Deutschlands Schulen verschärfen den Arbeits- und Fachkräftemangel, weil sie die Berufsorientierung sträflich vernachlässigen. Die meisten Schulabgänger starten entsprechend schlecht vorbereitet in die nächste Lebensphase. Hohe Abbrecherquoten bei Auszubildenden und Studenten sind die Folge.
Viele Jugendliche finden zudem gar nicht erst eine passende Lehrstelle, während gleichzeitig immer mehr Ausbildungsplätze nicht besetzt werden könnten. Dies sind Kernaussagen des diesjährigen Gutachtens, das der Aktionsrat Bildung im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) erstellt hat und das WELT vorab vorliegt.
Mit zwei Millionen offenen Stellen ist der Arbeitskräftemangel hierzulande inzwischen größer als jemals zuvor. Auf Rekordniveau ist mit 2,4 Millionen auch die Zahl der jungen Erwachsenen, die über keinen Berufsabschluss verfügen und sich auch nicht in der Ausbildung befinden. In dem Gutachten „Bildung und berufliche Souveränität“ warnen die Wissenschaftler, dass sich Deutschland diese Vergeudung von heimischen Arbeitskräftepotenzialen vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung nicht mehr leisten könne.
Umfragen unter Neuntklässlern zeigen laut Studie, dass die Jugendlichen nur ein enges Spektrum an Berufen kennen. Sowohl bei den genannten Wunschberufen als auch bei den erwarteten späteren Berufen dominieren bei den Mädchen typische Frauenberufe wie Erzieherin und Verkäuferin und soziale Tätigkeiten wie Ärztin und Lehrerin.
Neuntklässler kennen nur ein enges Spektrum an Berufen
Bei den Jungen rangieren Handwerks- und Ingenieurberufe sowie Pilot und Polizist weit vorn. Um den Horizont für beide Geschlechter zu erweitern, müssten die Schulen schon von Beginn an andere Rollenbilder aufzeigen, heißt es in der Studie. Ausserdem wäre es wichtig, bereits in den Grundschulen weitere, weniger bekannte Berufe darzustellen und zu vermitteln, welche Fähigkeiten und Abschlüsse diese erforderten, mahnt das Expertengremium.
Um den Horizont für beide Geschlechter zu erweitern, müssten die Schulen schon von Beginn an andere Rollenbilder aufzeigen.
So benötigt man in allen mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen (MINT-)Berufen ordentliche Mathematik-Kenntnisse. Vor allem Mädchen verlieren jedoch oft schon früh das Interesse an dem Fach und engen sich somit schon in jungen Jahren bei der späteren Berufswahl ein – zum Leidwesen der Wirtschaft, die dringend mehr Nachwuchs in den MINT-Fächern benötigt.
Praktika gelten als ideale Möglichkeit, Einblicke in die Arbeitswelt zu gewinnen und Berufe kennenzulernen. Ob ein Schüler die Chance dazu bekommt, hängt jedoch vom jeweiligen Bundesland und der Schulart ab. In Hauptschulen ist dies die Regel, in Gymnasien vielerorts nicht. In Nordrhein-Westfalen sind Praktika mittlerweile in der Sekundarstufe in allen Schulformen vorgesehen. Bayern ist dagegen weniger strikt.
Quelle: Infografik WELT
Die Dauer eines Praktikums variiert und ist häufig mit wenigen Tagen zu kurz. Das Gutachten beklagt zudem, dass es oft im Unterricht an einer guten Vor- und Nachbereitung fehle. Hinzu kommt, dass es vielfach nicht die Schulen, sondern die elterlichen Hilfen und Kontakte seien, die über die Qualität eines Praktikumsplatzes entscheiden.
Mindestens zwei verpflichtende Praktika
Bildungsexperten und Wirtschaft sind sich einig, dass der Einsatz von Praktika dringend ausgeweitet und verbessert werden sollte. „Wir müssen Betriebspraktika viel stärker als jetzt im Lehrplan verankern und die Schulen bei der Vermittlung der Praktika mehr einbinden“, fordert vbw-Präsident Hatz. Unabhängig von der Schulart brauchten die Jugendlichen mindestens zwei verpflichtende Praktika.
Quelle: Infografik WELT
Auch die Jugendlichen selbst sehen laut einer vom Aktionsrat zitierten Umfrage Praktika als besonders hilfreich für ihre berufliche Orientierung an. Dagegen erreichten die verschiedenen Angebote der Bundesagentur für Arbeit, die Schülern, den Bildungseinrichtungen und auch Eltern zur Verfügung stünden, ihren Zweck noch zu wenig, monieren die Forscher.
Die Kultusministerkonferenz der Länder hat die Berufs- und Studienorientierung schon vor Jahren als wichtiges Ziel formuliert. Doch der Aktionsrat bemängelt, dass im Schulalltag der Praxisbezug weitgehend fehle. Dabei könne in vielen Fächern der Bezug zur Arbeitswelt leicht hergestellt werden. Das Interesse der Schüler an Fächern wie Mathematik, Physik oder Chemie ließe sich steigern, wenn die Lehrer aufzeigten, für welche Berufe oder Forschungsbereiche dieses Wissen wichtig ist.
In vielen Fächern könnte der Bezug zur Arbeitswelt leicht hergestellt werden.
Die Schüler sollten darüber hinaus auch über Entwicklungstrends am Arbeitsmarkt aufgeklärt werden, was laut Gutachten im hiesigen Bildungssystem viel zu wenig geschieht. Der Strukturwandel hin zu einer digitalen und grünen Wirtschaft verändert die Arbeitswelt. IT-Kenntnisse werden immer wichtiger. Traditionell beliebte Berufe etwa in der Automobilbranche werden sich stark verändern, was die Nachfrage nach traditionell ausgebildeten Kfz-Fachkräften schrumpfen lässt.
Zukunftsträchtige Wirtschaftszweige spielen bei Absolventen nur eine untergeordnete Rolle
Andere Wirtschaftszweige, wie der Pflegesektor oder der Bereich der Erneuerbaren Energien, gelten dagegen als zukunftsträchtig. Doch die meisten Schulabgänger orientieren sich bei der angestrebten Berufswahl mehr an der Vergangenheit als an den Zukunftstrends.
Das soziale Umfeld und vor allem die Eltern spielen bei der Berufs- oder Studienplatzwahl eine entscheidende Rolle. Häufig ist die Unterstützung durch die Familie vorteilhaft. Doch mitunter haben auch die Eltern einen verengten Blick und schätzten den Arbeitsmarkt oder auch die Fähigkeiten und Neigungen ihrer Kinder falsch ein.
Der Aktionsrat empfiehlt den Schulen, bei der Berufsorientierung die Eltern einzubeziehen und dabei die gesamte Vielfalt der Arbeitswelt in den Blick zu nehmen. Kooperationen der Schulen mit der Wirtschaft seien hilfreich und sollten intensiviert werden.
Quelle: Infografik WELT
Ausserdem brauche es an allen Schulen entsprechend weitergebildete Lehrkräfte, die Jugendliche in dem Prozess ihrer Zukunftsplanung kompetent unterstützen können. „Die Jugendlichen müssen erkennen können, wo ihre Neigungen und Kompetenzen liegen und wo ihnen nach der Ausbildung oder dem Studium offene und perspektivenreiche Stellen zur Verfügung stehen“, betont vbw-Präsident Hatz.
Ziel: Berufliche Souveränität
Der neunköpfige Aktionsrat Bildung, dem renommierte Bildungsforscher wie der frühere Präsident der Hamburger Universität, Dieter Lenzen, oder Ifo-Bildungsökonom Ludger Wößmann angehören, nennt als Ziel die „berufliche Souveränität“. Dabei geht es nicht nur darum, dass sich der Schüler klar wird, welcher Beruf oder Studiengang seinen Interessen und Fähigkeiten entspricht.
Darüber hinaus soll der Jugendliche auch die Fähigkeit entwickeln, die Chancen am Arbeitsmarkt im Laufe seines gesamten Berufslebens richtig einschätzen zu können, um flexibel und selbstbestimmt auf Veränderungen, zum Beispiel mit einer Weiterbildung, reagieren zu können.