Wie sollen Schulen bei der Erziehung und Ausbildung der Kinder mit der künstlichen Intelligenz umgehen? Die Frage drängt sich immer mehr auf, seit diese Technologie innerhalb kurzer Zeit zu einer ernst zu nehmenden, aber auch fehleranfälligen Wissensverarbeitungsmaschine für den Alltag geworden ist.
Für den deutschen Philosophen Philipp Hübl ist klar: Gerade Kinder bräuchten wegen dieses Vormarschs eine gute Ausbildung in den Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Diese Kompetenzen sind das Einfallstor für alle anderen Formen der Bildung. Und ohne die Bildung kann man nicht beurteilen, ob das Resultat des Algorithmus korrekt ist, so der Professor an der Universität der Künste in Berlin. Maschinen fänden nur die wahrscheinlichste Lösung für ein Problem. Sie geben auf Fragen zwar richtige Antworten, aber sie verstehen sie nicht.
Deshalb fordert er eine Erziehungskultur der Offenheit: “Wenn wir Kindern eine sichere Umwelt bieten, die sie spielerisch erkunden können, wenn wir sie mit Wärme erziehen und sie mit Vielfalt von Perspektiven konfrontieren, werden sie insgesamt offener sein.” Das fördere ihre Kreativität, ihr kritisches Denken und ihre moralische Orientierung. Für den Philosophen sind das die drei zentralen Fähigkeiten, um die Zukunft meistern zu können.
Philipp Hübl: Kürzlich ist er am Bildungskongress des Instituts Beatenberg aufgetreten und hat über Kreativität, kritisches Denken und moralische Offenheit als sogenannte Future Skills gesprochen. Future Skills sind Fähigkeiten, von denen angenommen wird, dass sie für die noch unbestimmte Zukunft wichtig sind.
Herr Hübl, derzeit bröckeln die Demokratien, das Klima erhitzt sich, die Arten sterben aus. Was müssen unsere Kinder lernen, damit sie die Zukunft bestehen können?
In der westlichen Welt sind die Demokratien zwar sehr stabil, aber weltweit gibt es einen Backlash, wo sich Demokratien in autoritäre Regime zu verwandeln drohen. Sogar die USA sind seit einigen Jahren eine beschädigte Demokratie. Deshalb glaube ich, dass wir eine Kultur der Offenheit brauchen.
Offenheit ist doch ein Charaktermerkmal?
Zu einem Teil ist Offenheit angeboren. Aber sie kann auch kulturell gefördert werden und Teil der Kultur sein. Wenn wir Kindern eine sichere Umwelt bieten, die sie spielerisch erkunden können, wenn wir sie mit Wärme erziehen und sie mit Vielfalt von Perspektiven konfrontieren, werden sie insgesamt offener sein. Das wirkt sich auch auf ihre Kreativität, kritisches Denken und moralische Orientierung aus. Diese drei Werte halte ich für die Zukunft als besonders wichtig. Wenn wir wollen, dass unsere Kinder einer wechselhaften Umwelt mit neuen Ideen begegnen können, muss die Schule ihre Kreativität fördern, die ihnen viele neue Möglichkeiten eröffnet.
Kann das im heutigen Schulunterricht tatsächlich geschehen?
Die grosse Frage ist, wie man Kreativität lehrt. Man weiss nicht richtig, wie sie entsteht. Selbst Künstler können das nicht genau sagen. Ich glaube aber, trotzdem gibt es förderliche Rahmenbedingungen. Kreativität entsteht bei mittlerer Aufmerksamkeit, also bei Entspannung, Leerlauf und nicht bei hoher Fokussierung. Wenn man innere Ruhe hat, entsteht eher ein neuer Gedanke.
“Die grosse Frage ist, wie man Kreativität lehrt. Man weiss nicht richtig, wie sie entsteht.”
Also doch malen?
Ja, das kann malen sein oder auch mal einfach rumsitzen. Eine andere Frage ist, wie sich die natürliche Kreativität der kleinen Kinder ins Erwachsenenalter bringen lässt. Wenn man Kinder etwa fragt, was sie mit einer Büroklammer alles machen könnten, geben sie oft total originelle Antworten. Etwa: «Damit kann ich eine Hängebrücke für Ameisen bauen.» Kreativität heisst, Neues in die Welt zu bringen und Dinge zu verbinden, die noch nie jemand verbunden hat.
In letzter Zeit lesen wir viel von KI, die Kunstwerke herstellt und ebenfalls Dinge in sehr ungewohnter Weise verknüpft. Wird sie bald kreativer sein als wir?
Algorithmen finden nur die wahrscheinlichste Lösung für ein Problem. Und diese ist relativ erkenntnisarm. Echte menschliche Kreativität besteht aber darin, unwahrscheinliche Lösungen zu finden, die sehr erkenntnisreich sind. Maschinen haben im Schach zwar schneller die beste Strategie. Doch können sie sich kein völlig neues Spiel ausdenken. Denn Denken ist ein kausaler Vorgang, der mit echtem Verstehen einhergeht. Die Maschinen geben auf Fragen zwar richtige Antworten, aber sie verstehen sie nicht. Sie denken nicht.
“Kreativität und kritisches Denken sind zwei vollkommen verschiedene Denkstile, die man nicht gleichzeitig anwenden kann.”
Auch kritisches Denken sollen wir die Kinder lehren. Warum ist das nötig?
Ohne die Fähigkeit des kritischen Denkens ist man leicht manipulierbar. In der heutigen Welt bekommen wir Informationen, die nicht mehr durch den Filter einer verlässlichen Redaktion von Wissenschaftlerinnen und Journalisten gegangen sind. Im Netz stehen sehr gute Informationen neben Fake News, Pseudowissenschaft und Lügen.
Und wie erkennen unsere Kinder die Manipulationen?
Sie müssen lernen, aufmerksam zu sein. Auf den Inhalt fokussiert, fällt man weniger leicht auf Täuschung herein. In der Schule hat man viele Gelegenheiten, seine Aufmerksamkeit zu trainieren.
Das widerspricht aber der Kreativität.
Genau. Kreativität und kritisches Denken sind zwei vollkommen verschiedene Denkstile, die man nicht gleichzeitig anwenden kann. Entweder ist man in einem mittleren entspannten Modus, dann kommen einem neue Ideen, aber man ist manipulierbarer. Oder man ist in diesem sehr fokussierten kritischen Modus. Dann kommen einem nicht ganz neue Ideen.
“Auf den Inhalt fokussiert, fällt man weniger leicht auf Täuschung herein.”
Reicht Aufmerksamkeit bereits, um Lügen zu erkennen?
Nein, dazu braucht es echtes Wissen in Logik, Mathematik, Sprachkritik, Statistik und Kausalität. Das sind Dinge, die man über viele Jahre lernen muss. Man könnte sie aber auch gezielt als Fach unterrichten.
Meinen Sie mit Logik und Sprachkritik vor allem Philosophieunterricht?
Ja, so kann man das auch nennen. Denn in der Philosophie geht es um Logik, Analytik und Wissenschaftstheorie. Es kann nicht schaden, sich mit typischen mentalen Kurzschlüssen auseinanderzusetzen. Zum Beispiel fürchten sich die meisten Menschen mehr vor Terroranschlägen als vor Teppichkanten, obwohl die statistische Wahrscheinlichkeit, aufgrund eines Haushaltsunfalls zu sterben, 5000-mal höher ist, als in einem Terroranschlag umzukommen.
Das würden Sie schon in der Primar- und Sekundarstufe unterrichten?
Ja, das kann man sehr leicht und spielerisch machen. Es geht darum, eine Hypothese nicht nur zu belegen, sondern auch nach möglichen Widerlegungen zu suchen. Das machen die meisten Menschen nicht gern. Aber man kann schon sehr früh lernen, sich immer zu überlegen, was gegen die eigene These sprechen würde.
“Die Grundkompetenzen sind das Einfallstor für alle anderen Formen der Bildung. Und ohne die Bildung kann man nicht beurteilen, ob das Resultat des Algorithmus korrekt ist.”
Eltern geht es in den Schulen zu wenig um Grundkompetenzen, Pädagogen setzen aber lieber auf Medienkompetenz, damit KI-generierte Inhalte richtig eingeschätzt werden können. Was ist nun besser?
Ich habe keine abgeschlossene Meinung dazu. Spontan würde ich aber sagen, gerade wegen der KI muss man die Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Sie sind das Einfallstor für alle anderen Formen der Bildung. Und ohne die Bildung kann man nicht beurteilen, ob das Resultat des Algorithmus korrekt ist.
In Bern wird zurzeit über den Sinn von frühem Fremdsprachenlernen diskutiert. Ist das mit künstlicher Intelligenz bald kein Thema mehr?
Mit jeder Sprache erhalten wir eine andere Art, die Welt zu kategorisieren. Wer eine zweite Sprache lernt, wird sich seiner eigenen Sprache besser bewusst und versteht zugleich, dass Wörter bloss Hilfsmittel sind, um die Welt zu verstehen.
Sie hängen demnach am klassischen Bildungskanon.
Über die einzelnen Fächer können wir diskutieren. Was wir brauchen, sind die Metafähigkeiten. Wir müssen nicht unbedingt tief in die Chemie eindringen, aber wir müssen die naturwissenschaftliche Methode verstehen. Sprachen und Mathematik sind Werkzeuge dazu. Die wissenschaftliche Methode ist universell, und sie ändert sich nicht, auch wenn sich das Wissen selbst schnell ändert. Wir müssen den Kindern Fähigkeiten beibringen, die so allgemein sind, dass sie immer anwendbar sind.
“Wir müssen nicht unbedingt tief in die Chemie eindringen, aber wir müssen die naturwissenschaftliche Methode verstehen.”
Sie nennen auch moralische Orientierung als wesentliche Fähigkeit für die Zukunft. Warum?
In der westlichen Welt sind wir einerseits so liberal, weltoffen und tolerant wie nie zuvor. Andererseits gibt es in den digitalen Medien eine neue Form von Stammesdenken. Wir alle haben eine bestimmte moralische Identität und verbinden diese mit einer Gruppe. So kann schnell eine neue Form von Gruppenzwang entstehen als Gegenbewegung zum radikalen Individualismus.
Der Individualismus hat uns in die Klimakrise geführt.
Der Individualismus hat uns Menschenrechte und freie Entfaltung für alle gebracht. Doch er hat auch Nachteile. Wir wertschätzen kollektive Güter wie Bildung, Krankenhäuser oder die Energieversorgung zu wenig. Und wir leben über unsere Verhältnisse, ohne die Ressourcen zu schonen. Das sind die beiden grossen Nachteile unseres Lebensstils.
Wie kommen wir davon wieder weg?
Ich habe keine gute Lösung. Wenn wir Glück haben, gibt es irgendwelche technischen Lösungen oder überstaatliche Regulationen. Dafür brauchen wir sowohl Kreativität als auch moralische Offenheit.
Wie sollen die Schulen die Kinder neben Noten- und Selektionsdruck zu Offenheit erziehen?
Der Leistungsbegriff ist zu Unrecht in Verruf geraten, weil er sehr stark mit dem Neoliberalismus und allgemeiner Kapitalismuskritik in Verbindung gebracht wird. Aber grosse Erfindung und kulturelle Leistung gibt es nur, weil einige Menschen ihr ganzes Leben darauf verwenden, etwas Bestimmtes zu schaffen. In der Schule ist aber wichtig, dass es nicht nur auf Leistung ankommt, sondern darum geht, die Talente zu entwickeln, die man hat.