beruf stärker professionalisiert werden?

Wehrmann: Wir sind weltweit fast die einzigen, die nach wie vor nur auf Fachschulniveau ausbilden. Alle anderen Länder haben die Ausbildung längst akademisiert. Auch in Deutschland gibt es inzwischen über 90 Studiengänge für Frühpädagogik. Aber die einzelnen Länder erkennen die Abschlüsse zum Teil gegenseitig nicht an, sodass sich die Absolventen als Erzieher nachqualifizieren müssen. Das macht natürlich kein Mensch.

Wir brauchen für den Bildungsbereich ein Sondervermögen wie bei der Rüstung.

WELT: Das heißt, der Bildungsföderalismus ist hier eher hinderlich?

Wehrmann: Er ist ein ganz großes Problem. In jedem Bundesland sind die Ausbildungswege und die Anerkennungsverfahren anders. Es gelten sogar unterschiedliche Raumvorgaben für Kitas. Was wir brauchen, ist eine nationale Strategie für Bildung, ein Staatsvertrag, der für alle 16 Bundesländer gilt und der zumindest für den Kindergartenbereich einheitliche Standards vorgibt. Und Bundeskanzler Scholz muss sich an die Spitze der Bewegung setzen.

WELT: Sie fordern auch ein stärkeres finanzielles Engagement des Bundes. Dieser Tage ist der Startschuss für das Kita-Qualitätsgesetz gefallen, über das in den nächsten zwei Jahren fast vier Milliarden Euro an die Länder fließen, unter anderem für Personalgewinnung. Ist das nicht ein wichtiger Schritt?

Wehrmann: Nein. Ich bin damit überhaupt nicht zufrieden, auch nicht mit der Summe des Geldes. Wir brauchen für den Bildungsbereich ein Sondervermögen wie bei der Rüstung. Der Sanierungsstau bei den Schulen ist riesig, und es fehlen fast 400’000 Kindergartenplätze. Da sind wir leicht bei 100 Milliarden Euro. Wir sehen ja, dass es an Geld in Deutschland nicht scheitert. Es scheitert nur dann, wenn es um Kinder geht. Dabei werden die Grundlagen des Landes in den ersten sechs Jahren gelegt. Deshalb gehören die Ausgaben dafür an die erste Stelle.

WELT: Welche Folge hat es, wenn es nur noch um Verwahrung geht, statt um Betreuung und Bildung?

Wehrmann: Die Folge ist, dass individuelle Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder nicht stattfinden. Weil niemand Zeit hat, ihnen wirklich zuzuhören, ihnen Anregungen zu geben. Wir verwalten die Kinder nur. Ich wünsche mir, dass mein Buch ein Weckruf wird. Deshalb habe ich mich für Aufstand statt Ruhestand entscheiden. Ich ertrage es nicht, dass so viele Kinder ohne Erziehungs- und Bildungschancen leben. Bildung ist der einzige Rohstoff, den unser Land hat.

 

Von Ilse Wehrmann erscheint am 14. August das Buch „Der Kita-Kollaps. Warum Deutschland endlich auf frühe Bildung setzen muss!“ im Verlag Herder.

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