18. April 2024

Integrative Schule (Teil 2) – Die Heilpädagogen: Treiber eines Bildungsexperiments

Als sich 1990 die Unesco-Mitglieder in Thailand trafen, um die Bildung-für-alle-Agenda aufzugleisen, ging es darum, weltweit den Kindern Zugang zur Grundschulbildung zu gewähren. Dies vor dem Hintergrund, dass in der dritten Welt in den 80er-Jahren eine “Bildungserosion” bemerkt worden war. Nur vier Jahre später hatte sich der Fokus aber bereits stark weg von “Bildung für alle” und hin zur integrativen Schule für Behinderte verschoben, wie die Erklärung von Salamanca ersichtlich machte (siehe Teil 1: “Das Missverständnis von Salamanca”). Wir bringen den zweiten Teil der Artikelserie von Nebelspalter-Journalist Daniel Wahl.

In der Schweiz wurden die Hochschule für Heilpädagogik in Zürich und die Universität Zürich zum Zentrum der Dozenten, die eine integrative Pädagogik lehrten: Verhaltensauffällige, Körper- oder Lernbehinderte sollten zusammen mit allen anderen Kindern unterrichtet werden. Ein Zufall war es darum nicht, dass Zürich im Februar 1990 als erster Kanton seinen Gemeinden die “integrative Schule anstelle von Sonderklassen” offerierte. Der grosse Durchbruch der integrativen Schule kam in der Schweiz aber erst zwei Jahrzehnte später, mit der Einführung des Lehrplans 21.

Daniel Wahl, Gastautor

Der Zürcher Erziehungsrat gab den Startschuss für ein radikales Bildungsexperiment: Entscheidend war nicht mehr, ob ein Schüler dem Unterricht folgen kann, entscheidend war nur noch, dass er in derselben Klasse sitzt.

Es passte in diese Zeit: Im Jahr 1990 hatte die Unesco die Agenda “Bildung für alle” initiiert. Die Gesellschaft verlangte barrierefreien Zugang für Behinderte. Und zahlreiche Studien lagen vor, die belegten, dass Kinder von Förderschulen durch ihre Sonderschule stigmatisiert seien und oft ohne berufsqualifizierenden Abschluss blieben.

Druck aus Norddeutschland

“Besonders aus Deutschland kam der Druck, die Schule verändern zu müssen”, sagt der Diplom-Pädagoge und Sonderschullehrer Riccardo Bonfranchi, der an der Heilpädagogischen Fakultät der Universität in Köln promoviert und an der Uni Zürich in Ethik abgeschlossen hatte. Den Takt habe die Universität Bremen und ihr Guru der inklusiven Pädagogik, der Erziehungswissenschaftler und Professor für Behindertenpädagogik Georg Feuser, angegeben.

“Feusers Lehre fiel auch an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich auf fruchtbaren Boden, wo die Doktrin war, dass alles, was nicht integriert ist, des Teufels ist.” (Riccardo Bonfranchio, Sonderschullehrer und Diplom-Pädagoge)

Feuser lehrte, dass die Trennung in geistig behinderte Schüler und “normale” Schüler aufzuheben sei, die Schüler sollten “durch Kooperation der Schüler auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus am gemeinsamen Lerngegenstand” unterrichtet werden. Er orientierte sich am Religionsphilosophen Martin Buber und am Marxismus. “Im Bundesland Bremen versuchte Georg Feuser das Schulsystem zu verändern; das Vorhaben war aber nicht mehrheitsfähig und wurde dort in den Ansätzen gestoppt”, sagt Bonfranchi.

Hotspot Zürich

Feuser wurde von der Universität Zürich als Gastdozent engagiert und hatte sein Publikum vor allem unter den Heilpädagogen. “Feusers Lehre fiel auch an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich auf fruchtbaren Boden, wo die Doktrin war, dass alles, was nicht integriert ist, des Teufels ist”, wie Bonfranchi ausführt.

Die Schüler sollen «durch Kooperation auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus am gemeinsamen Lerngegenstand» unterrichtet werden.

So kam es, dass der Zürcher Erziehungsrat 1990 versprach, die gesetzlichen Grundlagen für eine integrative Schule zu schaffen. Er taxierte das Projekt als “kommunale Schulversuche”. Der Begriff “integrative Schule” fand dabei zum ersten Mal Eingang in die Printmedien, obschon es seit 1985 in verschiedenen Zürcher Gemeinden entsprechende Pilotversuche gab. Man habe positive Erfahrungen gemacht, liess der Erziehungsrat verlauten und alimentierte die Öffentlichkeit mit einer Studie des Heilpädagogischen Instituts der Universität Freiburg im Breisgau über Integrationsklassen in der Deutschschweiz.

Alternativlose Studien

Die Studie wies aus, dass schwache Schüler in Normklassen bessere Leistungsfortschritte machten. Resultate, welche Leistungsfortschritte oder -rückschritte Normschüler dabei machten, fanden den Weg nicht in die Öffentlichkeit. Ebenso wenig diskutierte man in Anbetracht der Resultate darüber, ob die Heilpädagogischen Schulen etwas falsch machten.

Allerdings warnte die Freiburger Studie schon damals, dass Schüler mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen ihre neue Situation in der Regelklasse eher negativ einschätzten. Doch diesen Alarmbefund aus Kindermund interessierte die erwachsenen Pädagogen nicht. Man trieb die integrative Schule als Idealmodell voran.

Stigmatisierende «integrative Schule»

Bonfranchi veranschaulicht dies mit einer skurrilen Szene aus dieser Zeit, die er selbst erlebt hatte: Eine Schulklasse erhielt die Aufgabe, Sterne aus Krepppapier auszuschneiden. Einem Lernbehinderten wollte das nicht gelingen, worauf die Banknachbarin der Lehrerin meldete: “Dä macht gar keini Stärne. Das sind Härdöpfel”. Was natürlich umgehend von weiteren Schülern bestätigt wurde. Darauf kroch der gekränkte Bub unter den Tisch und versuchte die Rätschbäsen ins Bein zu zwacken. Die den Jungen begleitende Heilpädagogin kroch ihm nach und wollte ihn unter dem Tisch beruhigen. Die Schlussfolgerung von Bonfranchi: “Der Schüler, der in einer Sonderklasse mit seinem Handicap nicht aufgefallen wäre, ist in der Regelklasse ausgestellt, erlebt dies negativ und reagiert darauf aggressiv.”

Resultate, welche Leistungsfortschritte oder -rückschritte Normschüler dabei machten, fanden den Weg nicht in die Öffentlichkeit.

Das sah man vor allem in städtischen Gebieten anders. In Basel sprach der damalige Volksschulleiter Pierre Felder der integrativen Schule das Wort und redete die Klein- und Sonderklassen schlecht. In der “WochenZeitung” (WoZ) sprach er von einer “extremen Stigmatisierung”, die eine Karriere in der Kleinklasse mit sich bringt: “einmal drin, immer drin.”

Dass Sonderschüler bessere Chancen hätten, wenn sie in die Regelklassen gingen, sei ein Ammenmärchen, kontert Bonfranchi: “Am Schluss muss der Lehrmeister entscheiden, wen er im Betrieb einstellen und gebrauchen kann und wen nicht.” Im Gegenteil könnten die Heilpädagogischen Schulen die Behinderten viel zielgerichteter und umfassender betreuen, als das heute die Heilpädagogen stundenweise an Volksschulen tun.

Von Zürich nach Luzern

Von Zürich kam das Modell der integrativen Schule auch in den Kanton Luzern – mit dem Erziehungswissenschaftler Kurt Aregger. Aregger lehrte an der Universität in Zürich und leitete dann in den 90er-Jahren die Gesamtreform der Lehrerbildung in Luzern, engagierte sich bei den Heilpädagogen und war in der Steuergruppe für den Aufbau und Betrieb der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz.

“Heilpädagogische Schulen können Behinderte umfassender betreuen, als das heute die Heilpädagogen stundenweise an Volksschulen tun.” (Riccardo Bonfranchi, Sonderschullehrer und Diplom-Pädagoge)

Diese stand bald im Ruf, sehr progressiv die integrative Schule voranzutreiben. Der damalige SVP-Bildungspolitiker und langjährige Präsident der Heilpädagogischen Schule Humlikon (ZH), Ulrich Schlüer, erinnert sich: “Damals entstanden die Kopfhörerkinder im Klassenzimmer. Es waren Schüler, denen die Lehrer einen Pamir über den Kopf stülpten, damit sie sich neben verhaltensauffälligen Kindern im Schulzimmer konzentrieren konnten.”

Die Integrationsideologie negiert, dass es vernünftig ist, Spezialisierung für die Schüler zu haben, um nicht alle unter einem Hut ausbilden zu müssen.

In der Folge sei die integrative Schule mit Klagen überhäuft worden von Eltern, die ihre Sprösslinge aufgrund des Reformmodells benachteiligt sahen. Man sei froh gewesen, als sich das Innerschweizer Konkordat der Pädagogischen Hochschule auflöste, ihre Vormacht gebrochen wurde, und eine Pädagogische Hochschule wie in Zug einen eigenständigen, moderateren Weg einschlagen konnte.

Im Kontrast zur Schweizer Bildungsgeschichte

Die «integrative Schule» wolle gar nicht zur Bildungsgeschichte der Schweiz passen, stehe sogar im Kontrast zu ihr, kritisiert Riccardo Bonfranchi. Die Schweizer Schulentwicklung sei nämlich eine Geschichte der Auffächerung – der Spezialisierung, nicht der Vereinheitlichung. Dies, um den Interessengruppen ein auf sie zugeschnittenes Angebot machen zu können: “Nach Abschluss der Volksschule war zunächst bloss eine Lehre oder der Weg ans Gymnasium möglich”, sagt Bonfranchi. Erst später wurde das Angebot breiter. Es kamen Fachmittelschulen, die Lehre mit oder ohne Berufsmaturität, Höhere Fachschulen, Fachhochschulen, Klassen für Hochbegabte und so weiter. Schliesslich folgten Brückenangebote, um die Durchlässigkeit zwischen den Stufen zu gewährleisten. “Man betrachte es als vernünftig, Spezialisierung für die Schüler zu haben, um nicht alle unter einem Hut ausbilden zu müssen.” Das werde von den Integrationsideologen negiert.

“Die Integration von Behinderten in Regelklassen hat fast etwas Behindertenfeindliches.” (Riccardo Bonfranchi, Diplom-Pädagoge und Sonderschullehrer)

Von Genf bis Basel, von Luzern bis Zürich mehren sich heute die Interessengruppen, die die integrative Schule abschaffen wollen. Dagegen stemmen sich die Behindertenverbände. Die integrative Schule sei gar nie richtig umgesetzt worden, moniert die Juristin Caroline Hess-Klein, die die Abteilung Gleichstellung beim Behindertendachverband Inclusion Handicap leitet: “Wir fahren derzeit zweigleisig: Einerseits werden Kinder mit Behinderungen in Regelklassen integriert. Gleichzeitig werden aber die Sonderschulen weiter betrieben”, sagt sie gegenüber dem Onlineportal “Nau”.  Auf Anfang April kündigte sie deshalb den Start der Unterschriftensammlung für die sogenannte Inklusionsinitiative an.

Die Kritik an der inkonsequenten Umsetzung kann Bonfranchi zwar nachvollziehen, hält das Argument aber für billig. Der Regelschule fehle das Geld, das Personal und das Knowhow, um die kognitiv Beeinträchtigten in gleicher Qualität zu fördern, wie es die Heilpädagogischen Schulen können. “Die Regelschule kann das gar nicht leisten. Aber sie muss es auch nicht leisten.” Im Gegenteil habe die Integration von Behinderten in Regelklassen fast etwas Behindertenfeindliches. Bonfranchi ist überzeugt: “Das ist ein heilpädagogischer Rückschritt.”

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Ein Kommentar

  1. 1. Es geht um Unterricht, nicht um Erziehung. Fragen Sie Condorcet.
    2. Weder im Französischen noch im Englischen gibt es einen Begriff für Bildung. Fragen Sie Jan Amos Comenius.
    3.Es geht um allgemeine Schulpflicht, die ins Lesen, Schreiben und Rechnen einführen soll. Fragen Sie Stapfer
    4.Es geht um die Entwicklung von Kinder. Fragen Sie Piaget.
    5. Es geht um die Entwicklung von Sprechen können. Fragen Sie Cécile Schwarz.
    6.Es gibt keine schwachen Kinder, nur Kinder, die man lieb haben kann.
    7. Es gibt keine Schulentwicklung, nur hochtraberische Ideen.Seit den Sumerern ist der Prozess des Lesen könnens der gleiche.
    8.Pädagogik kommt vor Psychologie. Sie ist keine Erziehungswissenschaft.
    9.Zur Zeit fehlen Lehrpersonen an den Hochschulen, die wirklich ins Unterrichten einführen können. Sie haben sich mit wenig Unterrichtserfahrung in den 1960er und 70er Jahren hochgerangelt.
    10.Was und wie unterrichtet werden soll,
    ist alles andere als Sache der Politiker und Polikerinnen.

    Wer endlich nimmt das Steuer in die Hand und dreht es wieder dorthin,wo es sein soll, zum Wohl der Kinder?

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