Dem Kanton St. Gallen fehlen zurzeit rund 120 Lehrerinnen und Lehrer. Was Kritiker der überstürzten Bildungsreformen schon längst vorausgesagt haben, ist nun eingetreten: ein Lehrermangel enormen Ausmasses, der Schulbehörden und Schulleiter immer häufiger zwingt, an unseren Volksschulen Personen in die Klassenzimmer zu holen, die sich entweder noch im Studium an einer Pädagogischen Hochschule befinden oder sonst wie weder fachlich noch pädagogisch-didaktisch genügend ausgebildet sind. Als Begründung ist von zu tiefen Einstiegslöhnen, von zu grossen Klassen, von steigenden Schülerzahlen, von zunehmender Teilzeitarbeit der Lehrkräfte und dergleichen mehr die Rede. Das mag ja alles stimmen.
Doch die eigentlichen Gründe für den akuten Mangel an Lehrkräften liegen anderswo. Seit einiger Zeit brodelt es in verschiedenen Schulen, weil Schulbehörden, aber auch Schulleiter den Lehrkräften in teilweise forscher Gangart Lernkonzepte verordnen wollen, die sich am Lehrplan 21 orientieren. Die Lehrkräfte werden dazu in Weiterbildungskurse geschickt, um auf ihre neue Rolle als Coaches oder Lernbegleiter getrimmt zu werden. Zudem werden sie kontrolliert und evaluiert, mit Lernberichten, Beobachtungsbögen, Protokollen und Koordinationssitzungen belastet, so dass sie kaum mehr zum Unterrichten kommen, geschweige denn Zeit für den menschlichen Kontakt mit den Schülern finden. Trotz ihrer mehrjährigen Hochschulausbildung traut man ihnen nicht mehr zu, den Unterricht selbständig zu organisieren. Es braucht dazu noch Lernberater, Schulentwickler, Evaluatoren, Supervisoren und Instruktoren, die in erster Linie zu kontrollieren haben, ob die einzelnen Lehrkräfte in ihr Raster passen.
Trotz ihrer mehrjährigen Hochschulausbildung traut man Lehrkräften nicht mehr zu, den Unterricht selbständig zu organisieren.
Der Lehrerberuf ist im Begriff, massiv abgewertet zu werden. Bis anhin organisierten und erteilten die Lehrkräfte den Unterricht und genossen dabei, im Rahmen des Lehrplans, Methodenfreiheit. Sie leiteten die Geschicke ihrer Klassen und wurden von administrativem Krimskrams weitgehend verschont, so dass sie sich ihrer Hauptaufgabe, dem Unterrichten, vollumfänglich widmen konnten. Heute haben die Lehrkräfte nach dem Lehrplan 21 zu unterrichten, der auf 470 Seiten über 2000 Kompetenzstufen auflistet. Die einst hochgehaltene Methodenfreiheit ist nur noch Theorie. Der Frontalunterricht, der nachgewiesenermassen die besten Lernergebnisse brachte, ist vollkommen verpönt. An seine Stelle tritt “selbstorganisiertes Lernen”, bei dem die Schüler ihren Lernprozess weitgehend selber steuern sollen und die Lehrperson nur noch als Coach, als Lernbegleiter an der Seitenlinie den Lernprozess begleitet.
Zu all dem beklagen sich die Lehrkräfte zunehmend über die mangelnde Wertschätzung ihrer Arbeit durch die Öffentlichkeit. Überfüllte Klassen, integrativer Unterricht und ständig neue administrative Aufgaben tragen dazu bei, dass bei den Lehrkräften das Gefühl fehlender Anerkennung für ihre verantwortungsvolle Lehrtätigkeit und Erziehungsarbeit entsteht. Verwundert es da noch, dass unter solchen Bedingungen immer mehr Lehrkräfte die Freude am Beruf verlieren?
Nicht zuletzt muss den Lehrerinnen und Lehrern vonseiten der Öffentlichkeit, vor allem der Eltern und der Schulbehörden, wieder jene Wertschätzung entgegengebracht werden, die heute viele vermissen lassen.
Will man dem jetzigen Lehrkräftemangel erfolgreich begegnen, so muss sich neben attraktiveren Rahmenbedingungen, zu denen unter anderem mehr Lohn sowie kleinere Klassen zählen mögen, die Unterrichtsform selber tiefgreifend ändern. Aus den Lernateliers müssen wieder Klassenzimmer, aus dem “selbstgesteuerten Lernen” muss ein Klassenunterricht und aus dem reinen Lernbegleiter eine Lehrperson werden, die sich in der Beziehung zu ihren Schülern souverän einbringen kann, ohne dauernd durch unergiebige Evaluationen und fragwürdige Reformen von ihrem Kernauftrag abgelenkt zu werden.
Nur so lässt sich wieder ein solides Bildungsfundament aufbauen, was umso dringlicher ist, als heute 40 Prozent der Schüler die minimalen Grundkompetenzen in Mathematik nicht erreichen und als jeder fünfte Schüler die Volksschule ohne genügende Kompetenzen im Lesen und Schreiben verlässt. Nicht zuletzt muss den Lehrerinnen und Lehrern vonseiten der Öffentlichkeit, vor allem der Eltern und der Schulbehörden, wieder jene Wertschätzung entgegengebracht werden, die heute viele vermissen lassen. Das wären die besten Voraussetzungen, um weiterhin geeignete Männer und Frauen für den Lehrerberuf zu gewinnen und sie auch längerfristig in diesem Beruf zu halten.
Mario Andreotti
Prof. Dr. Mario Andreotti, ehem. Gymnasiallehrer und heute Dozent für Neuere deutsche Literatur, ist ein profunder Kenner der schweizerischen Bildungslandschaft. 2019 veröffentlichte er im Verlag FormatOst dazu das vielbeachtete Buch «Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache».
,Will man dem jetzigen Lehrkräftemangel erfolgreich begegnen, so muss sich neben attraktiveren Rahmenbedingungen, zu denen unter anderem mehr Lohn sowie kleinere Klassen zählen mögen, die Unterrichtsform selber tiefgreifend ändern’. Das trifft sicher zu. Was meines Erachtens zu kurz kommt, ist eine kritische Betrachtung der Schulstruktur. Ein unbestrittener Auftrag der öffentlichen Schule: Vorbereitung der Jugendlichen auf die aktive Teilnahme an der direkten Demokratie. Sucht man basisorientierte Ansätze in der Volksschule, bemerkt man, dass diese ausgesprochen top down organisiert ist. Sehr hierarchisch, mit unnötigen Hierarchie- Stufen, welche kaum einen Beitrag leisten zur Qualität der Schule, im Gegenteil. Was fehlt, sind – unter anderem – Arbeitsbedingungen, welche Lehrpersonen ermöglichen, ihren anspruchsvollen Auftrag persönlich und gemeinsam mit Kolleg*innen zu gestalten und weiter zu entwickeln. Für die Schüler*innen gut erlebbar: gegenseitiger Respekt, gegenseitiges Vertrauen, Transparenz, angstfreier Unterricht, Kommunikation auf Augenhöhe. Einige Merkmale einer direkten Demokratie.